Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 11.10.2012, Az. V ZB 274/11

V. Zivilsenat | REWIS RS 2012, 2399

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BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
V [X.]

vom

11. Oktober 2012

in der Abschiebungshaftsache

Nachschlagewerk:
ja
[X.]Z:
nein
[X.]R:
ja

FamFG § 420 Abs. 1 Satz 1

Eine ordnungsgemäße Anhörung des Betroffenen ist nur nach Aushändigung der schriftlichen Begründung des [X.], einschließlich etwaiger Nachträge, ge-währleistet.

FamFG § 68 Abs. 3 Satz 2

Stützt der Betroffene seine Beschwerde auf neue, erst nach dem Erlass der Haftanordnung eingetretene Tatsachen
(hier: mögliche [X.]), darf das Beschwerdegericht von seiner Anhörung nur dann absehen, wenn diese Tatsachen für die Entscheidung offensichtlich unerheblich sind.

[X.], Beschluss vom 11. Oktober 2012 -
V [X.] -
LG [X.]/Main

AG [X.]/Main

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Der V.
Zivilsenat des [X.] hat am
11. Oktober 2012 durch die Vorsitzende Richterin [X.] und die Richter [X.], Prof. Dr. Schmidt-Räntsch, [X.] und Dr. Kazele
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass die Beschlüsse des Amtsgerichts [X.] am Main vom 29. September 2011 und der 28. Zivilkammer des Landgerichts [X.] am Main vom 14. November 2011 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Ausla-gen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem [X.] auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens be-

Gründe:
I.
Der Betroffene, ein [X.] Staatsangehöriger, beantragte nach seiner Einreise in das [X.] im Mai 2010 seine Anerkennung als Asyl-berechtigter, wobei er sich gegenüber den [X.] Behörden als [X.] ausgab. Nach [X.] Ablehnung seines Asylantrags und Androhung seiner Abschiebung tauchte er im [X.] unter. Gegen den Betroffenen 1
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wurde nach seinem Aufgreifen Abschiebungshaft angeordnet und am [X.] 2011 der Versuch einer Abschiebung nach [X.] unternommen. Dieser scheiterte jedoch, da er gegenüber den dortigen Grenzbeamten angab, Marok-kaner zu sein. Der Betroffene kehrte am 28. September 2011 auf dem Luftweg nach [X.] zurück.
Auf Antrag der Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht am 29. September 2011 gegen den Betroffenen Haft bis zum 28. Dezember 2011 zur Sicherung der Abschiebung angeordnet. Gegen diesen Beschluss hat der Betroffene [X.] Beschwerde eingelegt, die er darauf gestützt hat, dass das [X.] (im Folgenden: [X.]) ihm mitgeteilt habe, dass es das Asylverfahren wegen etwaiger Abschiebungsverbote in den Ziel-staat [X.] von Amts wegen wieder aufgenommen und ihm eine Frist zur Stellungnahme bis zum 5. Dezember 2011 eingeräumt habe.
Das Beschwerde-gericht hat das Rechtsmittel mit Beschluss vom 14. November 2011 zurückge-wiesen. Der Betroffene, der am 27. Dezember 2011 nach [X.] abgescho-ben worden ist, beantragt mit der Rechtsbeschwerde festzustellen, durch die Haftanordnung und die Beschwerdeentscheidung in seinen Rechten verletzt worden zu sein.

II.
Das Beschwerdegericht meint, die Haftanordnung sei nicht zu beanstan-den, da der Entscheidung ein formell ordnungsgemäßer Haftantrag der Beteilig-ten zu 2 zugrunde gelegen habe und die in § 62 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 5
[X.] (a.F.) genannten Haftgründe vorgelegen hätten. Die Wideraufnahme des Verfahrens durch das [X.] ändere an der Ausreisepflicht des Be-2
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troffenen nichts, weil dieses Verfahren lediglich dem Zwecke der [X.] auf den neuen Zielstaat [X.] diene.

III.
Die gemäß §
70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz
2 FamFG [X.]. mit dem Fest-stellungsantrag nach § 62 FamFG statthafte (Senat, Beschluss vom 25.
Februar 2010

V
[X.], [X.] 210, 150,
151 Rn. 9 f.) und auch im Übrigen zulässige (§
71 FamFG) Rechtsbeschwerde ist in der Sache begrün-det, da sowohl das Amtsgericht als auch das Beschwerdegericht den Betroffe-nen in seinem Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt haben.
1. Der Betroffene beanstandet zu Recht, dass das Amtsgericht bei der Entscheidung über die Haftanordnung dem Betroffenen zwar den Haftantrag der Beteiligten zu 2 vom 27. September 2009, aber nicht deren ergänzende Stellungnahme vom 29. September 2009
ausgehändigt hat.
a) Nach der Rechtsprechung des Senats muss der Haftantrag dem Be-troffenen vor seiner Anhörung in vollständiger Abschrift ausgehändigt werden (vgl. Senat, Beschlüsse vom 21. Juli 2011 -
V [X.], [X.] 2011, 257, 258 Rn. 8 und
vom 14. Juni 2012 -
V [X.], Rn. 9, juris). Andernfalls kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass der Betroffene nicht in der Lage ist, zu sämtlichen Angaben der Behörde Stellung zu nehmen (vgl. Senat, [X.] vom 21. Juli 2011 -
V [X.], aaO und vom 14. Juni 2012 -
V [X.], Rn. 9 aaO), was zur Folge hat, dass in dem Rechtsbeschwerdeverfah-ren von einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG ausgegangen werden muss.
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b) Für einen von der Behörde vor der Anhörung vorgelegten Nachtrag zu dem Haftantrag gilt nichts anderes. Enthält dieser -
wie hier -
Ausführungen nach §
417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG zur Durchführbarkeit der Abschiebung in den neuen Zielstaat (hier das Königreich [X.]), muss auch der Nachtrag dem Betroffenen ausgehändigt werden. Die im Protokoll der Anhörung festge-haltene bloße Bekanntmachung und Erörterung genügt nicht (Senat, [X.] vom 21. Juli 2011 -
V [X.], [X.] 2011, 257, 258 Rn. 8 und vom 14.
Juni 2012 -
V [X.], Rn. 9, juris). Eine ordnungsgemäße Anhörung des Betroffenen (§
420 Abs.
1 Satz
1 FamFG) ist nur nach einer Aushändigung der gesamten schriftlichen Begründung der Behörde gewährleistet. Die Übergabe einer Abschrift des [X.] sowie etwaiger schriftlicher Nachträge an den Betroffenen ist schon deswegen erforderlich, damit dieser im weiteren Verlauf der Anhörung in die Schriftsätze, die die Behörde dem Haftrichter vorgelegt hat, jederzeit einsehen und diese gegebenenfalls später einem Rechtsanwalt vorle-gen kann (vgl. Senat, Beschluss vom 14. Juni
2012 -
V [X.], Rn. 9, juris).
c) Ist -
wie hier -
weder dem Protokoll der Anhörung noch der Akte eine Aushändigung des (Nachtrags zum) Haftantrag(s) zu entnehmen, ist davon auszugehen, dass dem Betroffenen nicht der gesamte [X.] bekannt gegeben und dessen Verfahrensgrundrecht verletzt worden ist.
2. Auch das Beschwerdegericht hat das Verfahrensgrundrecht auf recht-liches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt.
a) Der Betroffene beanstandet zu Recht, dass er durch das Beschwer-degericht nicht erneut angehört worden ist. Die persönliche Anhörung ist nach §
68 Abs. 3 Satz 1 [X.]. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG und Art. 104 Abs. 1 Satz 1, Abs.
3 GG im Beschwerdeverfahren grundsätzlich vorgeschrieben (Senat, Beschlüsse vom 19. Mai 2011 -
V [X.], [X.] 2011, 254, 255 Rn. 14 und 7
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vom 2. Mai 2012 -
V [X.], Rn. 6, juris). Hiervon darf das [X.] nur absehen, wenn eine ordnungsgemäße persönliche Anhörung in erster Instanz stattgefunden hat und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute [X.] nicht zu erwarten sind (Senat, Beschlüsse vom 17. Juni 2010 -
V [X.], [X.] 2010, 261 Rn. 8 und vom 4. März 2010 -
V [X.], [X.]Z 184, 323, 329 Rn.
13).
Daran fehlt es hier jedoch, weil der Betroffene seine Beschwerde auf ein ihm nach der Haftanordnung zugestelltes Schreiben des [X.]s gestützt hat, aus dem sich ergab, dass dieses das Asylverfahren nach § 51 Abs. 5, § 48 VwVfG bzw. § 51 Abs. 5, § 49 VwVfG wegen möglicher, den neuen Zielstaat betreffender [X.] nach §

60 Abs. 2 bis
7 [X.] wieder aufgenommen hatte. Stützt der Betroffene seine Beschwerde auf neue, erst nach dem Erlass der Haftanordnung eingetretene Tatsachen, darf das Be-schwerdegericht von einer Anhörung des Betroffenen nach §
68 Abs. 3 Satz 2 FamFG
nur dann absehen, wenn diese Tatsachen für die Entscheidung offen-sichtlich unerheblich sind. So liegt es hier jedoch nicht. Dem steht nicht entge-gen, dass der Haftrichter nicht befugt ist, über das Vorliegen von [X.] zu befinden (vgl. Senat, Beschlüsse vom 12. Juni 1986

V
ZB 9/86, [X.]Z 98, 109, 112 und vom 25.
Februar 2010 -
V [X.], NVwZ 2010, 726, 728 Rn. 10). Der Haftrichter muss -
unabhängig davon -
eine Prognose anstellen, ob die Abschiebung trotz eines von dem Betroffenen gel-tend gemachten [X.] durchgeführt werden kann. Dazu hat er eige-ne Ermittlungen anzustellen; insbesondere muss er sich über den Stand und die Erfolgsaussichten eines behördlichen oder verwaltungsgerichtlichen [X.]s erkundigen, in dem über das Vorliegen etwaiger [X.] entschieden wird (vgl. Senat, Beschlüsse vom 25. Februar 2010 -
V [X.], NVwZ 2010, 726, 728 Rn.
14 und vom 10. Mai 2012 -
V [X.], Rn. 14, [X.]
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ris). Dazu hätte eine Anhörung des Betroffenen näheren Aufschluss geben können, weshalb das Beschwerdegericht nicht von ihr absehen durfte.
b) Das Beschwerdegericht hat zudem den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es die sofortige Beschwerde des Be-troffenen gegen die Haftanordnung zurückgewiesen hat ohne diesem zuvor Ge-legenheit gegeben zu haben, sich zu der Stellungahme der Behörde vom 10.
November 2011 und der darin enthaltenen Einschätzung, die Abschiebung könne voraussichtlich innerhalb der Haftzeit durchgeführt werden, zu äußern. Art. 103 Abs. 1 GG ist verletzt, wenn das Beschwerdegericht in Haftsachen dem Betroffenen, bevor es die Beschwerde zurückweist, keine Gelegenheit gibt, zu der Erwiderung der Behörde Stellung zu nehmen (vgl. [X.], [X.] vom 15. November 2010 -
2 BvR 1183/09, Rn. 21, juris und vom 6.
Juni 2011 -
2 BvR 2076/08, Rn. 3, juris). Dies gilt unabhängig davon, ob von einer möglichen Gegenstellungnahme Einfluss auf das Entscheidungsergebnis zu erwarten ist oder nicht. Denn der grundrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör dient nicht nur der Gewährleistung richtiger Entscheidungen, sondern auch der Wahrung der Subjektstellung des Betroffenen im gerichtlichen [X.] ([X.], Beschlüsse vom 15. November 2010 -
2 BvR 1183/09, aaO und vom 6. Juni 2011 -
2
BvR 2076/08, Rn. 3, aaO).

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IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430
FamFG, §
128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach §
128c Abs. 3 Satz 2, § 30 Abs. 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 [X.] entspricht es billigem Ermessen, dem [X.] die dem Be-troffenen entstandenen notwendigen Auslagen aufzuerlegen.
Stresemann
Lemke
Schmidt-Räntsch

Czub
Kazele
Vorinstanzen:
AG [X.] am Main, Entscheidung vom 29.09.2011 -
934 [X.] -

LG [X.]
am Main, Entscheidung vom 14.11.2011 -
2-28 T 108/11 -

13

Meta

V ZB 274/11

11.10.2012

Bundesgerichtshof V. Zivilsenat

Sachgebiet: ZB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 11.10.2012, Az. V ZB 274/11 (REWIS RS 2012, 2399)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 2399

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