Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 09.05.2023, Az. 1 BvR 1/23

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2023, 3174

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Erfolglose Verfassungsbeschwerde in einer sozialrechtlichen Angelegenheit - keine Verletzung des fair-trial-Grundsatzes durch fachgerichtliche Entscheidung nach "überraschendem" richterlichen Hinweis - Subsidiaritätsgrundsatz gebietet zur Ermöglichung eigenen Vortrags ggf Antrag auf Vertagung bzw Schriftsatznachlass


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Entscheidungsgründe

1

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen nach § 93a Abs. 2 [X.] nicht vorliegen. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Sie ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte anzunehmen, da sie unzulässig ist und damit keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. [X.] 90, 22 <25 f.>). Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] folgenden Begründungsanforderungen nicht genügt.

2

1. Die Begründung der Verfassungsbeschwerde muss sich mit dem zugrundeliegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Sachverhalts auseinandersetzen und hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint. Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung, bedarf es in der Regel einer ins Einzelne gehenden argumentativen Auseinandersetzung mit ihr und ihrer Begründung. Dabei ist auch darzulegen, inwieweit das jeweils bezeichnete Grundrecht verletzt sein und mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidieren soll. Soweit das [X.] für bestimmte Fragen bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickelt hat, muss anhand dieser Maßstäbe dargelegt werden, inwieweit Grundrechte durch die angegriffenen Maßnahmen verletzt werden (vgl. [X.] 140, 229 <232 Rn. 9> m.w.N.).

3

2. Die Beschwerdeführerin legt nicht dar, dass das [X.] eine gegen das rechtliche Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verstoßende Überraschungsentscheidung (vgl. [X.] 107, 395 <410>) getroffen hätte. Die Beschwerdeführerin beanstandet gerade auch den in der mündlichen Verhandlung ergangenen Hinweis des Senats zu dem in § 1 Abs. 1 Satz 1 lit. a) des [X.] aus Beschäftigungen in einem Ghetto ([X.]) enthaltenen Tatbestandsmerkmal der Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss. Sie setzt sich jedoch nicht mit der Bedeutung dieses Hinweises für den Grundsatz des rechtlichen Gehörs auseinander. Dieser Grundsatz gebietet es, die Beteiligten auf entscheidungserhebliche rechtliche Gesichtspunkte hinzuweisen, mit denen ein gewissenhafter und kundiger Verfahrensbeteiligter nicht zu rechnen brauchte (vgl. [X.] 86, 133 <144 f.>; 98, 218 <263>; BVerfGK 9, 295 <302 f.>). Der nach dem damaligen Verlauf des fachgerichtlichen Verfahrens von den Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin durchaus nachvollziehbar als überraschend empfundene Hinweis des Senats kann daher auch keinen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (vgl. [X.], 350 <354>) begründen. Zugleich kann das nach der mündlichen Verhandlung verkündete Urteil des [X.]s aber nicht mehr als überraschend angesehen werden.

4

3. Soweit die Beschwerdeführerin einen Verstoß des [X.]s gegen Art. 103 Abs. 1 GG darin sieht, dass das Gericht ihr keine Gelegenheit gegeben habe, zu dem Tatbestandsmerkmal der aus eigenem Willensentschluss zustande gekommenen Beschäftigung vorzutragen, ist diese Rüge auch im Hinblick auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde unzulässig.

5

Aus dem - auch in § 90 Abs. 2 Satz 1 [X.] zum Ausdruck kommenden - subsidiären Charakter der Verfassungsbeschwerde als außerordentlicher Rechts-behelf sowie der Kompetenzverteilung zwischen den Fachgerichten und dem [X.] folgt, dass der Beschwerdeführer über das Erfordernis einer Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinaus vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde grundsätzlich alle ihm zumutbaren, nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen muss, um den geltend gemachten Verstoß gegen Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte zu verhindern oder dessen Korrektur zu erwirken (vgl. [X.] 5, 9 <10>; 22, 287 <290 f.>; 81, 22 <27>; 84, 203 <208>; 95, 163 <171>; stRspr). Die Beachtung der aus dem Grundsatz der Subsidiarität folgenden Anforderungen muss ein Beschwerdeführer, wenn sie nicht offensichtlich gewahrt sind, in seiner Verfassungsbeschwerde substantiiert darlegen (vgl. [X.], 102 <103 f.>; [X.] 129, 78 <93>).

6

Dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem [X.] lässt sich jedoch entnehmen, dass das streitige Tatbestandsmerkmal erörtert wurde und dass auch der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin hierzu Ausführungen gemacht hatte. Soweit die Beschwerdeführerin auch ihren ergänzenden Vortrag nach dem Termin zur mündlichen Verhandlung berücksichtigt sehen möchte, haben die beiden in dem Termin vor dem [X.] anwesenden, rechtskundigen Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin dort keine Anträge auf Vertagung oder [X.] gestellt (§ 202 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 227 ZPO bzw. § 283 ZPO, vgl. BSG, Beschluss vom 23. Oktober 2003 - [X.] RA 37/03 B -, juris, Rn. 7 ff.; BSG, Beschluss vom 8. Mai 2019 - [X.] [X.]/18 B -, juris, Rn. 6 f.). Soweit die Beschwerdeführerin in ihrem Antrag an das [X.] auf Protokollberichtigung einen begehrten [X.] erwähnt habe, bezog sich dieser ausweislich des Antrags lediglich auf die nicht streitentscheidend gewordene Frage nach Entschädigungsleistungen nach der [X.], jedoch nicht auf die in der mündlichen Verhandlung erstmals vom Gericht aufgeworfene Frage der Freiwilligkeit der geleisteten Tätigkeiten. Der Vortrag der Beschwerdeführerin, wonach das [X.] in jedem Falle noch am Tag der mündlichen Verhandlung habe entscheiden wollen, ist bei fehlender Antragstellung auf Vertagung oder [X.] seitens der im Termin anwesenden rechtskundigen Prozessbevollmächtigten nicht hinreichend substantiiert, um einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu begründen. Im Hinblick auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde kommt hinzu, dass die Beschwerdeführerin in der Begründung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde auch nicht geltend gemacht hat, dass das [X.] einen auf weitere Sachverhaltsaufklärung gerichteten Antrag übergangen hätte oder dass eine solche Antragstellung offensichtlich aussichtslos gewesen wäre.

7

4. Die Rüge ist auch unzulässig, soweit sie eine Verletzung des aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG abgeleiteten Gebots effektiven Rechtsschutzes (vgl. [X.] 125, 104 <136 f.>) durch das [X.] betrifft. Die Beschwerdeführerin legt hierfür nicht substantiiert dar, dass das [X.] den Zugang zur Revisionsinstanz durch eine sachlich nicht mehr zu rechtfertigende und damit objektiv willkürliche Anwendung der Verfahrensvorschriften über die Nichtzulassungsbeschwerde unzumutbar erschwert hätte (vgl. [X.] 151, 173 <184>).

8

Eine derartige willkürliche Anwendung der Regelungen über die Zulassung der Revision aufgrund einer in der Nichtzulassungsbeschwerde darzulegenden grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG in Verbindung mit § 160a Abs. 2 Satz 2 SGG) ergibt sich aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde nicht. Dieser Zulassungsgrund wird verfassungsrechtlich unbedenklich dahingehend ausgelegt, dass es maßgebend auf eine konkrete, über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage ankommen muss, die im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts der Klärung bedarf (vgl. [X.] 151, 173 <186>). Hat ein [X.] eine Rechtsfrage bereits geklärt, kann sich ein weiterer Klärungsbedarf etwa dann ergeben, wenn neue Argumente vorgebracht werden, die das [X.] zu einer Überprüfung seiner Auffassung veranlassen könnten. Dies gilt insbesondere dann, wenn zwischenzeitlich das [X.], ein anderes [X.], der [X.] oder auch der [X.] eine Entscheidung getroffen hat, aus der sich neue Argumente ergeben (vgl. [X.] 151, 173 <187>). Aus dem von der Beschwerdeführerin angeführten Urteil gerade des [X.]s vom 20. Mai 2020 ([X.], 171) kann sich hiervon ausgehend kein derartiges neues Argument und damit kein weiterer Klärungsbedarf in Bezug auf die Voraussetzungen des § 1 [X.] ergeben. Die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts ist im Übrigen Sache der Fachgerichte und einer Nachprüfung durch das [X.] grundsätzlich entzogen. Dieses kontrolliert vielmehr nur, ob bei Auslegung und Anwendung einfachen Rechts der Einfluss der Grundrechte grundlegend verkannt worden ist (vgl. [X.] 21, 209 <216>; 89, 276 <285>).

9

Die Begründung der Verfassungsbeschwerde legt daneben auch keine willkürliche Anwendung der Regelungen über die Zulassung der Revision aufgrund eines in der Nichtzulassungsbeschwerde geltend zu machenden Verfahrensmangels (§ 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG in Verbindung mit § 160a Abs. 2 Satz 2 SGG) dar. Die Beschwerdeführerin setzt sich insoweit schon nicht damit auseinander, dass das [X.] bereits ihren Vortrag in der Nichtzulassungsbeschwerde zu der Frage der Verhinderung der prozessualen Möglichkeiten der Beschwerdeführerin durch das [X.] in der mündlichen Verhandlung als unzureichend angesehen hat.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1/23

09.05.2023

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BSG, 24. November 2022, Az: B 5 R 9/22 C, Beschluss

§ 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 112 Abs 2 SGG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 09.05.2023, Az. 1 BvR 1/23 (REWIS RS 2023, 3174)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 3174

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

B 5 RS 4/22 B

B 5 RS 5/23 B

B 5 R 67/23 B

B 5 R 217/22 B

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