Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 01.05.2020, Az. 1 BvR 1004/20

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2020, 2760

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

VERSAMMLUNGEN CORONAVIRUS VERSAMMLUNGSFREIHEIT CORONA-KLAGE BREMEN 1. MAI

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Gegenstand

Ablehnung eines Eilantrags im Verfassungsbeschwerdeverfahren: infektionsschutzrechtliches Verbot einer Versammlung zum 1. Mai in Bremen – Folgenabwägung – erhebliche Zahl von Gegendemonstranten zu erwarten – unzureichende Darlegungen zu alternativem Versammlungsort


Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe

1

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

2

1. Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die der Antragsteller für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. [X.] 7, 367 <371>; 134, 138 <140 Rn. 6>; stRspr). Erkennbare Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde gegen eine verwaltungsgerichtliche Eilentscheidung sind zu berücksichtigen, wenn ein Abwarten den Grundrechtsschutz mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelte (vgl. [X.] 111, 147 <153>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 24. März 2018 - 1 BvQ 18/18 -, Rn. 5; Beschluss der [X.] des [X.] vom 17. April 2020 - 1 BvQ 37/20 -, Rn. 13; Beschluss der [X.] des [X.] vom 29. April 2020 - 1 BvQ 44/20 -, Rn. 7). Bei einem offenen Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. [X.] 131, 47 <55>; 132, 195 <232>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 [X.] ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. [X.] 131, 47 <55>; 132, 195 <232>; stRspr).

3

2. Die danach hier gebotene Folgenabwägung geht zum Nachteil der Beschwerdeführerin aus.

4

Wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, sich nach Durchführung des Hauptsacheverfahrens jedoch herausstellte, dass das Verbot der von der Beschwerdeführerin am 1. Mai 2020 ab 14 Uhr geplanten Versammlung verfassungswidrig ist, wäre die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG verletzt. Diese Grundrechtsverletzung wäre von erheblichem Gewicht nicht nur im Hinblick auf die Beschwerdeführerin, der die Ausübung ihrer grundrechtlichen Freiheit in Bezug auf diese Versammlung verunmöglicht worden wäre, sondern angesichts der Bedeutung der Versammlungsfreiheit für eine freiheitliche Staatsordnung auch im Hinblick auf das [X.] Gemeinwesen insgesamt.

5

Erginge demgegenüber eine einstweilige Anordnung und würde sich später herausstellen, dass das von der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens auf § 28 Abs. 1 Satz 2 des Infektionsschutzgesetzes gestützte Verbot rechtmäßig ist, wären grundrechtlich geschützte Interessen einer großen Anzahl Dritter von hohem Gewicht betroffen. Das Verbot bezweckt mit Blick auf die aktuelle [X.] die Verhinderung von Infektionsrisiken, die nach der insoweit im verfassungsgerichtlichen Eilverfahren nicht zu beanstandenden Einschätzung der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens drohten, wenn die Versammlung wie ursprünglich geplant als Aufzug stattfände. Wegen der auch nach dem Dafürhalten des [X.] mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden großen Zahl an Demonstranten aus dem linken politischen Spektrum, die am 1. Mai 2020 entweder bereits im [X.]bereich anwesend oder über [X.] Medien schnell zu mobilisieren seien, sei mit massiven Gegendemonstrationen zu der Versammlung der Beschwerdeführerin und teils auch gewalttätig verlaufenden Auseinandersetzungen mit einer unkontrollierbaren Weiterübertragung des [X.] zu rechnen. Eine Nachverfolgung von [X.] sei in dieser Situation praktisch ausgeschlossen.

6

Bei Gegenüberstellung der danach jeweils zu erwartenden Folgen muss das Interesse der Beschwerdeführerin an der Durchführung der geplanten Versammlung gegenüber dem Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, zu dem der Staat [X.] seiner grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich verpflichtet ist (vgl. [X.] 77, 170 <214>; 85, 191 <212>; 115, 25 <44 f.>), zurücktreten. Eine andere Einschätzung der Folgenabwägung ist auch nicht insoweit gerechtfertigt, als die Beschwerdeführerin auf die Möglichkeit einer Beschränkung der Versammlung auf eine stationäre Kundgebung verweist. Zwar hat das Verwaltungsgericht eine solche stationäre Kundgebung an einem Versammlungsort, der mithilfe ausreichender Polizeikräfte und Absperrgittern abgesichert ist, bei Beachtung weiterer infektionsschutzrechtlicher Auflagen - je nach Versammlungsort - für grundsätzlich möglich gehalten. Es ist aber davon ausgegangen, dass ein solcher Ort in der [X.] von [X.] am 1. Mai 2020 nicht vorhanden und deshalb der von der Beschwerdeführerin begehrte "attraktive Versammlungsort in der Bremer [X.]" nicht zugewiesen werden könne. Gegen diese tatsächliche Einschätzung der örtlichen Verhältnisse und die Würdigung des [X.] der Beschwerdeführerin im erstinstanzlichen Ausgangsverfahren ist im verfassungsgerichtlichen Eilverfahren nichts zu erinnern. Soweit die Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht nur noch einen "freien Platz mit öffentlicher Wahrnehmung (das heißt, etwa an einer befahrenen Straße und nicht in einem Industriegebiet)" begehrt hat, ist sie der Einschätzung des [X.], dass sich in der Kürze der noch zur Verfügung stehenden [X.] ein solcher geeigneter Platz nicht finden und polizeilich absichern lasse, nicht entgegengetreten. Ihr Antrag enthält hierzu - wie auch zu der Entscheidung des [X.] im Übrigen - keinerlei Darlegungen. Solche wären indes erforderlich, um dem [X.] eine hinreichend fundierte Informationsgrundlage zu vermitteln, auf die es eine von den angegriffenen Entscheidungen abweichende Einschätzung stützen könnte (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 9. April 2020 - 1 BvQ 29/20 -, Rn. 9).

7

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1004/20

01.05.2020

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Ablehnung einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, 1. Mai 2020, Az: 1 B 137/20, Beschluss

Art 8 Abs 1 GG, Art 8 Abs 2 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 28 Abs 1 S 2 IfSG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 01.05.2020, Az. 1 BvR 1004/20 (REWIS RS 2020, 2760)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2760

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