Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10.05.2016, Az. 1 BvR 2322/14

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2016, 11671

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Auslagenerstattung im Verfassungsbeschwerdeverfahren nach Erledigterklärung durch den Beschwerdeführer - Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und ausnahmsweise Unzumutbarkeit der Rechtswegerschöpfung in der Hauptsache bei entgegenstehender fachgerichtlicher Rechtsprechung


Tenor

Das [X.] hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde betraf die Heranziehung der Beschwerdeführerin zu Kanalanschlussbeiträgen auf der Grundlage des Kommunalabgabengesetzes für das [X.] ([X.] Bbg).

2

1. Die Beschwerdeführerin ist Eigentümerin mehrerer Grundstücke, die bereits vor dem 3. Oktober 1990 an die [X.] im Gebiet der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Antragsgegnerin) angeschlossen wurden. Im Jahre 2013 zog die Antragsgegnerin die Beschwerdeführerin zu Kanalanschlussbeiträgen für die Grundstücke heran. Hiergegen erhob die Beschwerdeführerin Widerspruch und beantragte beim Verwaltungsgericht, die aufschiebende Wirkung der Widersprüche anzuordnen. Das Verwaltungsgericht wies die Anträge zurück. Die hiergegen erhobene Beschwerde hatte keinen Erfolg.

3

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügte die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1 sowie aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Die Beitragserhebung verletze den Grundsatz des Vertrauensschutzes und das Rückwirkungsverbot.

4

Mit Beschluss vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14, 1 BvR 3051/14 -, NVwZ 2016, [X.], gab die [X.] des [X.] des [X.] zwei gleich gelagerten [X.] statt, stellte eine Verletzung der dortigen Beschwerdeführerinnen in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG) durch die angegriffenen Entscheidungen fest, hob die Beschlüsse des [X.] auf, verwies die Sache an dieses zurück und ordnete die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerinnen durch das [X.] an.

5

Mit Urteilen vom 11. Februar 2016 - [X.] ([X.]), [X.] 1.16 -, juris, ließ das Oberverwaltungsgericht in den zurückverwiesenen Sachen die Berufung zu und hob unter Abänderung der erstinstanzlichen Urteile die Beitragsbescheide in Gestalt des jeweiligen Widerspruchsbescheids auf.

6

Daraufhin hat die Beschwerdeführerin das vorliegende Verfassungsbeschwerdeverfahren für erledigt erklärt und die Anordnung der Auslagenerstattung beantragt.

7

3. Das [X.] und Verbraucherschutz des [X.] und die Antragsgegnerin haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

8

Der Beschwerdeführerin sind ihre durch das Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

9

1. Wird eine Verfassungsbeschwerde für erledigt erklärt, so ist über sie nicht mehr zu entscheiden (vgl. [X.] 85, 109 <113>). In Fällen dieser Art ist die Kammer jedoch zur Entscheidung über die Auslagenerstattung befugt (vgl. [X.] 72, 34 <38 f.>).

Über die Erstattung der Auslagen ist nach [X.] zu entscheiden (vgl. § 34a Abs. 3 [X.]). Dabei kann insbesondere dem Grund, der zur Erledigung geführt hat, wesentliche Bedeutung zukommen. Beseitigt die öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Akt oder hilft sie der Beschwer auf andere Weise ab, so kann, falls keine anderweitigen Gründe ersichtlich sind, davon ausgegangen werden, dass sie das Begehren des Beschwerdeführers selbst für berechtigt erachtet hat. In diesem Fall ist es billig, die öffentliche Hand ohne weitere Prüfung an ihrer Auffassung festzuhalten und dem Beschwerdeführer die Erstattung seiner Auslagen in gleicher Weise zuzubilligen, wie wenn seiner Verfassungsbeschwerde stattgegeben worden wäre ([X.] 85, 109 <115>). In gleicher Weise erscheint es billig, einem Beschwerdeführer, erklärt er seine Verfassungsbeschwerde für erledigt, die Erstattung seiner notwendigen Auslagen zuzubilligen, wenn es zwar noch nicht zu einer Beseitigung der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschwer durch die öffentliche Gewalt gekommen, diese jedoch durch die verfassungsgerichtliche Entscheidung in einem anderen Verfahren hierzu gehalten ist. Auch hier greifen Bedenken im Hinblick auf die Funktion und die Tragweite der Entscheidungen des [X.] nicht Platz, im Falle einer Erledigung der Verfassungsbeschwerde über die Auslagenerstattung - analog den Regelungen in den Verfahrensordnungen für die Fachgerichte (§ 91a ZPO, § 161 Abs. 2 VwGO, § 138 Abs. 1 FGO) - aufgrund einer überschlägigen Beurteilung der Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde entscheiden und dabei zu verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen aufgrund einer lediglich kursorischen Prüfung Stellung nehmen zu müssen (vgl. [X.] 33, 247 <264 f.>); die verfassungsrechtliche Lage ist durch die Entscheidung in den anderen Verfahren bereits geklärt (vgl. [X.] 85, 109 <115 f.>; 87, 394 <397 f.>).

2. Nach vorstehenden Grundsätzen ist es im vorliegenden Fall angezeigt, die Auslagenerstattung anzuordnen. Die Verfassungsbeschwerde wäre voraussichtlich erfolgreich gewesen.

a) Die Verfassungsbeschwerde war zulässig. Der Zulässigkeit stand insbesondere nicht entgegen, dass sie gegen Entscheidungen gerichtet war, die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangen sind. Zwar reicht die formelle Erschöpfung des Rechtswegs regelmäßig dann nicht aus, wenn mit der Verfassungsbeschwerde - wie hier - ausschließlich Grundrechtsverletzungen gerügt werden, die sich auf die Hauptsache beziehen, so dass sich die Chance bietet, der verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen (vgl. [X.] 77, 381 <401>; 79, 275 <278 f.>; stRspr). Allerdings ist eine Verfassungsbeschwerde auch unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsgrundsatzes ausnahmsweise zulässig, wenn diejenigen Voraussetzungen gegeben sind, unter denen gemäß § 90 Abs. 2 Satz 2 [X.] vom Erfordernis der Rechtswegerschöpfung abgesehen werden kann (vgl. [X.] 53, 30 <53 f.>; 58, 257 <263>). Das setzt regelmäßig voraus, dass die Entscheidung von keiner weiteren tatsächlichen Aufklärung abhängt und es für den Beschwerdeführer nicht zumutbar ist, vorab das Hauptsacheverfahren zu betreiben (vgl. [X.] 69, 233 <241>; 104, 65 <71>). Dies ist der Fall, wenn eine Klage im Hinblick auf entgegenstehende Rechtsprechung der Fachgerichte von vornherein als aussichtslos erscheinen muss (vgl. [X.] 70, 180 <186>; 79, 275 <278 f.>).

So lag der Fall hier. Bis zu den Urteilen vom 11. Februar 2016 - [X.] ([X.]), [X.] 1.16 -, juris, entsprach es der ständigen Rechtsprechung des [X.] Berlin-Brandenburg, dass die Anwendung des § 8 Abs. 7 Satz 2 [X.] Bbg in der Fassung des [X.] der Kommunen von [X.] Aufgaben vom 17. Dezember 2003 ([X.]) - n.F. - in Fällen, in denen eine Veranlagung zu einem Herstellungsbeitrag gemäß § 8 Abs. 7 Satz 2 [X.] Bbg in der Fassung vom 27. Juni 1991 ([X.]) - a.F. - nicht mehr möglich gewesen wäre, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unter dem Gesichtspunkt des [X.] begegne und auch kein Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes vorliege. Die durch die Neufassung des § 8 Abs. 7 Satz 2 [X.] Bbg bewirkte Rechtsfolge, das Hinausschieben des Zeitpunkts für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht und des Verjährungsbeginns, stelle keinen rückwirkenden Eingriff in einen in der Vergangenheit abgeschlossenen Tatbestand dar, sondern knüpfe lediglich für die Zukunft neue abgabenrechtliche Folgerungen an die andauernde Vorteilslage (vgl. grundlegend [X.], Urteil vom 12. Dezember 2007 - [X.] 45.06 -, juris, Rn. 51 ff.; nachfolgend [X.], Beschluss vom 14. Juli 2008 - [X.] 9 B 22.08 -, juris; [X.], Beschluss vom 1. März 2012 - [X.] -, juris, Rn. 12 ff.; Urteil vom 23. Juli 2013 - [X.] 64.11 -, juris, Rn. 66 ff.; Urteil vom 14. November 2013 - [X.] 34.12 -, juris, Rn. 57; Beschluss vom 13. Mai 2014 - [X.] -, juris, Rn. 11; Beschluss vom 16. Juli 2014 - [X.] -, juris, Rn. 10 ff.; vgl. auch Verfassungsgericht des [X.], Beschluss vom 21. September 2012 - [X.] -, juris, Rn. 74 ff.).

Angesichts dieser gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung war es der Beschwerdeführerin bis zu den anderslautenden Entscheidungen des [X.] vom 11. Februar 2016 (vgl. [X.], Urteile vom 11. Februar 2016 - [X.] <[X.]>, [X.] 1.16 - juris, Rn. 27 bzw. Rn. 30) ausnahmsweise unzumutbar, vorab das Hauptsacheverfahren zu betreiben.

b) Die Verfassungsbeschwerde wäre auch in der Sache erfolgreich gewesen. Die verfassungsrechtliche Lage ist durch den Beschluss der [X.] des [X.] des [X.] vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14, 1 BvR 3051/14 -, NVwZ 2016, [X.], geklärt. Danach verstößt die Anwendung des § 8 Abs. 7 Satz 2 [X.] Bbg n.F. in Fällen, in denen - wie hier - Beiträge nach der ursprünglichen Fassung dieser Vorschrift nicht mehr erhoben werden könnten, gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot.

Meta

1 BvR 2322/14

10.05.2016

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Beschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, 30. Juli 2014, Az: OVG 9 S 14.14, Beschluss

§ 34a Abs 3 BVerfGG, § 90 Abs 2 BVerfGG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10.05.2016, Az. 1 BvR 2322/14 (REWIS RS 2016, 11671)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 11671

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

1 BvR 80/19, 1 BvR 81/19, 1 BvR 251/19

1 BvR 1719/17

1 BvR 911/22

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