Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 08.06.2010, Az. 1 BvR 1745/06

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2010, 6083

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT (BVERFG) MEDIZINRECHT ABTREIBUNG

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Art 5 Abs 1 S 1 GG durch eine zivilgerichtliche Verurteilung eines Abtreibungsgegners Protestaktionen – insb. durch Ansprechen von Patientinnen eines „Abtreibungsarztes“ in unmittelbarer Nähe von dessen Praxisräumen anzusprechen - zu unterlassen


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 2. Juni 2006 - 18 U 2358/06 - und das Endurteil des [X.] vom 18. Januar 2006 - 9 O 14979/05 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

...

Gründe

1

1. a) Der Beschwerdeführer hält aus religiöser Überzeugung Abtreibungen für verwerflich. Er pflegt Protestaktionen gegen Frauenärzte zu veranstalten, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, indem er sich in der Nähe der jeweiligen Arztpraxis auf der [X.]aufstellt, um durch Plakate und Flugblätter auf seine Haltung zur [X.] aufmerksam zu machen. Hierbei spricht er auch Passanten und Passantinnen, insbesondere solche, die er für mögliche Patientinnen des Frauenarztes hält, an und versucht sie zu einer Überprüfung ihrer Haltung zur Frage der Abtreibung zu bewegen. Mehrere dieser Aktionen waren bereits Gegenstand von Entscheidungen des [X.] (vgl. nur [X.], 89).

2

Im vorliegenden Fall hatte sich der Beschwerdeführer im Mai 2003 und erneut im April 2004 jeweils an einem Tag vor der Praxis des [X.] Frauenarztes Dr. M. (im Folgenden: Kläger) aufgestellt, der nach den Feststellungen der Gerichte seinerzeit im Rahmen seiner Berufsausübung Schwangerschaftsabbrüche vornahm und hierauf auch im [X.] hinwies. Dabei verteilte der Beschwerdeführer Flugblätter, auf denen darauf hingewiesen wurde, der Kläger führe "rechtswidrige Abtreibungen durch, die aber der [X.] Gesetzgeber erlaubt und nicht unter Strafe stellt". Auch im [X.] machte der Beschwerdeführer auf einer von ihm betriebenen Homepage den Kläger als [X.] namhaft.

3

b) Nach erfolglosem vorgerichtlichem Unterlassungsverlangen nahm der Kläger den Beschwerdeführer bei dem [X.] auf Unterlassung vergleichbarer Aktionen in Anspruch.

4

Mit dem hier angegriffenen Urteil vom 18. Januar 2006 verurteilte das [X.] den Beschwerdeführer antragsgemäß, es zu unterlassen, öffentlich, insbesondere durch Einträge im [X.], durch Plakate oder Flugblätter darauf hinzuweisen, dass der namentlich oder in anderer Weise identifizierbar bezeichnete Kläger Abtreibungen vornehme oder dass in seiner Praxis Abtreibungen vorgenommen würden, und des Weiteren es zu unterlassen, Patientinnen des [X.] oder Passanten in einem Umkreis von einem Kilometer zu dessen jeweiligen Praxisräumen anzusprechen und wörtlich oder sinngemäß auf in der Praxis - insbesondere durch den Kläger - vorgenommene Abtreibungen hinzuweisen.

5

Mit seinen Demonstrationen im Mai 2003 und April 2004 habe der Beschwerdeführer rechtswidrig in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des [X.] eingegriffen mit der Folge, dass diesem der geltend gemachte Unterlassungsanspruch aus § 823 Abs. 1, § 1004 BGB zustehe. Betroffen sei das berufliche Umfeld des [X.], mithin die Sozialsphäre. Hier stehe ihm zwar kein so weitgehender Schutz zu wie bei Eingriffen in die Privatsphäre, doch seien bei schwerwiegenden Auswirkungen auf die Persönlichkeit, etwa bei Stigmatisierung oder [X.] Ausgrenzung auch Eingriffe in die Sozialsphäre unzulässig. So liege es hier. Indem der Beschwerdeführer Passanten, insbesondere mögliche Patientinnen des [X.] in unmittelbarer Nähe zu dessen Praxis in Gespräche über das Thema Abtreibung verwickle, um sie zu irritieren und von dem Besuch der Praxis abzuhalten, würdige er die berufliche Tätigkeit des [X.] insgesamt herab, obwohl diese legal sei. Überdies wähle er den Kläger willkürlich aus einer Vielzahl von [X.]n aus und dränge ihn als Privatperson in eine von ihm nicht gewollte und nicht herausgeforderte Öffentlichkeit. Der Beschwerdeführer könne sich auch nicht darauf berufen, dass der Kläger selbst im [X.] darauf hingewiesen habe, dass in seiner Praxis Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen würden. Durch diese bloße Information nehme der Kläger noch nicht zur Bewertung von Abtreibungen öffentlich Stellung oder beteilige sich an einer öffentlichen Diskussion hierüber.

6

Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des [X.] sei auch nicht durch das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Meinungsfreiheit gerechtfertigt. Der Beschwerdeführer habe die Tatsachenbehauptung, der Kläger führe rechtswidrige, aber erlaubte Abtreibungen durch, mit einer moralischen Bewertung des [X.]n Abtreibungsrechts verbunden. Dass er dies gerade in Form einer Demonstration vor der Praxis des [X.] getan habe, falle zwar in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Allerdings rechtfertige dieses Grundrecht nur verhältnismäßige Maßnahmen. Die Beeinträchtigung Dritter durch eine Meinungsäußerung müsse zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein. Vorliegend habe der Beschwerdeführer zwar klargestellt, dass die vom Kläger vorgenommenen Abtreibungen nicht illegal seien. Jedoch greife er aus dem Tätigkeitsspektrum des [X.] einen Aspekt heraus und weise auf diesen isolierten Punkt öffentlich hin. Dadurch präsentiere er den Kläger als Repräsentanten der kritisierten [X.], ohne dass dieser durch eigene Handlungen hierzu Anlass gegeben habe. Wegen der hierdurch erzeugten Prangerwirkung müsse die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers hinter das allgemeine Persönlichkeitsrecht des [X.] zurücktreten.

7

Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht sei auch deswegen unverhältnismäßig, weil der Beschwerdeführer das gesetzgeberische Schutzkonzept, das hinter den §§ 218 ff. [X.] stehe, zu unterlaufen suche. Der Gesetzgeber habe erkannt, dass allein durch Repression Schwangerschaftsabbrüche nicht zu verhindern seien, und setze daher besonders auf das vertrauensvolle Zusammenwirken der Ärzte und Beratungsstellen mit den betroffenen Frauen. Hierfür sei indes unerlässlich, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin nicht durch das Dazwischentreten eines außenstehenden [X.] belastet werde. Da das Verhalten des Beschwerdeführers diese Vertrauensbasis störe, sei es selbst bei Beachtung des Umstandes, dass eine [X.] einer Meinungsäußerung grundsätzlich auch durch eine personalisierte Darstellung bewirkt werden dürfe, vorliegend nicht durch Art. 5 Abs. 1 [X.] gedeckt.

8

Ebenso wenig könne der Beschwerdeführer sich auf Art. 4 [X.] berufen, denn die dort genannten Grundrechte gäben dem Einzelnen keinen Anspruch darauf, dass seine Überzeugung zum Maßstab der Gültigkeit genereller Rechtsnormen und ihrer Anwendung gemacht werde.

9

c) Gegen das Urteil des [X.]s wandte sich der Beschwerdeführer mit der Berufung. Mit Beschluss vom 10. Mai 2006 wies das [X.] darauf hin, dass eine Zurückweisung des Rechtsmittels gem. § 522 Abs. 2 ZPO beabsichtigt sei. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers müsse es Frauen, die sich nach der entsprechenden Beratung zu einem gesetzlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch entschlossen hätten, ermöglicht werden, medizinische Hilfe durch einen Arzt ihres Vertrauens ohne weiteres Hinzutreten eines [X.] und die hiermit verbundenen psychischen Belastungen in Anspruch zu nehmen. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten in die einem möglichen Schwangerschaftsabbruch vorausgehende Beratung im Interesse eines möglichst wirksamen Schutzes des ungeborenen Lebens auch Ärzte eingebunden sein, weshalb auch dieser Teil der Tätigkeit des [X.] den Schutz des Art. 12 Abs. 1 [X.] genieße. Der Beschwerdeführer wolle die Patientinnen des [X.] durch sein Auftreten veranlassen, diesen nicht aufzusuchen, und das Arzt-Patienten-Verhältnis bewusst stören, um Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern, auch wenn diese legal seien. Dies stelle einen unverhältnismäßigen und damit unzulässigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des [X.] dar. Das Verhalten des Beschwerdeführers tangiere die konkrete Ausgestaltung der Sozialsphäre des [X.], auf die es sich erheblich auswirke. Dass der Beschwerdeführer das gesetzgeberische Konzept zum Schutz des ungeborenen Lebens für falsch und änderungsbedürftig halte, rechtfertige nicht, den Kläger persönlich in der gegebenen Weise anzugreifen.

Auch unter Berücksichtigung der dem Beschwerdeführer zustehenden Meinungsfreiheit sei es ihm aufgrund des damit verbundenen Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht und das Recht auf freie Berufsausübung des [X.] verwehrt, diesen namentlich in irgendeiner Weise zu benennen. Der Kläger sei nicht durch Veröffentlichungen oder sonstige Verhaltensweisen als besonderer Befürworter von Abtreibungen in die Öffentlichkeit getreten. Der Beschwerdeführer habe ihn aus einer Vielzahl von anderen Ärzten ausgewählt und als Privatperson in die Öffentlichkeit gedrängt. Selbst wenn das Leistungsangebot auf der Homepage des [X.] Schwangerschaftsabbrüche mit umfasse, werde damit lediglich über das Behandlungsangebot der Praxis des [X.] informiert, ohne dass hierin ein persönlicher Beitrag des [X.] zur öffentlichen Abtreibungsdiskussion zu sehen sei.

Der Beschwerdeführer werde (durch das Unterlassungsurteil) auch nicht unzulässig aus der Diskussion über Abtreibung ausgeschlossen. Ihm bleibe vielmehr das Recht, sich in der Öffentlichkeit auch deutlich und drastisch zu äußern, um die aus seiner Sicht größte Verbreitung und stärkste Wirkung seiner Meinungsäußerung zu erreichen, solange er nicht wie hier in unverhältnismäßiger Weise in die Rechte anderer eingreife.

d) Mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 2. Juni 2006 wies das [X.] die Berufung sowie den hierfür gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe schließlich ankündigungsgemäß nach § 522 Abs. 2 ZPO zurück. Zur Begründung verwies es im Wesentlichen auf den soeben wiedergegebenen Hinweisbeschluss.

2. Der Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Entscheidungen in seinen Grundrechten aus Art. 5 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 [X.] verletzt. Als [X.] sei es ihm darum zu tun, sich mit verschiedenen Aktionen gegen die Durchführung von Abtreibungen zu wenden, auch wenn diese der geltenden Rechtslage entsprächen. Hierbei wolle er sich nicht auf eine abstrakte oder theoretische Argumentation beschränken, sondern bemühe sich darum, das Geschehen der Abtreibung für den jeweiligen Ort seiner Meinungsäußerung zu konkretisieren. Die angegriffenen Entscheidungen seien schon deshalb mit seinen Grundrechten nicht vereinbar, weil sie ihm völlig unabhängig von Kontext, Intention und inhaltlicher Bewertung jeden Hinweis auf die berufliche Tätigkeit des [X.] untersagten. Im Übrigen handele es sich bei der untersagten Äußerung um eine zutreffende Tatsachenbehauptung, die den Kläger allenfalls in seiner Sozialsphäre berühre. Auch eine unzulässige Prangerwirkung oder Stigmatisierung des [X.] liege nicht vor. Insoweit sei nach der Rechtsprechung des [X.] maßgeblich, ob dem Betroffenen ein strafrechtlich relevantes Verhalten oder ein lediglich auf [X.] verbleibender Vorwurf gemacht werde. Im vorliegenden Fall werde dem Kläger aber gerade kein strafrechtlich relevantes Verhalten angelastet.

3. Gelegenheit zur Stellungnahme hatten der [X.], das [X.] [X.]sowie der Kläger des Ausgangsverfahrens. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem [X.] vorgelegen.

Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]).

1. Das [X.] hat die maßgeblichen Fragen bereits entschieden. Dies gilt namentlich für das Verhältnis des Grundrechts auf Meinungsfreiheit zu dem ebenfalls grundrechtlich geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrecht des von einer Äußerung Betroffenen (vgl. nur [X.] 97, 391 <399 ff.>; 99, 185 <196 ff.>; [X.], 107).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist zwar nur teilweise zulässig (a); im Umfang ihrer Zulässigkeit ist sie allerdings auch im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] offensichtlich begründet (b).

a) Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 4 [X.] rügt, genügen seine Ausführungen nicht den sich aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] ergebenden Begründungsanforderungen. Sie lassen nicht einmal ansatzweise erkennen, inwieweit die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in der Freiheit seines Glaubens betreffen oder an der Ausübung seiner Religion hindern. Namentlich legt der Beschwerdeführer nicht schlüssig dar, dass gerade die Wiederholung der durch die angegriffenen Entscheidungen untersagten Äußerungen und Verhaltensweisen der unmittelbaren Umsetzung einer religiösen Grundhaltung der Beschwerdeführer geschuldet sei.

b) Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer allerdings in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 [X.]. Die dem Beschwerdeführer durch die angegriffenen Entscheidungen verbotenen Hinweise darauf, dass der Kläger Abtreibungen durchführe und in seiner Praxis Abtreibungen durchgeführt würden, fallen in den Schutzbereich dieses Grundrechts. Dem steht nicht entgegen, dass es sich hierbei um Tatsachenbehauptungen handelt, denn auch derartige Äußerungen genießen den Schutz der Meinungsfreiheit, soweit sie geeignet sind, zur Meinungsbildung beizutragen (vgl. [X.] 85, 1 <15 f.>; 90, 241 <247>; stRspr), was hier ersichtlich der Fall ist.

Das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 [X.] ist allerdings nicht vorbehaltlos gewährt, sondern steht gemäß Art. 5 Abs. 2 [X.] insbesondere unter der Schranke der allgemeinen Gesetze, zu denen auch die hier angewendeten Vorschriften der [ref=ab69b559-629e-42a3-961b-4bd01b11922a]§§ 823, 1004 BGB[/ref] gehören. Jedoch haben die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung der grundrechtsbeschränkenden Normen des einfachen Rechts die wertsetzende Bedeutung des beeinträchtigten Grundrechts zu berücksichtigen. Diesem Erfordernis werden die angegriffenen Entscheidungen nicht in hinreichendem Maße gerecht. Die Gerichte haben zwar nicht verkannt, dass die streitgegenständlichen Äußerungen dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfallen, und sind auch in eine Abwägung zwischen diesem Grundrecht des Beschwerdeführers und den auf Seiten des [X.] zu berücksichtigenden grundrechtlich geschützten Interessen eingetreten. Die hierbei maßgeblichen Erwägungen der Gerichte werden aber der Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit nicht hinreichend gerecht.

Im Ausgangspunkt zutreffend haben die angegriffenen Entscheidungen zwar angenommen, dass die dem Beschwerdeführer untersagten Äußerungen wahre Tatsachenbehauptungen sind, die den Kläger zudem weder in seiner besonders geschützten Intim- noch in seiner Privatsphäre treffen, sondern lediglich Vorgänge aus seiner Sozialsphäre benennen. Derartige Äußerungen müssen allerdings grundsätzlich hingenommen werden, denn das Persönlichkeitsrecht verleiht seinem Träger keinen Anspruch darauf, nur so in der Öffentlichkeit dargestellt zu werden, wie es ihm genehm ist (vgl. [X.] 97, 391 <403>). Zu den hinzunehmenden Folgen der eigenen Entscheidungen und Verhaltensweisen gehören deshalb auch solche Beeinträchtigungen des Einzelnen, die sich aus nachteiligen Reaktionen Dritter auf die Offenlegung solcher wahrer Tatsachen ergeben, solange sie sich im Rahmen der üblichen Grenzen seiner Entfaltungschancen halten (vgl. [X.] 97, 391 <404>). Die Schwelle zur Persönlichkeitsrechtsverletzung wird bei der Mitteilung wahrer Tatsachen über die Sozialsphäre des Betroffenen regelmäßig erst überschritten, wo sie einen [X.]befürchten lässt, der außer Verhältnis zu dem Interesse an der Verbreitung der Wahrheit steht (vgl. [X.] 97, 391 <403 ff.>; 99, 185 <196 f.>). Eine derart schwerwiegende Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des [X.] zeigen die angegriffenen Entscheidungen aber nicht in einer verfassungsrechtlich tragfähigen Weise auf. Ihre Erwägung, dass der Kläger gegen seinen Willen in der Öffentlichkeit als ein auch Schwangerschaftsabbrüche durchführender Arzt präsentiert worden sei und hierdurch eine unzulässige Anprangerung und Stigmatisierung des [X.] bewirkt werde, begegnet zwar keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. [X.] 97, 391 <406 f.>; [X.], 107 <115>; [X.], Beschluss der [X.] des Ersten Senats vom 18. Februar 2010 - 1 BvR 2477/08 -, [X.]). Jedoch darf bei der Würdigung einer möglichen Prangerwirkung nicht aus dem Blick geraten, dass die Wahl einer personalisierten Darstellungsweise und der hiermit regelmäßig verbundenen [X.] gerade Teil der grundrechtlich geschützten Meinungsfreiheit des Äußernden ist. Es bleibt daher im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, welches Gewicht den durch die Anprangerung ausgelösten Rechtsbeeinträchtigungen im Verhältnis zu der Einbuße an Meinungsfreiheit zukommt, die ein Verbot der personalisierten Darstellungsweise mit sich bringen würde (vgl. [X.], 107 <115>).

Eine nach diesem Maßstab ausreichend schwere Beeinträchtigung der grundrechtlich geschützten Interessen des [X.] durch die streitgegenständliche Äußerung zeigen die angegriffenen Entscheidungen indes nicht auf und begründen daher nicht tragfähig, dass dieser sie trotz ihrer unstreitigen Wahrheit ausnahmsweise nicht hinnehmen müsste. Namentlich lassen sie nicht erkennen, dass dem Kläger ein umfassender Verlust an [X.] Achtung drohe, wenn seine Bereitschaft zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen zum Gegenstand einer öffentlichen Erörterung gemacht wird. Hiergegen spricht, dass dem Kläger nach dem festgestellten Sachverhalt nicht etwa eine strafrechtlich relevante oder auch nur überhaupt gesetzlich verbotene, sondern lediglich eine aus Sicht des Beschwerdeführers moralisch verwerfliche Tätigkeit vorgehalten wurde, auf die zudem der Kläger selbst ebenfalls öffentlich hinwies. Darüber hinaus haben die Gerichte auch nicht hinreichend gewürdigt, dass der Beschwerdeführer mit dem Thema der Schwangerschaftsabbrüche einen Gegenstand von wesentlichem öffentlichem Interesse angesprochen hat, was das Gewicht seines in die Abwägung einzustellenden Äußerungsinteresses vergrößert.

Soweit die Gerichte daneben auf die Auswirkungen verwiesen haben, die die streitgegenständlichen Äußerungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis entfalten, erscheint auch dies im vorliegenden Fall verfassungsrechtlich nicht haltbar. Allerdings ist die Erwägung, dass die Patientinnen, deren Weg in die Arztpraxis am Standort des Beschwerdeführers vorbeiführt, sich durch dessen Aktionen gleichsam einem Spießrutenlauf ausgesetzt sehen könnten, ein gewichtiger Gesichtspunkt. Vor dem Hintergrund, dass Art. 5 Abs. 1 [X.] zwar das Äußern von Meinungen schützt, nicht aber Tätigkeiten, mit denen anderen eine Meinung - mit nötigenden Mitteln - aufgedrängt werden soll (vgl. [X.] 25, 256 <264 f.>), erscheint es nicht ausgeschlossen, auf diesen Gesichtspunkt und die damit verbundene Einmischung in die rechtlich besonders geschützte Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patientin im Einzelfall ein verfassungsrechtlich tragfähiges Verbot von bestimmten Formen von Protestaktionen zu stützen. Die angegriffenen Entscheidungen genügen den diesbezüglichen Anforderungen jedoch nicht. Denn zum einen sind die Feststellungen der angegriffenen Entscheidungen so knapp, dass undeutlich bleibt, ob und inwieweit die Aktionen "vor" der Praxis des hiesigen [X.] überhaupt zu derartigen Belästigungen von Patientinnen geführt haben oder hierzu auch nur geeignet waren. Außerdem geht der - vom Berufungsgericht bestätigte - Tenor des landgerichtlichen Urteils deutlich über das durch diesen Aspekt noch zu rechtfertigende Maß hinaus. Auf mögliche das Grundrecht des [X.] aus Art. 12 Abs. 1 [X.] betreffende Belästigungen von Patientinnen lässt sich weder ein Verbot stützen, in einem Umkreis von einem Kilometer Luftlinie von der Praxis des [X.] - ohne Rücksicht darauf, ob es sich um einen Standort handelt, den Patientinnen des [X.] auf dem Weg zur Praxis passieren müssen oder nicht - auf die dort durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche hinzuweisen noch gar dies in sonstiger Weise öffentlich zu tun. Es erscheint fernliegend, in einem etwa im [X.] veröffentlichten Hinweis auf die Praxis des [X.] eine rechtserhebliche Störung dessen Verhältnisses zu seinen Patientinnen zu sehen. Denn nicht nur weist der Kläger selbst nach den Feststellungen der Gerichte auf das auch Schwangerschaftsabbrüche umfassende Leistungsangebot seiner Praxis hin, sondern es ist der angenommenen Störung der Vertrauensbeziehung geradezu vorausgesetzt, dass die Patientinnen, die einen Schwangerschaftsabbruch erwägen, Kenntnis davon haben, dass ihr Arzt derartige Eingriffe vornimmt. Hinzu kommt, dass nicht einmal ansatzweise erkennbar ist, warum zu befürchten sein sollte, dass eine solche Patientin der Website des Beschwerdeführers ansichtig werden könnte. Der bloße Wunsch des [X.], von der Belästigung freigehalten zu werden, öffentlich mit der eigenen freien Entscheidung für die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen konfrontiert und hierfür auch kritisiert zu werden, verdient angesichts des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 [X.] aber keine Anerkennung.

c) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auch auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gerichte bei erneuter Befassung unter angemessener Berücksichtigung der erfolgten Grundrechtsbeeinträchtigung zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen werden.

3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 34a Abs. 2 [X.].

Meta

1 BvR 1745/06

08.06.2010

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG München, 2. Juni 2006, Az: 18 U 2358/06, Beschluss

Art 12 Abs 1 GG, Art 5 Abs 1 S 1 GG, § 1004 BGB, § 823 BGB, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 08.06.2010, Az. 1 BvR 1745/06 (REWIS RS 2010, 6083)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 6083

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

VI ZR 308/03 (Bundesgerichtshof)


1 BvR 3487/14 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Zur Abwägung zwischen Meinungsäußerungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht bei Äußerung wahrer Tatsachen über Geschäftsgebaren …


1 BvR 2477/08 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Art 5 Abs 1 S 1 GG durch eine zivilgerichtliche Verurteilung, …


1 BvR 1751/12 (Bundesverfassungsgericht)

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Bezeichnung einer Rechtsanwaltskanzlei als "Winkeladvokatur" ggf durch Meinungsfreiheit (Art 5 Abs 1 …


1 BvR 2979/10 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Diskussionsbeiträge in Internet-Foren und Reichweite der Meinungsfreiheit (Art 5 Abs 1 S 1 …


Literatur & Presse BETA

Diese Funktion steht nur angemeldeten Nutzern zur Verfügung.

Anmelden
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.