Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 13.01.2023, Az. 1 BvR 1700/20

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2023, 378

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Nichtzulassung der Revision in einem Zivilverfahren trotz möglicher Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes in der Berufungsinstanz


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

1

[X.] ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 [X.] nicht vorliegen. Ihr kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinne des § 93a Abs. 2 Buchstabe a [X.] zu. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]), weil sie keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. [X.] 90, 22 <25 f.>).

2

Im Hinblick auf die Rüge einer Verletzung des [X.]s und von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch die versagte Zulassung der Revision trotz einer möglichen Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes in der Berufungsinstanz bleibt die Verfassungsbeschwerde ohne Erfolg.

3

1. Das aus dem [X.] folgende Gebot effektiven Rechtsschutzes beeinflusst die Auslegung und Anwendung der Bestimmungen, die für die Eröffnung eines Rechtswegs und die Beschreitung eines Instanzenzugs von Bedeutung sind. Hat der Gesetzgeber sich für die Eröffnung einer weiteren Instanz entschieden und sieht die betreffende Prozessordnung dementsprechend ein Rechtsmittel vor, darf der Zugang dazu nicht in unzumutbarer, aus [X.] nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. [X.] 74, 228 <234>; 77, 275 <284>; 104, 220 <232>; 125, 104 <137>). Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes, dem Willkürverbot und mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unvereinbar ist eine den Zugang zur Revision erschwerende Auslegung und Anwendung des hier einschlägigen § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO dann, wenn sie wegen krasser Fehlerhaftigkeit sachlich nicht zu rechtfertigen ist, sich damit als objektiv willkürlich erweist und dadurch den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar einschränkt (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 8. Dezember 2020 - 1 BvR 1173/19 -, Rn. 11). Hingegen genügt nicht bereits die nur einfachrechtlich fehlerhafte Handhabung der maßgeblichen Zulassungsvorschriften (vgl. [X.] 101, 331 <359 f.>).

4

2. Der hier angegriffene Beschluss ist nicht deshalb als objektiv willkürlich einzuordnen, weil der [X.] eine Zulassung der Revision bei Geltendmachung und Vorliegen eines [X.] nach § 547 Nr. 1 bis 4 ZPO - im Gegensatz zum hier einschlägigen § 547 Nr. 5 ZPO - für zwingend hält (vgl. [X.], Beschluss vom 24. November 2020 - [X.] 355/19 -, Rn. 16 m.w.N.). Diese Differenzierung entbehrt nicht jeder sachlichen Grundlage. Die Revisionsgründe des § 547 Nr. 1 bis 4 ZPO spiegeln [X.] wider, die vom Gesetzgeber als so schwerwiegend befunden wurden, dass sie den Erfolg einer Nichtigkeitsklage nach § 579 Abs. 1 ZPO begründen können. Der [X.] orientiert sich bei der Auslegung des § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO an dieser gesetzgeberischen Wertung (vgl. ausdrücklich [X.], Beschluss vom 24. November 2020 - [X.] 355/19 -, Rn. 18 m.w.N.).

5

3. [X.] zeigt auch nicht hinreichend substantiiert auf, dass die Anwendung des § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO durch den [X.] gegen Verfassungsrecht verstößt.

6

a) Allerdings kann bei Vorliegen schwerer Verfahrensfehler die Zulassung der Revision zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verfassungsrechtlich geboten sein (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 26. März 2001 - 1 BvR 383/00 -, Rn. 24 f.). Um dem Bedürfnis einer Korrektur schwerer Verfahrensfehler gerecht zu werden, bewerten andere Verfahrensordnungen einen Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, als Zulassungsgrund für die Revision, so in § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG und § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO; das Arbeitsgerichtsgesetz sieht in § 72 Abs. 2 Nr. 3 ArbGG ausdrücklich einen Gleichlauf zwischen der Revisionszulassung und dem Vorliegen absoluter Revisionsgründe nach § 547 Nr. 1 bis 5 ZPO vor. Ein solcher Gleichlauf besteht in der Zivilprozessordnung nicht (vgl. BTDrucks 14/4722, [X.]). Der Gesetzeswortlaut des § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO eröffnet jedoch den zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes notwendigen Auslegungsspielraum. Insbesondere erlaubt der Zulassungsgrund der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung in § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO die notwendige Korrektur einer Verletzung schwerer Verfahrensfehler in Einzelfällen (vgl. BTDrucks 14/4722, S. 104).

7

b) [X.] zeigt nicht auf, dass wegen einer etwaigen Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes in der Vorinstanz nach den konkreten Umständen des Einzelfalls die Zulassung der Revision hier verfassungsrechtlich geboten war, der [X.] die grundgesetzlichen Maßgaben also krass verkannt hätte.

8

Da der angegriffene Beschluss in verfahrensrechtlich zulässiger Weise auf eine weitergehende Begründung verzichtet, ist davon auszugehen, dass ihm das in anderen Entscheidungen des [X.]s geäußerte Verständnis zugrunde liegt, nach dem ein Verstoß gegen § 169 Abs.1 Satz 1 [X.] nicht in jedem Fall zur Zulassung der Revision führt, sondern in Abhängigkeit vom Umfang des Verstoßes und der Reaktion der Parteien (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 24. November 2020 - [X.] 355/19 -, [X.], 198 <200 Rn. 18>). Der Verfassungsbeschwerde kann nicht entnommen werden, dass die Annahme, diese Voraussetzungen seien vorliegend nicht gegeben, auf Willkür beruhen könnte. Zwar hebt die Verfassungsbeschwerde allgemein das Gewicht und den Wert des Prinzips der Öffentlichkeit mündlicher Gerichtsverhandlungen hervor, setzt dies aber nicht in Beziehung zum konkreten Vorgang in der Vorinstanz.

9

Im Übrigen genügt die Verfassungsbeschwerde nicht den Begründungsanforderungen, die aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] folgen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1700/20

13.01.2023

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BGH, 9. Juni 2020, Az: VI ZR 266/19, Beschluss

Art 3 Abs 1 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 169 Abs 1 S 1 GVG, § 543 Abs 2 S 1 ZPO, § 547 Nr 5 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 13.01.2023, Az. 1 BvR 1700/20 (REWIS RS 2023, 378)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 378

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

1 BvR 2952/08 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Anforderungen des Justizgewährungsanspruchs (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 …


1 BvR 453/17 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Aussicht auf Klärung einer Rechtsfrage in einem anderen zivilprozessualen Revisionsverfahren lässt das Allgemeininteresse …


1 BvR 2954/08 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Parallelentscheidung


1 BvR 3237/08 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Parallelentscheidung


1 BvR 3240/08 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Parallelentscheidung


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

1 BvR 1173/19

XI ZR 355/19

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.