Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12.04.2022, Az. 1 BvR 798/19, 1 BvR 2894/19

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2022, 2356

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Art 2 Abs 1 iVm 20 Abs 3 GG durch die Anwendung von § 8 Abs 7 S 2 KAB Bbg (juris: KAG BB) nach Wechsel des Aufgabenträgers - Verstoß gegen die Bindungwirkung des Beschlusses  BVerfG, 12.11.2015, 1 BvR 2961/14


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 5. März 2019 - [X.] -, das Urteil des [X.] vom 25. April 2017 - [X.] 852/14 -, der Widerspruchsbescheid des [X.] vom 14. Mai 2014 - (…) - und der Bescheid des [X.] vom 6. März 2014 - (…) - verletzen die Beschwerdeführerin zu [X.] in ihren Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Der Beschluss des [X.] und das Urteil des [X.] werden aufgehoben und die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

2. Der Beschluss des [X.] vom 19. November 2019 - [X.] -, das Urteil des [X.] Potsdam vom 4. Juli 2019 - [X.] -, der Widerspruchsbescheid des [X.] "[X.]" in der Fassung des [X.] vom 11. August 2015 - (…) - und der Bescheid des [X.] "[X.]" vom 2. April 2014 - (…) - verletzen die Beschwerdeführerin zu I[X.] in ihren Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Der Beschluss des [X.] und das Urteil des [X.] werden aufgehoben und die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

3. Das [X.] hat den Beschwerdeführerinnen ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

1

[X.] wenden sich gegen ihre Heranziehung zu [X.] nach erfolgtem Wechsel des [X.]. Eingelegte Rechtsbehelfe blieben erfolglos.

2

Mit ihren [X.] machen die Beschwerdeführerinnen unter anderem eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG) und des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) geltend. Sie meinen, dass der verfassungsrechtlich garantierte Vertrauensschutz die Erhebung von [X.] durch einen neuen Aufgabenträger verbiete, wenn unter dem alten Aufgabenträger hypothetische Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Zudem seien die hypothetisch verjährten Beitragsforderungen des vormaligen [X.] aus Gründen der Gleichbehandlung auf die Beitragsforderungen des neuen [X.] anzurechnen, jedenfalls dann, wenn dieser eine Anrechnung von Beiträgen vornehme, die Grundstückseigentümer an den damaligen Aufgabenträger tatsächlich gezahlt hätten.

3

Die Beklagten der Ausgangsverfahren haben zu den [X.] Stellung genommen. Die Akten der Ausgangsverfahren lagen dem [X.] vor.

4

[X.] nimmt die [X.] an und gibt ihnen statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerinnen aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung durch die Kammer liegen diesbezüglich vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]).

5

1. Die [X.] sind überwiegend zulässig. Unzulässig ist die [X.]beschwerde allerdings in dem Verfahren 1 BvR 2894/19, soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG geltend macht und sich mittelbar gegen § 8 Abs. 7 Satz 2 n.F., § 12 Abs. 3a und § 19 Abs. 1 Kommunalabgabengesetz [X.] ([X.]) wendet. Sie genügt insofern nicht den Begründungsanforderungen von § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.].

6

2. Die [X.] sind auch offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen bereits gegen die Bindungswirkung des Beschlusses der [X.] des [X.] vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14, 1 BvR 3051/14 - (a). Darüber hinaus verletzten sie den Grundsatz des Vertrauensschutzes und damit die Beschwerdeführerinnen ebenfalls in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (b). Ob die Entscheidungen zugleich gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, bedarf demgegenüber keiner Entscheidung.

7

a) Bereits nach dem Beschluss der [X.] des [X.] vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14, 1 BvR 3051/14 -, Rn. 39 ff., verstößt die Anwendung des § 8 Abs. 7 Satz 2 [X.] n.F. in Fällen, in denen Beiträge nach § 8 Abs. 7 Satz 2 [X.] a.F. nicht mehr erhoben werden könnten, gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (Grundsatz des Vertrauensschutzes). Diese Entscheidungen waren für das Verwaltungsgericht gemäß § 31 Abs. 1 [X.] bindend (vgl. dazu [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 27. Januar 2006 - 1 BvQ 4/06 -, Rn. 26 ff.).

8

Dies gilt auch dann, wenn es zwischenzeitlich zu einem Wechsel des [X.] gekommen ist. Auch im Falle der erfolgten Eingemeindung in dem Verfahren 1 BvR 3051/14 sah die Kammer einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG als gegeben an, ging also davon aus, dass der Wechsel eines [X.] nicht dazu führt, dass sich die Beschwerdeführerin nicht mehr auf die hypothetische Festsetzungsverjährung berufen kann. Bei einem Beitritt einer Gemeinde zu einem Zweckverband oder der Gründung eines Zweckverbands durch mehrere Gemeinden gilt nichts anderes.

9

Der Vergleich der einzelnen Feststellungen zeigt, dass der Kammer durchaus bewusst war, dass bei der Beschwerdeführerin in dem Verfahren 1 BvR 3051/14 der [X.] an die Schmutzwasserkanalisation der Beklagten erst im Jahre 2003 erfolgte, wobei bereits kurz nach dem 3. Oktober 1990 − unter einem anderen Aufgabenträger − die Möglichkeit des [X.]es bestand. Im Gegensatz zum Verfahren 1 BvR 2961/14 heißt es in dem Verfahren 1 BvR 3051/14 nämlich gerade nicht, dass bereits kurz nach dem 3. Oktober 1990 die Möglichkeit des [X.]es im Gebiet der beklagten [X.] gegeben war. Darüber ergibt sich die Eingemeindung in dem Verfahren 1 BvR 3051/14 eindeutig aus den Tatbeständen in den angegriffenen − und später aufgehobenen − Entscheidungen (vgl. [X.], Urteil vom 8. Juni 2011 - [X.] 1033/09 -, Rn. 3 f.; OVG Berlin-[X.], Urteil vom 14. November 2013 - [X.] -, Rn. 2).

b) Die Entscheidungen der Verwaltungsgerichte lassen sich auch nicht mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (Grundsatz des Vertrauensschutzes) vereinbaren (vgl. auch [X.], Urteile vom 6. Oktober 2021 - 9 [X.] 9.20 -, Leitsatz 2 und Rn. 22; - 9 [X.] 10.20 -, Leitsatz 1 und Rn. 16 ff.).

aa) Verjährungsregelungen schöpfen ihre Berechtigung und ihre Notwendigkeit aus dem Umstand, dass Einzelne auch gegenüber dem Staat die Erwartung hegen dürfen, irgendwann nicht mehr mit einer Geldforderung überzogen zu werden, wenn der berechtigte Hoheitsträger über einen längeren Zeitraum seine Befugnis nicht wahrgenommen hat. Ein Vorteilsempfänger muss in zumutbarer Zeit Klarheit darüber gewinnen können, ob und in welchem Umfang er die erlangten tatsächlichen Vorteile durch Beiträge ausgleichen muss (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 3. November 2021 - 1 BvL 1/19 -, Rn. 62 m.w.N.).

Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, die berechtigten Interessen der Allgemeinheit am [X.] und der Einzelnen an Rechtssicherheit durch entsprechende Gestaltung von [X.] zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 3. November 2021 - 1 BvL 1/19 -, Rn. 63 m.w.N.).

bb) Dieser Verpflichtung ist der Gesetzgeber in [X.] zwar nachgekommen, indem er Verjährungsregelungen und eine (verfassungsgemäße) Regelung zur zeitlichen Höchstfrist (§ 19 Abs. 1 [X.]) getroffen hat. Die Auslegungspraxis der Verwaltungsgerichte führt jedoch dazu, dass das durch den Eintritt der hypothetischen Verjährung begründete Vertrauen der Beschwerdeführerinnen, dass die erlangten tatsächlichen Vorteile nicht mehr durch Beiträge ausgeglichen werden müssen, für unbeachtlich erklärt wird, ohne dass Gründe ersichtlich wären, die es rechtfertigen könnten, nachträglich in die von [X.] wegen geschützte Vertrauensposition einzugreifen.

cc) Die Verwaltungsgerichte gehen zwar der Sache nach noch von der zutreffenden Annahme aus, dass wenn das Gemeinwesen in Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe eine besondere Einrichtung zur Verfügung stellt, diejenigen, die daraus besonderen wirtschaftlichen Nutzen ziehen oder ziehen können, auch zu den Kosten ihrer Errichtung und Unterhaltung beitragen sollen. Wesentlich für den Begriff des Beitrags ist nämlich der Gedanke der angebotenen Gegenleistung, des Ausgleichs von Vorteilen und Lasten (vgl. [X.]E 137, 1 <22 Rn. 52>).

Ist die abzugeltende [X.] eingetreten, dann muss somit der Bürger damit rechnen, dass er zur Zahlung von Beiträgen herangezogen wird. Je weiter dieser Zeitpunkt zurückliegt, desto mehr verflüchtigt sich allerdings die Legitimation zur Erhebung von Beiträgen für diese [X.] (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 3. November 2021 - 1 BvL 1/19 -, Rn. 62). Sie ist ausgeschlossen, wenn (hypothetische) Festsetzungsverjährung eingetreten ist.

Daran kann auch der bloße Wechsel des [X.] nichts ändern. Die Leistung der (früheren) Kommune, hier der [X.] an die Wasser- und Abwasseranlage, hat sich durch das Aufgehen in ein größeres Verbandsgebiet nicht verändert. Damit beginnt auch die Frist für das Vertrauen nicht wieder neu zu laufen. Anderenfalls würden [X.] wegen eines immer weiter in die Vergangenheit rückenden Vorgangs letztlich doch dauerhaft im Unklaren gelassen, ob sie noch mit Belastungen rechnen müssen.

Das wäre mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und Rechtsbeständigkeit der Rechtsordnung als Garanten einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung nicht zu vereinbaren. Die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde zukünftig unverändert fortbestehen, genießt zwar, sofern keine besonderen Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten, keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz. Das diesen Grundsatz rechtfertigende Anliegen, die notwendige Flexibilität der Rechtsordnung zu wahren, zielt indes auf künftige Rechtsänderungen und relativiert nicht ohne Weiteres die Verlässlichkeit der Rechtsordnung für die Vergangenheit (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14, 1 BvR 3051/14 -, Rn. 65; Beschluss des [X.] vom 3. November 2021 - 1 BvL 1/19 -, Rn. 62).

Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf der Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Die gerichtlichen Entscheidungen sind daher nach § 93c in Verbindung mit § 95 Abs. 2 [X.] aufzuheben und die Sachen an die Verwaltungsgerichte zurückzuverweisen (vgl. [X.]E 104, 337 <356>).

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 [X.].

Meta

1 BvR 798/19, 1 BvR 2894/19

12.04.2022

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, 5. März 2019, Az: OVG 9 N 174.17, Beschluss

Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 31 BVerfGG, § 31 Abs 1 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 8 Abs 7 S 2 KAG BB vom 17.12.2003, § 12 Abs 3a KAG BB vom 02.10.2008, § 19 Abs 1 KAG BB vom 05.12.2013

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12.04.2022, Az. 1 BvR 798/19, 1 BvR 2894/19 (REWIS RS 2022, 2356)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 2356

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