BT-Drucksache 17/9190

Umfassende Teilhabe am Sport für Menschen mit Behinderungen ermöglichen - UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen

Vom 28. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9190
17. Wahlperiode 28. 03. 2012

Antrag
der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, Herbert Behrens, Karin Binder, Matthias W. Birkwald, Heidrun Bluhm,
Steffen Bockhahn, Dr. Martina Bunge, Roland Claus, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst,
Diana Golze, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Caren Lay, Sabine Leidig, Michael
Leutert, Dr. Gesine Lötzsch, Thomas Lutze, Cornelia Möhring, Kornelia Möller,
Jens Petermann, Yvonne Ploetz, Ingrid Remmers, Kathrin Senger-Schäfer, Kersten
Steinke, Sabine Stüber, Alexander Süßmair, Frank Tempel, Kathrin Vogler, Harald
Weinberg, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Umfassende Teilhabe am Sport für Menschen mit Behinderung ermöglichen –
UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Behindertensport hat in Deutschland eine lange Tradition. Gerade in den
letzten Jahren erlebte er einen rasanten Aufschwung. Dies wird insbesondere
durch den Anstieg der Mitgliederzahlen in den Sportvereinen deutlich. Der mit
seiner 20-jährigen Geschichte noch relative junge Verein Special Olympics
Deutschland e. V. zählt bereits heute etwa 40 000 Mitglieder und bietet Men-
schen mit sogenannter geistiger Behinderung die Möglichkeit, Sport zu treiben
und an Wettkämpfen teilzunehmen. Auch der Deutsche Gehörlosen-Sportver-
band e. V., der 1947 in dieser Form gegründet wurde, zählt heute etwa 11 000
Mitglieder in 149 Vereinen. Mit rund 600 000 Mitgliedern in über 5 600 Verei-
nen gehört der Deutsche Behindertensportverband e. V. (DBS), der 2011 sein
60-jähriges Jubiläum feierte, zu den größten Sportvereinigungen für Menschen
mit Behinderung. Hinzu kommen Menschen mit Behinderung, die in allgemei-
nen Sportvereinen oder nicht organisiert regelmäßig Sport treiben. Die genann-
ten Zahlen belegen eindrucksvoll die herausragende Bedeutung der Verbände
für den Breitensport. Auch im Spitzensport kann Deutschland großartige Er-
folge von Menschen mit Behinderung verzeichnen. Bei den Paralympischen
Winterspielen 2010 in Vancouver beispielsweise belegte das deutsche Team mit
insgesamt 24 Medaillen, darunter 13-mal Gold, den ersten Platz im Medaillen-
spiegel.

Diese positive Entwicklung darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass im

Bereich des Behindertensports enormer Handlungsbedarf besteht. Im Vergleich
zu Menschen ohne Behinderung betreiben Menschen mit Behinderung prozen-
tual weniger Sport. Dies hat Ursachen. Viele Sportstätten und auch kommer-
zielle Sportangebote, wie z. B. Fitnessstudios in Deutschland, sind nicht barrie-
refrei oder die Erreichbarkeit ist für Menschen mit Behinderung nicht gegeben.
Es gibt viel zu wenige (hauptamtliche) Trainerinnen und Trainer sowie Betreu-
erinnen und Betreuer, insbesondere für erwachsene Behindertensportlerinnen

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und -sportler. Außerdem haben viele Trainerinnen und Trainer nicht die erfor-
derliche Qualifikation, um Menschen mit Behinderung zu trainieren. Bei Kin-
dern und Jugendlichen mit Behinderung wird in vielen Fällen pauschal eine
Sportbefreiung erteilt, anstatt in Schule, Berufsschule und Hochschule geeignete
Sportangebote zu entwickeln und anzubieten. Gering ist auch die Bereitschaft
von Wirtschaftsunternehmen zur Beschäftigung von Athletinnen und Athleten
mit Behinderung inklusive Freistellungsregelungen für das (tägliche) Training,
für Trainingslager und Wettkämpfe. Zugangshindernisse zum Behindertensport
gibt es auch aus finanziellen Gründen. Häufig ist Sport für Menschen mit Behin-
derung mit erheblichen Kosten verbunden, die zum Beispiel durch teure Aus-
stattung wie Prothesen, Sportrollstühle und andere spezielle Sportgeräte, ein-
geschränkte Mobilität und damit verbundene Aufwendungen für Fahrdienste
oder die Notwendigkeit von Betreuern oder Betreuerinnen entstehen. Deutlich
schwieriger ist für den Spitzensport auch die Vereinbarkeit von Sport mit der
Ausbildung und der beruflichen Entwicklung. Von den staatlichen Förderein-
richtungen von Bundespolizei, Zoll und Bundeswehr werden derzeit bis zu
1 044 Sportförderstellen bereitgestellt. Für Menschen mit Behinderung gibt es
hingegen lediglich zehn Förderplätze in einem ressortübergreifenden zentralen
Stellenpool sowie zwei Stellen für zivile Mitarbeiter bei der Bundeswehr. Bisher
enthalten die Aufnahmekriterien der Fachhochschule des Bundes keine Sonder-
regelungen für Spitzensportlerinnen und Spitzensportler mit Behinderung. Nicht
alle Olympiastützpunkte sind barrierefrei, auch stehen sie und die dort angebo-
tene Serviceleistung Laufbahnberatung nur A- und B-Kaderathleten des DBS,
aber nicht C-Kadern zur Verfügung. Hinzu kommt, dass der Behindertensport
weniger attraktiv für Sponsoren ist und Medaillenprämien bei Paralympischen
Spielen deutlich niedriger sind als bei Olympischen Spielen der nichtbehinder-
ten Athletinnen und Athleten. Eigentlich sieht das Leistungssportprogramm der
Bundesregierung die grundsätzliche Gleichbehandlung von nichtbehinderten
und behinderten Sportlerinnen und Sportlern vor. Dies führt jedoch zu einer Ver-
festigung der Ungleichbehandlung, da die Voraussetzungen im Behinderten-
sport andere sind. Reale Gleichbehandlung wird nur erreicht, wenn die Förde-
rung an die tatsächlichen Bedingungen angepasst wird.

Der Behindertensport trägt zum Wohlbefinden, zur Teilhabe sowie zur Gesun-
dung und Gesunderhaltung von Menschen mit Behinderung bei. Entsprechende
Angebote wie z. B. Rehabilitationssport werden derzeit von den Krankenkassen,
den Rentenversicherungsträgern und den Unfallversicherungen finanziert. Dies
kann zu Zuordnungsproblemen, insbesondere bei der Finanzierung, führen. Oft
wird angeführt, dass die Teilnahme von Menschen mit Behinderung an Sportan-
geboten für Menschen ohne Behinderung ohne Probleme möglich ist und an ihre
Beteiligung „mitgedacht“ wird. Leider findet dieses „Mitdenken“ nicht ausrei-
chend statt und so ist die Inklusion der Menschen mit Behinderung nicht ge-
währleistet.

Seit dem 26. März 2009 gilt die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) in
Deutschland. Das Leitbild der BRK ist eine inklusive Gesellschaft. Inklusion be-
deutet eine umfassende und gleichberechtigte Teilhabe sowie selbstbestimmte
Lebensführung von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen.
Durch die BRK ist der Bund – gemeinsam mit Ländern und Kommunen – ver-
pflichtet, Menschen mit Behinderung gleichberechtigt mit anderen die Teilhabe
an Sportaktivitäten zu ermöglichen (siehe unter anderem Artikel 30 „Teilhabe
am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport“). Dies betrifft den
Schul-, Berufsschul- und Hochschulsport, den Breiten- und Leistungssport, den
Rehabilitationssport, die Teilhabe in Verbänden des Behindertensports ebenso
wie die aktive (als Sportlerin und Sportler) und passive Teilhabe (als Zuschaue-
rin und Zuschauer) an Sportangeboten außerhalb des Behindertensports sowie in

Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Bei der Umsetzung der BRK sind
die verschiedenen Verbände von Menschen mit Behinderung aktiv in alle Ent-

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scheidungsprozesse einzubinden. Am 15. Juni 2011 wurde der Nationale Ak-
tionsplan zur Umsetzung der BRK beschlossen. Dieser Plan ist zwar ein erster
Schritt der Bundesregierung, zur Erreichung der Ziele der BRK jedoch nicht
ausreichend.

Um eine umfassende Teilhabe zu ermöglichen, müssen im Sport noch viele Bar-
rieren abgebaut werden. Diese gibt es sowohl im infrastrukturellen und bauli-
chen Bereich als auch in den Köpfen vieler Bürgerinnen und Bürger. Neben der
staatlichen Verpflichtung, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, handelt es sich
hier um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die UN-Behindertenrechtskonvention auch im Bereich des Sports konse-
quent umzusetzen,

2. den Nationalen Aktionsplan aufgrund der vertieften Debatte mit den einzel-
nen Akteuren, besonders den Behindertensportverbänden, weiterzuent-
wickeln und mit konkreten Maßnahmen zu ergänzen, dabei sollen auch
Nah-, Mittel- und Fernziele benannt werden,

3. bis Ende 2012 einen Bericht vorzulegen, aus dem sich der Zustand der
durch den Bund geförderten bzw. betriebenen Sportanlagen in Bezug auf
Barrierefreiheit, sowohl der Sportstätte selbst als auch deren Erreichbarkeit,
ergibt und ein Maßnahmenpaket zur Schaffung umfassender Barrierefrei-
heit zu beschließen,

4. bis Ende 2012 einen Bericht zur personellen Ausstattung im Behinderten-
leistungssport, insbesondere mit Trainerinnen und Trainern, vorzulegen und
ein Maßnahmenpaket zur Schaffung einer qualitativ und quantitativ ange-
messenen Personalausstattung und -entwicklung zu beschließen,

5. Sportangebote, die von den Krankenkassen, Rentenversicherungsträgern
oder Unfallkassen finanziert werden, so auszugestalten, damit Menschen
mit Behinderung einbezogen werden,

6. ein bundesweites Sportstättensanierungsprogramm aufzulegen, bei dem,
neben sozialen, ökologischen sowie geschlechtsbezogenen Kriterien, insbe-
sondere Erfordernisse der Barrierefreiheit berücksichtigt werden,

7. das Leistungssportprogramm der Bundesregierung, einschließlich der Pro-
gramme zur Förderung von dualen Karrieren, zu ändern und die Kriterien
der Förderung an die speziellen Bedürfnisse anzupassen, um eine Gleichbe-
handlung zu erreichen,

8. Maßnahmen zu entwickeln, um Möglichkeiten der dualen Karriere für
Sportlerinnen und Sportler mit Behinderung weiter zu verbessern und ins-
besondere flächendeckend Angebote für die Ausübung verschiedener Be-
rufe zu schaffen,

9. den ressortübergreifenden Stellenpool der Bundesbehörden zu erweitern
und das Angebot an öffentlichen Stellen, für Menschen mit Behinderung
auszubauen,

10. die Olympiastützpunkte konzeptionell und baulich so anzupassen, dass sie
auch für Sportlerinnen und Sportler mit Behinderung, einschließlich C-Ka-
der, uneingeschränkt zugänglich sind,

11. den Breitensport insgesamt stärker bei der Förderung zu berücksichtigen,
insbesondere bei den Menschen, denen aufgrund ihrer individuellen Behin-
derung der Zugang zum klassische Leistungssport verschlossen ist (zum

Beispiel Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung),

Drucksache 17/9190 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
12. sich dafür einzusetzen, dass für den Schul-, Berufsschul- und Hochschul-
sport inklusive Konzepte entwickelt und umgesetzt werden, so dass Schü-
lerinnen und Schüler bzw. Studentinnen und Studenten mit und ohne Behin-
derung gemeinsam Sport treiben können,

13. Maßnahmen und Projekte zur Talentfindung und -förderung zu entwickeln
bzw. zu unterstützen, um Menschen mit Behinderung Sport im Breiten-
oder Leistungssportbereich als Möglichkeit der Lebensgestaltung nahezu-
bringen (zum Beispiel durch Information der Eltern, differenzierte Ange-
bote in Schulen, Schulwettbewerbe sowie Aufklärung der Medizinerinnen
und Mediziner),

14. sich dafür einzusetzen, dass Menschen mit Behinderung ein selbstbestimm-
tes Wahlrecht in Bezug auf ihre konkrete Sportausübung haben und entspre-
chende Sportangebote stärker gefördert werden,

15. sich dafür einzusetzen, dass der Umgang mit Menschen mit Behinderung
verpflichtender Bestandteil von Lehramtsstudiengängen, pädagogischen
sowie Trainerinnen- und Trainerausbildungen wird, damit die künftigen
Lehrerinnen und Lehrer sowie Pädagoginnen und Pädagogen bereits früh-
zeitig mit der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung konfron-
tiert werden und in der Lage sind, inklusiven Sport anzubieten,

16. internationale Begegnungen zwischen Sportlerinnen und Sportlern mit Be-
hinderung in Form von Wettkämpfen, Erfahrungsaustausch und Trainings-
lagern innerhalb der Europäischen Union (EU) und darüber hinaus zu
fördern und diesbezüglich auch innerhalb der europäischen Sportminister-
konferenz entsprechende Initiativen zu entwickeln,

17. sich gemeinsam mit dem Allgemeinen Deutschen Hochschulverband e. V.
dafür einzusetzen, dass Studentinnen und Studenten mit Behinderung bei
internationalen Meisterschaften und Universiaden vom Weltverband FISU
(Fédération Internationale du Sport Universitaire) eine Startberechtigung
erhalten,

18. ehrenamtliches Engagement im Sportverein von Menschen mit Behinde-
rung und die Selbsthilfe stärker zu unterstützen,

19. sich bei den öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Rundfunkanstalten dafür
einzusetzen, dass der Behindertensport bei den Paralympischen Spielen so-
wie anderen internationalen und nationalen Sportereignissen (etwa bei
Sportveranstaltungen von Special Olympics Deutschland e. V. und Sport-
verbänden anderer Behindertengruppen) in der Berichterstattung angemes-
sen, insbesondere in sportbezogenen Sendeformaten, berücksichtigt wird,

20. die Bedeutung des Sports von und für Menschen mit Behinderung in der Öf-
fentlichkeit stärker zu würdigen und so zu einem Bewusstseinswandel in
der Gesellschaft beizutragen,

21. in der künftigen Finanzplanung des Bundes Haushaltsmittel in angemes-
sener Höhe für die Umsetzung der Maßnahmen bereitzustellen.

Berlin, den 28. März 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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