Bundessozialgericht, Beschluss vom 17.05.2019, Az. B 2 U 131/18 B

2. Senat | REWIS RS 2019, 7163

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - revisionsrechtliche Überprüfbarkeit - Berufskrankheit gem BKV Anl 1 Nr 2108 - allgemeine (generelle) Tatsachen - aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand - keine Bindungswirkung: offensichtlich falscher medizinischer Erfahrungssatz - eigenständige kritische Würdigung durch das Revisionsgericht


Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des [X.] vom 17. Mai 2018 wird als unzulässig verworfen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe

1

I. Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung einer Berufskrankheit ([X.]) nach [X.] 2108 und 2110 der Anlage 1 zur [X.] ([X.]V vom 31.10.1997, [X.] 2623; in Zukunft [X.] 2108 und [X.] 2110) streitig.

2

Die Beklagte hat die Anerkennung einer [X.] 2109 und 2108/2110 abgelehnt (Bescheid vom 29.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom [X.]). Das [X.] hat diese Bescheide abgeändert und die Beklagte verpflichtet, die [X.] 2108 und [X.] 2110 anzuerkennen und im Übrigen die Klage auf Anerkennung der [X.] 2109 abgewiesen (Gerichtsbescheid vom [X.]). Das L[X.] hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 17.5.2018). Zur Begründung hat es [X.] ausgeführt, bei dem Kläger liege eine ausreichende berufliche Belastung und eine bandscheibenbedingte Erkrankung mit korrelierender klinischer Symptomatik vor. Der Kausalzusammenhang zwischen den gefährdenden Einwirkungen während der beruflichen Tätigkeit des [X.] und seiner bandscheibenbedingten Erkrankung sei hinreichend wahrscheinlich, denn es bestehe eine Konstellation [X.] bzw [X.] im Sinne der sog Konsensempfehlungen (U. Bolm-Audorff et al, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma und Berufskrankheit 2005/3, [X.], 216 ff, 222 ff, im Folgenden Konsensempfehlungen). Das erste erforderliche Zusatzkriterium der [X.]-Konstellation - eine Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben - liege bei dem Kläger vor. Soweit die Beklagte die Auffassung vertrete, mit der Formulierung "mehrere Bandscheiben" seien mehr als zwei, also mindestens drei gemeint, sei dieser Auffassung nicht zu folgen. Der Mitautor der Konsensempfehlungen Bolm-Audorff habe ausgeführt, dass mit "mehreren" mindestens zwei Bandscheibensegmente gemeint seien. Dem entsprechend halte auch der Sachverständige Dr. W. die Höhenminderung an den beiden unteren Lendenwirbelsäulensegmenten des [X.] mit Prolaps für ausreichend, um das Zusatzkriterium der Konstellation [X.] und damit den Kausalzusammenhang bejahen zu können.

3

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des L[X.] macht die Beklagte die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 160 Abs 2 [X.] 1 [X.]G geltend. Sie formuliert die grundsätzlich klärungsbedürftige Rechtsfrage wie folgt:

                 
        

"Kann der für die Bejahung von [X.]en nach der [X.]. 2108 bzw. [X.]. 2110 Anlage 1 [X.]V erforderliche Zusammenhang zwischen bandscheibenbedingter Erkrankung und ausreichend belastender beruflicher Tätigkeit in der Befundkonstellation [X.] der Konsensempfehlungen wegen Erfüllung des [X.], 1. Alternative, die eine Höhenminderung und/oder einen Prolaps an mehreren Bandscheiben der LWS voraussetzt, bereits dann angenommen werden, wenn insgesamt Veränderungen an nur zwei Bandscheiben der Lendenwirbelsäule (bisegmentaler Befund) vorhanden sind, oder verlangt die Befundkonstellation "B", die an sich bereits zumindest einen monosegmentalen Schaden der Bandscheibe L5/[X.] oder [X.]/L5 voraussetzt, in Kombination mit dem [X.], 1. Alternative, welche Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben fordert, dass insgesamt mindestens drei Segmente vom Schadensbild erfasst werden?"

4

II. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in der angefochtenen Entscheidung des L[X.] ist unzulässig. Die Beklagte hat entgegen § 160a Abs 2 [X.] [X.]G den von ihr geltend gemachten Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache iS des § 160 Abs 2 [X.] 1 [X.]G nicht in der gebotenen Weise dargelegt.

5

Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine konkrete Rechtsfrage zu einer Norm des Bundesrechts aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - allgemeine Bedeutung hat und einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. In der Beschwerdebegründung muss daher angegeben werden, welche rechtliche Frage sich zu einer bestimmten Vorschrift des Bundesrechts iS des § 162 [X.]G stellt. Sodann ist unter Auswertung der Rechtsprechung insbesondere des B[X.] darzulegen, dass diese Rechtsfrage klärungsbedürftig, dh höchstrichterlich nicht geklärt, und im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist (vgl B[X.] [X.] 1500 § 160 [X.] 17 und § 160a [X.] 7, 11, 13, 31, 39, 59 und 65; B[X.] vom 30.8.2016 - B 2 U 40/16 B - [X.] 4-1500 § 183 [X.] 12; B[X.] vom [X.] - [X.] Aktuell 2012, 755; zur Verfassungsmäßigkeit dieser Anforderungen vgl zB [X.] vom 14.4.2010 - 1 BvR 2856/07 - [X.] 4-1500 § 160a [X.] 24). Schließlich ist auch aufzuzeigen, dass die Rechtssache über den Einzelfall hinaus von allgemeiner Bedeutung ist (vgl B[X.] vom [X.] R 334/11 B - NZS 2012, 428 mwN). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.

6

Es kann dahinstehen, ob die Beklagte bereits hinreichend klar eine konkrete Rechtsfrage zur Auslegung und zum Anwendungsbereich einer revisiblen Norm des Bundesrechts formuliert hat. Ebenso kann dahinstehen, ob sie in der erforderlichen Art und Weise dargelegt hat, dass die aufgeworfene Frage klärungsbedürftig ist. Jedenfalls fehlt es an der erforderlichen Darlegung der Klärungsfähigkeit dieser Frage. Die Beklagte zeigt nicht hinreichend auf, dass und aus welchen Gründen das B[X.] im vorliegenden Verfahren in der Lage sein könnte, die gestellte Frage zu beantworten.

7

Bei der von der Beklagten formulierten Frage, ob der erforderliche Zusammenhang zwischen bandscheibenbedingter Erkrankung und ausreichend belastender beruflicher Tätigkeit in der Befundkonstellation [X.] der Konsensempfehlungen wegen Erfüllung des [X.], 1. Alternative, eine Höhenminderung und/oder einen Prolaps an zwei oder an mehreren Bandscheiben der LWS voraussetzt, handelt es sich um eine Frage zu einem wissenschaftlichen Erfahrungssatz. Der Senat hat hierzu in ständiger Rechtsprechung (vgl B[X.] vom [X.] U 10/14 R - B[X.]E 118, 255 = [X.] 4-5671 Anl 1 [X.] 2108 [X.] 6 mwN; vgl nun auch B[X.] vom 6.9.2018 - B 2 U 13/17 R - zur Veröffentlichung in [X.] 4 vorgesehen) entschieden, dass die die einzelnen Tatbestandsmerkmale der jeweiligen [X.] unterfütternden allgemeinen (generellen) Tatsachen, die für alle einschlägigen [X.]-Fälle gleichermaßen von Bedeutung sind, anhand des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands auch revisionsrechtlich überprüft werden können. Eine Bindung an die tatsächlichen Feststellungen des L[X.] (§ 163 [X.]G) besteht nicht, wenn das L[X.] von einem offenkundig falschen medizinischen Erfahrungssatz ausgegangen ist. Denn jedenfalls im Bereich des Rechts der [X.]en hat das B[X.] aufgrund der in den Normtexten der jeweiligen [X.]en in der Anlage zur [X.]V regelmäßig vertypisierten wissenschaftlichen Aussagen die Existenz der einschlägigen Erfahrungssätze selbst festzustellen und zB auch die Konsensempfehlungen eigenständig kritisch zu würdigen und auf ihre Akt[X.]lität hin - ggf durch Sachverständige - zu überprüfen. Es bleibt mithin revisionsrechtlich der [X.] überprüfbar, ob das L[X.] nach allgemeinem Verständnis den von ihm festgestellten Sachverhalt (noch) vertretbar den in den Konsensempfehlungen aufgeführten Kategorien zugeordnet hat.

8

Für eine hinreichende Darlegung der Klärungsfähigkeit der Rechtsfrage hätte die Beklagte deshalb ausführen müssen, warum der von dem L[X.] hier zugrunde gelegte wissenschaftliche Erfahrungssatz einer revisionsrechtlichen Überprüfung zugänglich gewesen sein könnte. Hieran fehlt es. Zwar legt die Beklagte dar, dass die L[X.]e der Bundesländer die Frage, welcher wissenschaftliche Erfahrungssatz der in den Konsensempfehlungen verwendeten Formulierung "an mehreren Bandscheiben" zugrunde liegt, unterschiedlich beantwortet haben. Diese Divergenz der Rechtsprechung der Instanzgerichte genügt jedoch nicht, um die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 [X.] 1 [X.]G zu begründen. Die Beschwerde hätte vielmehr aufzeigen müssen, dass das B[X.] hier aufgrund spezifischer, ggf neuer Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft selbst zu der Prüfung der Frage befugt und in der Lage gewesen wäre, welcher wissenschaftliche Erkenntnissatz der "richtige" ist. Hierzu trägt die Beschwerde nichts vor. Der Senat ist sich bewusst, dass durch diese revisionsrechtliche Akzeptanz unterschiedlicher Erfahrungssätze bei durchaus kontroversem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur [X.] 2108 die Gefahr besteht, dass Tatsachengerichte zur Feststellung unterschiedlicher Erfahrungssätze gelangen können, die dann jeweils revisionsrechtlich - in den aufgezeigten Grenzen - akzeptiert werden müssten. Dieses Ergebnis ist jedoch zum einen die logische Folge der den Gerichten nur eingeschränkt eröffneten Möglichkeiten, sich den tatsächlichen aktuellen medizinischen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu verschaffen. Die damit verbundene Rechtsunsicherheit ist aber zum anderen zumindest partiell auch Folge des Normtatbestands der [X.] 2108, dessen Reform der Senat bereits mehrfach angemahnt hat (vgl zum Ganzen B[X.] vom [X.] U 10/14 R - B[X.]E 118, 255 = [X.] 4-5671 Anl 1 [X.] 2108 [X.] 6 mwN; vgl nunmehr auch B[X.] vom 6.9.2018 - B 2 U 13/17 R - zur Veröffentlichung in [X.] 4 vorgesehen).

9

Die Beschwerde ist daher ohne Hinzuziehung [X.] durch Beschluss zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 [X.]G). Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 [X.]G; zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer solchen Verfahrensweise vgl [X.] vom 8.12.2010 - 1 BvR 1382/10 - NJW 2011, 1497).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 Abs 1 [X.]G.

Meta

B 2 U 131/18 B

17.05.2019

Bundessozialgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: U

vorgehend SG Chemnitz, 26. Februar 2015, Az: S 4 U 81/13, Gerichtsbescheid

§ 163 SGG, Anl 1 Nr 2108 BKV

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 17.05.2019, Az. B 2 U 131/18 B (REWIS RS 2019, 7163)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 7163

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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1 BvR 2856/07

1 BvR 1382/10

2 U 40/16

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