Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 08.10.2014, Az. 1 BvR 886/11

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2014, 2340

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Leistungen nach SGB 2 und Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art 1 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 1 GG) - kein Anspruch auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen wegen der Aufnahme eines förderungsfähigen Hochschulstudiums - teilweise Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde mangels hinreichender Substantiierung


Gründe

1

Die mit einem Prozesskostenhilfegesuch verbundene Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen sozialgerichtliche Eilentscheidungen wegen der Versagung von Leistungen nach dem [X.] ([X.]) im Hinblick auf die abstrakte Förderungsfähigkeit des Hochschulstudiums des Beschwerdeführers nach dem [X.] ([X.]).

2

1. Der 1966 geborene Beschwerdeführer bezog im [X.] an Erwerbstätigkeit Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende; letztmals im Mai 2010 Leistungen für Unterkunft und Heizung bis Ende November 2010 in Höhe von monatlich 73,84 €. Auf seinen Antrag auf Fortzahlung der Leistungen gab der Beschwerdeführer an, ab Oktober 2010 ein Hochschulstudium aufzunehmen. Der Verwaltungsträger stellte daraufhin fest, dass kein Anspruch auf Gewährung eines Darlehens besteht und hob wegen der Aufnahme des Hochschulstudiums die Bewilligung von Leistungen für Oktober und November 2010 auf.

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2. Der Antrag des Beschwerdeführers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen diesen Verwaltungsakt und auf Verpflichtung des [X.], ihm vorläufig Leistungen für Unterkunft und Heizung für die [X.] ab Oktober 2010 zu gewähren, lehnte das Sozialgericht ab. Durch die Aufnahme des Studiums verliere er nach der vom Gericht nicht für verfassungswidrig erachteten Regelung des § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] in der Fassung bis 31. März 2011 (im Folgenden: a.F.) den Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, da das Hochschulstudium gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 [X.] förderungsfähig sei. Auch anderweitige Ansprüche bestünden nicht. Leistungen nach dem [X.] erhalte der Beschwerdeführer nicht, weil er die Altersgrenze des § 10 Abs. 3 Satz 1 [X.] überschritten habe.

4

3. Das [X.] wies die Beschwerde zurück.

5

4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 19 Abs. 1 Satz 2 sowie von Art. 20 Abs. 3 GG.

6

Er sei nicht gehalten, den Abschluss des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Die Gerichte hätten sich auf eine jüngere Rechtsprechung des [X.] gestützt, weshalb keine abweichende Beurteilung der Fachgerichte zu erwarten sei. Ihm entstünden, wenn er so lange zuwarten müsse, schwere und erhebliche Nachteile, denn ohne die Mittel Dritter sei er lediglich ein weiteres Jahr in der Lage, das Studium zu finanzieren. Würden existenzsichernde Sozialleistungen ausgeschlossen, ohne dass ein Anspruch auf adäquate andere Leistungen bestünde, verstoße dies gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Durch § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] a.F. werde die freie Wahl des Arbeitsplatzes eingeschränkt, denn der Leistungsausschluss zwinge ihn, seinen Berufswunsch aufzugeben. Die Aufnahme eines Studiums stehe der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht entgegen, denn er würde das Studium zugunsten einer zumutbaren Arbeit jederzeit aufgeben. Auch liege eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung zwischen ordentlich Studierenden und Gasthörenden vor, die von vornherein keinen Anspruch auf Leistungen nach dem [X.] hätten, weshalb § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] a.F. der Gewährung von Grundsicherungsleistungen nicht entgegenstehe, obwohl beide durch das Lernen gleich belastet seien.

7

Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde liegen nicht vor. Sie hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a [X.]) und ihre Annahme erscheint auch nicht zur Durchsetzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]).

8

1. Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise unzulässig, da sie hinsichtlich der gerichtlichen Entscheidungen über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht in einer den Erfordernissen von § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 [X.] genügenden Weise begründet worden ist (vgl. [X.] 21, 359 <361>; 81, 208 <214>; 85, 36 <52>; 99, 84 <87>; 101, 331 <345 f.>; 105, 252 <264>; 108, 370 <386 f.>).

9

2. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig.

Dem steht nicht entgegen, dass sich der Beschwerdeführer gegen Entscheidungen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wendet. Er kann hier nicht auf das Hauptsacheverfahren verwiesen werden, da dieses als von vornherein aussichtslos erscheint (vgl. [X.] 104, 65 <71>). Nach der Rechtsprechung der fachlich zuständigen Senate des [X.] zur Rechtslage bis Ende März 2011 ist - abgesehen von [X.]onstellationen, in denen der Bedarf nicht ausbildungsbedingt ist oder ein besonderer Härtefall vorliegt - von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.] ausgeschlossen, wer eine dem Grunde nach gemäß dem [X.] objektiv förderungsfähige Ausbildung absolviert (BSG, Urteil vom 6. September 2007 - [X.]/7b [X.] -, juris; Urteil vom 1. Juli 2009 - [X.] AS 67/08 R -, juris) und - bezogen auf ein Hochschulstudium - die Ausbildung tatsächlich betreibt (BSG, Urteil vom 22. März 2012 - [X.] AS 102/11 R -, juris; Urteil vom 22. August 2012 - [X.] AS 197/11 R -, juris).

Nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist jedoch die Frage nach den Altersgrenzen der Studienförderung. Der Beschwerdeführer hat keine Leistungen nach dem [X.] beantragt und sich gegebenenfalls gegen deren Versagung gewehrt. Über sie wurde in den angegriffenen Entscheidungen auch nicht entschieden.

3. Gegen die vorliegend angegriffenen Entscheidungen zum [X.] bestehen insoweit keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

a) Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG (vgl. [X.] 125, 175 <222 ff.>; 132, 134 <159 ff.>) ist nicht verletzt. Nach § 2 Abs. 2 Satz 2 [X.] müssen erwerbsfähige Leistungsberechtigte ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts einsetzen; dies tut der Beschwerdeführer nicht, wenn er studiert. Daher schließt § 7 Abs. 5 Satz 1 [X.] a.F. im Fall des Beschwerdeführers die Gewährung dieser Grundsicherungsleistungen aus. Soweit durch die Ausbildung existenzielle Bedarfe entstehen, werden diese insofern vorrangig durch Leistungen nach dem [X.] beziehungsweise dem [X.] gedeckt (vgl. BSG, Urteil vom 6. September 2007 - [X.]/7b [X.] -, juris, Rn. 28; [X.], in: [X.]/[X.], [X.], [X.] § 7 Rn. 276 ). Über die dortige Altersgrenze der Förderung (vgl. hierzu [X.], Beschluss des [X.] vom 15. September 1980 - 1 BvR 715/80 -, FamRZ 1981, [X.]) haben die Gerichte im vorliegenden Verfahren nicht entschieden.

b) Daher geht auch die Rüge einer Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG vorliegend ins Leere. Der faktische Zwang, ein Studium abbrechen zu müssen, weil keine Sozialleistungen zur Verfügung stehen, berührt zwar die teilhaberechtliche Dimension des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 1 GG (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 8. Mai 2013 - 1 BvL 1/08 -, juris, Rn. 36 f.). Der Gesetzgeber hat mit den Vorschriften des [X.]es jedoch ein besonderes Sozialleistungssystem zur individuellen Förderung der Hochschulausbildung durch den Staat geschaffen, das diese Teilhabe sichern soll. Seine Regelungen über Förderungsvoraussetzungen sowie Art, Höhe und Dauer der Leistungen sind auf die besondere Lebenssituation der Studierenden zugeschnitten, die auf öffentliche Hilfe bei der Finanzierung ihres Studiums angewiesen sind (vgl. [X.] 96, 330 <343>). Der Gesetzgeber hat die Förderung so ausgestaltet, dass eine möglichst frühzeitige Aufnahme der Ausbildung gefördert wird (vgl. Entwurf eines [X.] des [X.]es vom 15. Januar 1979, BTDrucks 8/2467, S. 15; Bericht der Bundesregierung zur Ausbildungsfinanzierung in Familien mit mittlerem Einkommen vom 13. Juli 1987, BTDrucks 11/610, S. 16 f.; Finger, [X.], S. 1427 f.), denn im Allgemeinen muss bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres eine der Begabung entsprechende Ausbildung begonnen werden (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 15. September 1980 - 1 BvR 715/80 -, FamRZ 1981, [X.]); § 10 Abs. 3 Satz 2 [X.] lässt Ausnahmen bei einer Ausbildungsaufnahme in höherem Alter zu. Es ist so derzeit möglich, ein Erststudium gefördert zu absolvieren (vgl. [X.][X.] 7, 465 <471> zur Möglichkeit eines gebührenfreien Erststudiums). Ob sich insofern der Ausschluss des Beschwerdeführers von der Förderung für ein Studium nach Ausbildung und Erwerbstätigkeit - aber auch zur weiteren Qualifikation und Rückkehr in die Erwerbsarbeit - vor der Verfassung rechtfertigen lässt, ist damit nicht gesagt, aber hier auch nicht zu entscheiden.

c) Vorliegend ist ebenfalls nicht zu entscheiden, ob die Regelung des [X.]es mit Unionsrecht (Art. 6 Abs. 1 Buchstabe a der Richtlinie 2000/78/[X.]; vgl. [X.], Urteil vom 12. Oktober 2010, [X.], [X.]/08, juris; Urteil vom 13. September 2011, [X.], [X.]/09, juris; dazu [X.], RdA 2012, S. 346 <347 ff.>) in Einklang steht.

d) Auch die Frage nach einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG durch die Unterscheidung zwischen Vollzeitstudierenden und [X.] stellt sich im System des [X.]es und nicht im vorliegenden Verfahren.

4. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts in entsprechender Anwendung der §§ 114 ff. ZPO (vgl. [X.], Beschluss der 3. [X.]ammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 2010 - 2 BvR 2258/09 -, juris, Rn. 6 m.w.N.) liegen nicht vor. Denn die Verfassungsbeschwerde bietet, wie dargelegt, keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 886/11

08.10.2014

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, 24. März 2011, Az: L 19 AS 1677/10 B ER, Beschluss

Art 1 Abs 1 GG, Art 20 Abs 1 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, BAföG, § 2 Abs 2 S 2 SGB 2, § 7 Abs 5 S 1 SGB 2 vom 01.01.2011, SGB 3

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 08.10.2014, Az. 1 BvR 886/11 (REWIS RS 2014, 2340)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 2340

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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