Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 21.09.2023, Az. 2 BvR 825/23

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2023, 6558

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

STRAFRECHT BUNDESVERFASSUNGSGERICHT (BVERFG) HAFT RECHTSSTAAT UNSCHULDSVERMUTUNG RECHTSSCHUTZ STRAFPROZESS

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz durch überlange Dauer eines Haftprüfungsverfahrens - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

Es wird festgestellt, dass die überlange Dauer des [X.] vor dem [X.] - 1 [X.] - den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) verletzt.

Das [X.] hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 Euro (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein gerichtliches Untätigbleiben im besonderen Haftprüfungsverfahren gemäß §§ 121, 122 [X.]. Das [X.] hat erst am 26. Juni 2023 eine Entscheidung über die [X.] getroffen, obwohl sich der Beschwerdeführer seit dem 30. Juni 2022 in Untersuchungshaft befindet und dem Gericht die Akten vor Ablauf der Sechsmonatsfrist vorgelegt worden sind.

2

1. Der Beschwerdeführer geriet in den Verdacht diverser [X.]. Im Februar 2021 leitete die Staatsanwaltschaft [X.] ein Ermittlungsverfahren gegen ihn ein. Nach umfangreichen Ermittlungen erließ das Amtsgericht [X.] am 14. Juni 2022 auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl. Außerdem ergingen Haftbefehle gegen zwei Tatgenossen des Beschwerdeführers. Am 30. Juni 2022 wurden der Beschwerdeführer und die beiden Tatgenossen verhaftet und die Haftbefehle in Vollzug gesetzt. Seither befindet sich der Beschwerdeführer ununterbrochen in Untersuchungshaft.

3

2. Mit Verfügung vom 13. Dezember 2022 übersandte die Staatsanwaltschaft die Akten über das Amtsgericht [X.] und die Generalstaatsanwaltschaft [X.] an das [X.] zum Zwecke der besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 [X.] und beantragte die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer und die beiden Tatgenossen. Die Übersendungsverfügung der Generalstaatsanwaltschaft datiert vom 27. Dezember 2022. Mit Schreiben vom 9. Januar 2023 nahm der Beschwerdeführer gegenüber dem [X.] zur Übersendungsverfügung der Generalstaatsanwaltschaft Stellung und beantragte die Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung unter Auflagen.

4

3. Mit Schreiben vom 29. März 2023 bat der Beschwerdeführer das [X.] um Mitteilung, bis wann mit einer Entscheidung über seine Untersuchungshaft zu rechnen sei.

5

Das [X.] teilte mit Schreiben vom Folgetag mit, dass der Berichterstatter längerfristig krankheitsbedingt verhindert sei. Der Unterzeichnerin liege das Verfahren seit dem 24. März 2023 zur Bearbeitung in Vertretung vor. Angesichts eigener vorrangig zu [X.] und anstehenden Urlaubs sei derzeit nicht absehbar, wann eine Entscheidung ergehen werde.

6

Die am 16. Juni 2023 beim [X.] eingegangene Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Nichtentscheidung des [X.]s [X.] im gesetzlichen Haftprüfungsverfahren. Zudem hat sich der Beschwerdeführer zunächst gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts [X.] vom 14. Juni 2022 gewandt, dessen Aufhebung er beantragt hat. Weiter hat er die Verfassungsbeschwerde mit dem Antrag verbunden, im Wege der einstweiligen Anordnung den Haftbefehl aufzuheben. Er rügt die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 19 Abs. 4 [X.].

7

Die andauernde Untätigkeit des [X.]s, eine Entscheidung im Rahmen des [X.] gemäß §§ 121, 122 [X.] zu treffen, verletze ihn in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 [X.]. Die [X.] vor dem [X.] sei eine zentrale verfahrensrechtliche Vorgabe, die dem Schutz des [X.]s diene und das Grundrecht durch strikte Anforderungen an das Verfahren schütze. Die Ausführungen des [X.]s im Schreiben vom 30. März 2023 ließen erkennen, dass das Gericht nicht nur die Notwendigkeit der Einhaltung der Sechsmonatsfrist an sich, sondern auch die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs verkenne, indem es offenbar davon ausgehe, Krankheit, Urlaub und andere vordringlich zu bearbeitende [X.] seien zur Rechtfertigung der Verfahrensverzögerung geeignet.

8

Weiter verletze ihn die andauernde Untätigkeit des [X.]s in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 [X.] auf Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes. Art. 19 Abs. 4 [X.] fordere, dass Rechtsschutz innerhalb angemessener [X.] gewährt werde. Die Effektivität des Rechtswegs im gesetzlichen Haftprüfungsverfahren sei bereits unmittelbar verletzt, wenn das vorgesehene Verfahren gemäß § 121 Abs. 2 [X.] nicht beachtet werde. Sei eine Fortdauerentscheidung nach sechs Monaten der Untersuchungshaft ordnungsgemäß erfolgt, ordne § 122 Abs. 4 Satz 2 [X.] eine erneute Prüfung unter erhöhtem [X.] nach weiteren drei Monaten an. Durch das Ruhen der Sechsmonatsfrist bis zur Entscheidung des [X.]s gemäß § 121 Abs. 3 Satz 1 [X.] werde der Anlauf einer neuen Frist verhindert. Dadurch werde ihm die Möglichkeit der gesetzlich vorgesehenen Neun- und der bei Einhalten der Verfahrensvorschriften bereits am 30. Juni 2023 anstehenden Zwölfmonatsprüfung genommen.

9

1. Das [X.] hat nach Zustellung der Verfassungsbeschwerde mit Beschluss vom 26. Juni 2023 die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer und seine Tatgenossen angeordnet.

2. a) Mit Schreiben vom 28. Juni 2023 hat das [X.] zur Verfassungsbeschwerde Stellung genommen. Der zuständige 1. Strafsenat des [X.]s sei durch die seit November 2022 währende, sich als langfristig herausstellende Erkrankung eines Beisitzers sowie die Erkrankung des Vorsitzenden vom 24. März 2023 bis 25. April 2023 erheblich belastet. Der ebenfalls mit [X.] befasste 2. Strafsenat sei wegen der längerfristigen nur teilweisen Dienstfähigkeit des dortigen Vorsitzenden nicht zur Entlastung des 1. Strafsenats in der Lage. Unter dem 25. Januar 2023 habe der Vorsitzende des 1. Strafsenats Überlastung angezeigt. Das Präsidium des [X.]s habe daraufhin in seiner Sitzung vom 30. Januar 2023 beschlossen, dass zum 1. März 2023 vorübergehend eine zusätzliche Abordnungsstelle eingerichtet und dem 1. Strafsenat zugewiesen werde. Außerdem habe das Präsidium in seiner Sitzung vom 22. Mai 2023 dem 1. Strafsenat mit Wirkung zum 23. Mai 2023 weitere 0,25 Arbeitskraftanteile zugewiesen. Der eingangs erwähnte Beisitzer des 1. Strafsenats sei bis zum heutigen Tage erkrankt. Zudem sei eine weitere Beisitzerin im [X.]raum vom 8. Mai 2023 bis zum 2. Juni 2023 erkrankt gewesen, was zu einer massiven zusätzlichen Belastung des 1. Strafsenats geführt habe.

b) Der [X.] beim [X.] hat sich mit Zuschrift vom 28. Juni 2023 zum Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung geäußert. Dieser stelle sich aufgrund der inzwischen vorliegenden Entscheidung des [X.]s als überholt dar und könne nicht auf ein etwaig fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer verfassungsrechtlichen Überprüfung gestützt werden. Deshalb könne dahinstehen, ob der Haftbefehl des Amtsgerichts vom 14. Juni 2022 überhaupt als tauglicher Beschwerdegegenstand in Betracht komme und ob sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel einer Aufhebung dieses Haftbefehls auch deshalb als unzulässig darstellen könnte, weil damit nicht nur die Vorwegnahme der Hauptsache - die zeitnahe Herbeiführung einer Entscheidung des [X.]s - sondern ein darüberhinausgehendes Ziel verfolgt worden sei.

c) Das [X.] hat über die [X.] Staatskanzlei mit Schreiben vom 29. Juni 2023 mitgeteilt, dass ihm keine Hinweise auf Bearbeitungsrückstände oder -verzögerungen in dem betroffenen Senat vorlägen. Das [X.] arbeite mit Hochdruck an einer angemessenen personellen Ausstattung des [X.]s insgesamt. Der konkrete Einsatz der personellen Verstärkung obliege dem Präsidium des Gerichts und sei seitens des [X.] nicht steuerbar. Mit Schreiben vom 10. Juli 2023 teilte das [X.] ergänzend mit, dass es sich der Stellungnahme des [X.]s beim [X.] anschließe.

d) Die Generalstaatsanwaltschaft [X.] hat mit Schreiben vom 28. Juni 2023 auf die Abgabe einer Stellungnahme verzichtet.

Mit Schriftsatz vom 24. Juli 2023 hat der Beschwerdeführer den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung aufgrund des [X.]beschlusses vom 26. Juni 2023 für erledigt erklärt und zurückgenommen. Die Verfassungsbeschwerde hat er mit der Maßgabe aufrechterhalten, festzustellen, dass ihn die Nichtentscheidung des [X.]s bis zum 26. Juni 2023 in seinem Grundrecht auf Freiheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 [X.] und auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 [X.] verletzt habe.

Es bestehe weiterhin ein Rechtsschutzbedürfnis. Eine Erledigung führe nicht zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde, wenn das verfassungsgerichtliche Verfahren dazu dienen könne, einer drohenden Wiederholungsgefahr zu begegnen, eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff zu beseitigen, oder wenn ein tiefgreifender Grundrechtseingriff vorliege. Hier bestehe Wiederholungsgefahr. Entsprechend dem Beschluss des [X.]s vom 26. Juni 2023 finde die nächste Haftprüfung am 26. September 2023 statt. Es bestehe die dringende Besorgnis, dass es erneut zu einer monatelang andauernden Nichtentscheidung des [X.]s kommen werde. Die Stellungnahmen des [X.]s und der [X.]n Staatskanzlei seien nicht geeignet, diese Besorgnis auszuräumen. Das [X.] sehe die gerichtsinterne Überlastungssituation offensichtlich immer noch als rechtfertigenden Grund für einen Eingriff in das [X.] und in das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz an. Außerdem liege ein tiefgreifender Grundrechtseingriff vor, weil gerade im Bereich der persönlichen Freiheit die Auswirkungen eines Grundrechtsverstoßes besonders folgenschwer seien.

Dem [X.] haben die Verfahrensakten in Abschrift - teilweise in elektronischer Form - vorgelegen.

Daraus ergibt sich, dass die Verfahrensakten am 28. Dezember 2022 auf der Geschäftsstelle des [X.]s eingingen. Am Folgetag versandte der Vorsitzende des 1. Strafsenats eine Abschrift der Übersendungsverfügung an die Beteiligten und gab Gelegenheit zur Stellungnahme binnen einer Woche. Am 9. Januar 2023 ging die Stellungnahme des Beschwerdeführers ein. Am 24. Januar 2023 wurde die Stellungnahme dem Vorsitzenden vorgelegt. Er verfügte am Folgetag, eine Kopie des Schriftsatzes per Fax an die Generalstaatsanwaltschaft zur Kenntnis und etwaiger Stellungnahme zu senden und forderte bei der Staatsanwaltschaft [X.] an. Am 9. Februar 2023 verfügte ein [X.] die Wiedervorlage der Akte an den Vorsitzenden nach dessen Rückkehr.

Nach der Sachstandsanfrage des Beschwerdeführers vom 29. März 2023, welche die nun zuständige [X.]in am Folgetag wie unter [X.] dargestellt beantwortete, stellte die [X.]in am 13. April 2023 in einem Aktenvermerk die dem Beschwerdeführer mitgeteilten Gründe für die Verzögerung nochmals dar und führte ergänzend eine [X.] in ihrer Familie an.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das [X.] bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]).

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

1. Sie richtet sich gegen einen tauglichen Beschwerdegegenstand, weil sich der Beschwerdeführer gegen die Nichtentscheidung des [X.]s und damit gegen ein Unterlassen der öffentlichen Gewalt nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a [X.], § 13 Nr. 8a, § 90 Abs. 1 [X.] wendet.

2. Der zwischenzeitlich ergangene [X.]beschluss des [X.]s vom 26. Juni 2023 steht der Zulässigkeit des [X.] nicht entgegen. Er führt nicht zum Entfallen des [X.] für die Verfassungsbeschwerde.

a) Zwar lässt sich ein Rechtsschutzbedürfnis nicht mit der Behauptung der Verletzung des [X.]s aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 [X.] begründen. Mit Beschluss vom 26. Juni 2023 hat das [X.] [X.] angeordnet und damit entschieden, dass der Eingriff in das [X.] des Beschwerdeführers gerechtfertigt ist. Für eine Rüge des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 [X.] stellt allein der [X.]beschluss den zutreffenden Anknüpfungspunkt für eine Verfassungsbeschwerde dar. Eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen den [X.]beschluss entzöge dem weiteren Vollzug der Untersuchungshaft die Grundlage. Ein Rechtsschutzbedürfnis für eine dahinter zurückbleibende Verfassungsbeschwerde gegen die Nichtentscheidung des [X.]s mit dem Ziel der bloßen Feststellung der Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 [X.] ist weder dargetan noch ersichtlich.

b) Der Beschwerdeführer hat jedoch ein fortdauerndes Rechtsschutzbedürfnis an der Feststellung, dass ihn die überlange Dauer des [X.] in seinem Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 [X.] verletzt. Insoweit entfällt das Rechtsschutzbedürfnis nicht dadurch, dass der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde gegen den [X.]beschluss vom 26. Juni 2023 hätte erheben können. Denn der [X.]beschluss trifft keine Aussage über eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 [X.]. Es ist verfassungsrechtlich auch nicht geboten, dass ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 [X.] wegen überlanger Dauer des [X.] für sich genommen eine Pflicht zur Aufhebung des Haftbefehls oder zu dessen Außervollzugsetzung begründet. Für den Fall einer verspäteten Aktenvorlage unter Überschreitung der sogenannten Sechsmonatsfrist ist in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, dass eine solche Pflicht nicht besteht (vgl. [X.], Beschluss vom 21. August 2007 - 3 [X.] 86/07 <42>, 3 [X.] 86/07, 3 [X.]/07 -, juris, Rn. 11; [X.], Beschluss vom 18. Mai 2022 - 3 StR 181/21 -, juris, Rn. 39; Gärtner, in: [X.], [X.], 27. Aufl. 2019, § 121 Rn. 41). Das [X.] hat diese fachgerichtliche Rechtsprechung nicht beanstandet (vgl. [X.] 42, 1 <9 f.>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 23. Januar 2023 - 2 BvR 1343/22 -, Rn. 5). Es ist nicht ersichtlich, weshalb verfassungsrechtlich etwas anderes gelten sollte, wenn die Verzögerung nicht bei der Vorlage der Akten, sondern bei deren Bearbeitung durch das [X.] eingetreten ist, erst recht, wenn - wie hier - die Sechsmonatsfrist formell nicht überschritten wird, weil gemäß § 121 Abs. 3 Satz 1 [X.] der Fristenlauf bei einer fristgerechten Aktenvorlage ruht. Der [X.]beschluss vom 26. Juni 2023 lässt deshalb das Rechtsschutzbedürfnis für eine Feststellung der Verletzung des Art. 19 Abs. 4 [X.] unberührt.

c) Das Rechtsschutzbedürfnis ist auch nicht dadurch entfallen, dass das [X.] mit seinem Beschluss vom 26. Juni 2023 den vom Beschwerdeführer beanstandeten Zustand einer unterbliebenen Entscheidung im besonderen Haftprüfungsverfahren beendet hat. Trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels besteht ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung fort, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist (vgl. [X.] 9, 89 <93 f.>; 10, 302 <308>; 53, 152 <157 f.>; 58, 208 <219>; 83, 24 <29 f.>; 104, 220 <230>). Das ist der Fall, wenn wegen des zugrundeliegenden Sachverhalts eine Wiederholungsgefahr für die grundrechtliche Beeinträchtigung besteht (vgl. [X.] 69, 257 <266>; 81, 208 <213>; 104, 220 <233>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 4. Dezember 2008 - 2 BvR 1043/08 -, Rn. 15), die Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff fortwirkt (vgl. [X.] 81, 138 <140>; 96, 27 <40>; 104, 220 <233>) oder der Grundrechtseingriff tiefgreifend ist (vgl. [X.] 96, 27 <40>; 104, 220 <233>; 134, 33 <54 Rn. 52>; 149, 293 <316 Rn. 59>). Ob vorliegend eine Gefahr besteht, dass sich eine solche Verzögerung bei folgenden Haftprüfungsverfahren wiederholt, kann dahinstehen. Jedenfalls hat das [X.] dadurch, dass es über Monate hinweg im Haftprüfungsverfahren des § 121 Abs. 1, § 122 [X.] nicht entschieden hat, tiefgreifend in das Recht des Beschwerdeführers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 [X.] eingegriffen, weil es um Rechtsschutz im Zusammenhang mit der Überprüfung eines Freiheitsentzugs geht, der seinerseits einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff darstellt (vgl. [X.] 53, 152 <157 f.>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 25. Juni 2018 - 2 BvR 631/18 -, Rn. 27). Der Beschwerdeführer hat daher ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung und gegebenenfalls einer hierauf bezogenen Feststellung der Verfassungswidrigkeit dieses Grundrechtseingriffs durch das [X.] (vgl. [X.] 9, 89 <92 ff.>; 32, 87 <92>; 53, 152 <157 f.>; 91, 125 <133>; 104, 220 <234 f.>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 22. April 2021 - 2 BvR 320/20 -, Rn. 23).

3. Der Beschwerdeführer hat den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde beachtet. Fachgerichtliche Rechtsbehelfe gegen die Untätigkeit des [X.]s standen ihm nicht zur Verfügung. Eine reine Untätigkeitsbeschwerde sieht die Strafprozessordnung nicht vor (vgl. [X.], in: [X.] Kommentar, [X.], 9. Aufl. 2023, § 304 Rn. 3). Eine Verzögerungsrüge gemäß § 198 Abs. 3 [X.] kam nicht in Betracht, weil es sich bei dem besonderen Haftprüfungsverfahren gemäß §§ 121, 122 [X.] um ein bloßes Zwischenverfahren handelt, das einer isolierten Betrachtung unter [X.] nicht zugänglich ist (vgl. [X.], in: [X.] Kommentar zur [X.], 2018, § 198 [X.] Rn. 24). Ein amtsgerichtlicher Haftprüfungsantrag nach § 117 Abs. 1 [X.] schied ebenfalls aus, weil dem besonderen Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 [X.] grundsätzlich der Vorrang zukommt (vgl. [X.], in: [X.] Kommentar zur [X.], 9. Aufl. 2023, § 122 Rn. 11). Daher genügte der Beschwerdeführer dem Grundsatz der Subsidiarität dadurch, dass er sich durch eine Sachstandsanfrage um die Vermeidung weiterer Verzögerungen bemüht hat (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2009 - 2 BvQ 84/09 -, Rn. 2).

Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.

Die überlange Dauer des [X.] vor dem [X.] verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 [X.].

1. a) Art. 19 Abs. 4 [X.] gewährleistet nicht nur ein Individualgrundrecht; er enthält auch eine objektive Wertentscheidung (vgl. [X.] 58, 1 <40>). Sie verpflichtet den Gesetzgeber, einen wirkungsvollen Rechtsschutz unabhängig von individuellen Berechtigungen sicherzustellen. Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes verlangt aber nicht nur, dass jeder potentiell rechtsverletzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der richterlichen Prüfung unterstellt ist; vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen (vgl. [X.] 35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 67, 43 <58>; 84, 34 <49>; 143, 216 <224 f. Rn. 20>; stRspr). Der Zugang zu einer gerichtlichen Entscheidung in der Sache darf daher - vorbehaltlich verfassungsunmittelbarer Schranken - in keinem Fall ausgeschlossen, faktisch unmöglich gemacht oder in unzumutbarer, durch [X.] nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert werden (vgl. [X.] 10, 264 <268>; 44, 302 <305>; 143, 216 <225 f. Rn. 21>). Auf die Gewährleistung eines dermaßen wirkungsvollen Rechtsschutzes hat der Einzelne einen verfassungskräftigen Anspruch (vgl. [X.] 149, 346 <363 Rn. 34>). Der Bürger hat demnach einen substantiellen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle bezüglich des ihn betreffenden Handelns oder Unterlassens der öffentlichen Gewalt (vgl. [X.] 40, 272 <275>). Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener [X.]. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen (vgl. [X.] 55, 349 <369>).

b) Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz erlangt im Hinblick auf Eingriffe in das [X.] aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 [X.] besondere Bedeutung. Bei einem Haftprüfungsverfahren ist außerdem Art. 5 Abs. 4 [X.] zu berücksichtigen.

aa) Die [X.] ist als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen (vgl. [X.] 111, 307 <317 f.>; 128, 326 <366 ff.>; 148, 296 <351 Rn. 128>; 149, 293 <328 Rn. 86>; 158, 1 <36 Rn. 70> - [X.]). Eine schematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der [X.] ist allerdings nicht verlangt (vgl. [X.] 128, 326 <366, 392 f.>; 156, 354 <397 Rn. 122> - Vermögensabschöpfung). Bei der Heranziehung der [X.] sind die Leitentscheidungen des [X.] zu berücksichtigen, auch wenn sie nicht denselben Streitgegenstand betreffen, denn der Rechtsprechung des [X.] kommt eine faktische Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der [X.] über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zu (vgl. [X.] 111, 307 <320>; 128, 326 <368>; 148, 296 <351 f. Rn. 129>).

bb) Im Sinne einer solchen, funktionsanalogen Adaption der Gewährleistungsgehalte der [X.] kommt den aus Art. 5 Abs. 4 [X.] folgenden Verfahrensgarantien und der insoweit einschlägigen Rechtsprechung des [X.] im Haftbeschwerdeverfahren besondere Bedeutung zu (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 18. September 2018 - 2 BvR 745/18 -, Rn. 46). Dies hat nach Sinn und Zweck für das von Amts wegen stattfindende besondere Haftprüfungsverfahren der §§ 121, 122 [X.] ebenso zu gelten, wenngleich der Wortlaut des Art. 5 Abs. 4 [X.] auf einen Antrag des Betroffenen Bezug nimmt.

Art. 5 Abs. 4 [X.] gewährt jeder Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist. Wenngleich eine feste zeitliche Grenze nicht existiert, sondern die Umstände des Einzelfalls, unter anderem die Schwierigkeit des Verfahrens, das Verhalten der innerstaatlichen Behörden und Gerichte sowie der festgenommenen Person und die Bedeutung der Rechtssache für den Betroffenen entscheidend sind, ist ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. [X.], [X.], Urteil vom 8. März 2018, Nr. 22692/15, § 33). Bei einem anhängigen Strafverfahren muss zügig über die Rechtmäßigkeit der Haft entschieden werden, damit die festgenommene Person vollen Umfangs in den Genuss der Unschuldsvermutung kommt (vgl. [X.], [X.], Urteil vom 8. März 2018, Nr. 22692/15, § 33).

2. Diesen Maßstäben ist das [X.] nicht gerecht geworden, indem es bis zum 26. Juni 2023 eine Entscheidung im besonderen Haftprüfungsverfahren unterlassen hat.

a) Das [X.] hat dadurch in das Grundrecht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 [X.] eingegriffen. Die Verfahrensakten sind am 28. Dezember 2022 und damit vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zur Haftprüfung an das [X.] gelangt. Nach Eingang der Stellungnahme des Beschwerdeführers am 9. Januar 2023 vergingen bis zur Entscheidung des [X.]s über die [X.] am 26. Juni 2023 mehr als fünf Monate. § 122 Abs. 4 Satz 2 [X.] sieht demgegenüber vor, dass die Prüfung, ob die Voraussetzungen der Untersuchungshaft weiter vorliegen, spätestens nach drei Monaten zu wiederholen ist. Zwar ruht gemäß § 121 Abs. 3 [X.] der Fristenlauf des § 121 Abs. 1 [X.] bis zur Entscheidung des [X.]s, sodass dem Beschwerdeführer formell keine der in §§ 121, 122 [X.] vorgeschriebenen Prüfungen verwehrt worden ist. Indem die Entscheidung des [X.]s aber erst knapp sechs Monate nach Ablauf der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 [X.] ergangen ist, hat das [X.] durch die überlange Verfahrensdauer dem Beschwerdeführer faktisch nicht nur die gemäß § 121 Abs. 1, § 122 [X.] vorgesehene [X.], sondern auch die durch § 122 Abs. 4 [X.] vorgeschriebene Nachprüfung nach neun Monaten genommen.

b) Die vom [X.] angeführten Gründe für die Verzögerung rechtfertigen den Eingriff in das Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 [X.] nicht. Bei den in der Antwort auf die Sachstandsanfrage des Beschwerdeführers am 30. März 2023 angeführten und im Aktenvermerk vom 13. April 2023 festgehaltenen Gründen für die Nichtbearbeitung handelt es sich sämtlich um solche, die der Beschwerdeführer nicht zu vertreten hat und die nicht geeignet sind, eine Verzögerung der Entscheidung über mehrere Monate zu rechtfertigen. Das gilt für den Verweis der [X.]in auf ihren bevorstehenden Urlaub und die [X.] in ihrer Familie ebenso wie für den Hinweis auf vorrangig zu bearbeitende "eigene" [X.]. Dass die [X.]in erst am 24. März 2023 für das Verfahren vertretungsweise zuständig wurde, rechtfertigt die Verzögerung ebenfalls nicht, weil es in der gerichtsinternen Sphäre liegt, dass auf die seit November 2022 bestehende Erkrankung eines Beisitzers erst im März reagiert wurde. Unabhängig davon sind von der Zuweisung des Verfahrens an die neue [X.]in am 24. März 2023 bis zur Entscheidung des [X.]s am 26. Juni 2023 noch einmal mehr als drei Monate vergangen. Damit hat das [X.] versäumt, dem Recht des Beschwerdeführers auf Durchführung der besonderen Haftprüfung nach § 122 [X.] praktische Wirksamkeit zu verschaffen, weil es ihm den gesetzlich vorgesehenen Rechtsschutz nicht innerhalb angemessener [X.] gewährt hat.

Es ist daher gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 [X.] festzustellen, dass die überlange Dauer des [X.] vor dem [X.] - 1 [X.] - den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 [X.] verletzt.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 Abs. 2 [X.]. Die Festsetzung des Gegenstandswertes für die anwaltliche Tätigkeit stützt sich auf § 37 Abs. 2 Satz 2, § 14 Abs. 1 RVG in Verbindung mit den Grundsätzen über die Festsetzung des Gegenstandswertes im verfassungsrechtlichen Verfahren (vgl. [X.] 79, 365 <368 ff.>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 26. Januar 2011 - 1 BvR 1671/10 -, Rn. 8). Im Hinblick auf die objektive Bedeutung der Sache ist ein Gegenstandswert von 10.000 Euro angemessen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 825/23

21.09.2023

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Frankfurt, kein Datum verfügbar, Az: 1 HEs 623/22

Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 19 Abs 4 GG, Art 104 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, Art 5 Abs 4 MRK, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 RVG, § 121 Abs 2 StPO, § 121 Abs 3 S 1 StPO, § 122 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 21.09.2023, Az. 2 BvR 825/23 (REWIS RS 2023, 6558)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 6558

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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