Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.07.2019, Az. I ZB 82/18

1. Zivilsenat | REWIS RS 2019, 5070

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Gegenstand

Internationaler Straßengüterverkehr im Anwendungsbereich der CMR: Aussetzung eines Rechtsstreits im Hinblick auf ein anderes Verfahren bei Anhängigkeit der Verfahren vor Gerichten zweier Mitgliedstaaten der EU; Vorliegen einer neuen Klage wegen "derselben Sache"; fehlende Regelung zur Aussetzung eines Verfahrens in der CMR; Aufhebung der Aussetzungsentscheidung im Beschwerdeverfahren


Leitsatz

1. Die Vorschrift des Art. 31 Abs. 2 CMR, die eine Rechtshängigkeitssperre und die Einrede der Rechtskraft für gleiche Streitgegenstände in Verfahren wegen derselben Sache zwischen denselben Parteien begründet, regelt nicht die Voraussetzungen, unter denen ein Rechtsstreit im Hinblick auf ein anderes Verfahren ausgesetzt werden kann. Wenn das zuerst anhängig gemachte Verfahren noch nicht beendet und die Frage der späteren Vollstreckbarkeit der darin zu treffenden Entscheidung deshalb noch nicht geklärt ist, kommt - wenn Verfahren vor Gerichten zweier Mitgliedstaaten der Europäischen Union anhängig sind - statt einer Abweisung der Klage als unzulässig eine Aussetzung in entsprechender Anwendung von Art. 29 Abs. 1 Brüssel-Ia-VO in Betracht.

2. Um eine neue Klage wegen "derselben Sache" im Sinne von Art. 31 Abs. 2 Satz 1 CMR handelt es sich auch dann, wenn es sich bei dem anhängigen Verfahren um eine negative Feststellungsklage und bei dem neuen Verfahren um eine Leistungsklage handelt und beide Verfahren vor Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten der Europäischen Union anhängig sind (Aufgabe BGH, Urteil vom 20. November 2003 - I ZR 294/02, BGHZ 157, 66).

3. Da die gegenüber der Brüssel-Ia-VO grundsätzlich vorrangige CMR keine Regelung zur Aussetzung eines Verfahrens wegen Sachzusammenhangs mit einem anderen Verfahren enthält, kann im Anwendungsbereich der Brüssel-Ia-VO insoweit Art. 30 Brüssel-Ia-VO angewandt werden.

4. Im Verfahren der Beschwerde gegen eine Aussetzungsentscheidung, die im Ermessen des erstinstanzlichen Gerichts liegt, darf das Beschwerdegericht bei Vorliegen von Ermessensfehlern die erstinstanzliche Aussetzungsentscheidung lediglich aufheben; es ist nicht befugt, sein Ermessen an die Stelle des dem Erstgericht eingeräumten Ermessens zu setzen. Ein Ermessensfehler liegt auch vor, wenn das erstinstanzliche Gericht sein Ermessen nicht ausgeübt hat.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des 18. Zivilsenats des [X.] vom 9. Oktober 2018 aufgehoben.

Auf die sofortige Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des [X.] vom 9. Februar 2018 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren und das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf jeweils 50.067,25 € festgesetzt.

Gründe

1

I. Die Klägerin ist ein Versicherungsunternehmen. Die Beklagte ist ein Transportunternehmen mit Sitz in [X.].

2

Die [X.], ein Unternehmen mit Sitz in den [X.], beauftragte die Beklagte damit, am 15. September 2016 Produkte des Herstellers [X.]   von D.    in den [X.] nach [X.] zu transportieren. Auf der Fahrt kam es zu einem Verlust eines Teils der Ware.

Die Klägerin hat behauptet, sie sei [X.]     Spedition S.à.r.l. (im Folgenden: Versicherungsnehmerin). Der Versicherungsvertrag sei für sie durch die [X.] (im Folgenden: [X.]) vermittelt und betreut worden. Der Hersteller [X.]    habe die Versicherungsnehmerin mit dem Transport seiner Produkte beauftragt, diese habe den Auftrag an die [X.] weitergegeben. Sie, die Klägerin, habe die Versicherungsnehmerin wegen der Regulierung des durch den [X.] eingetretenen Schadens entschädigt. Die Beklagte hafte der Höhe nach unbegrenzt für den Schaden, weil sie die vertraglich vereinbarten Sicherheitsvorgaben nicht eingehalten habe. Die Versicherungsnehmerin und die [X.] hätten ihre Ansprüche am 31. Mai 2017 und 26. Juni 2017 an die [X.] abgetreten, diese habe sie der Klägerin am 10. Juli 2017 weiter abgetreten.

4

Die [X.] hat die Beklagte vorprozessual mit anwaltlichem Schreiben vom 16. Mai 2017 aufgefordert, den durch den [X.] verursachten Schaden zu ersetzen. Der Prozessbevollmächtigte der Beklagten hat Fristverlängerungen zur Stellungnahme bis zum 26. Juli 2017 erbeten.

5

Die Klägerin hat mit ihrer am 28. Juli 2017 beim [X.] eingereichten und am 10. August 2017 der Beklagten zugestellten Klage die Zahlung eines Schadensersatzbetrags von 250.336,27 € nebst Zinsen sowie Ersatz vorgerichtlicher Kosten begehrt.

6

Die Beklagte hat geltend gemacht, sie habe bereits am 20. Juli 2017 durch Zustellung durch den Gerichtsvollzieher gegen die [X.], die [X.], die Versicherungsnehmerin und weitere Unternehmen bei der [X.] in den [X.] negative Feststellungsklage erhoben, mit der sie die Feststellung begehre, dass sie wegen des teilweisen Verlusts der Sendung nicht über die in Art. 23 Abs. 3 CMR vorgesehene Entschädigung hinaus und auch nicht auf Auslagenersatz hafte.

7

Das [X.] hat den Rechtsstreit im Hinblick auf das in den [X.] geführte Verfahren ausgesetzt. Die Klägerin hat gegen die Aussetzungsentscheidung sofortige Beschwerde eingelegt.

8

Während des Beschwerdeverfahrens hat die [X.] die negative Feststellungsklage der Beklagten mit Urteil vom 23. Mai 2018 mangels [X.] als unzulässig abgewiesen, weil die dortigen Beklagten keine Ansprüche gegen die hiesige Beklagte geltend machten; solche Ansprüche würden allein von der Klägerin des vorliegenden Verfahrens erhoben, die an dem Rechtsstreit in den [X.] nicht beteiligt sei. Gegen diese Entscheidung hat die Beklagte Berufung zum Gerechtshof [X.] eingelegt. Eine Entscheidung im Berufungsverfahren ist noch nicht ergangen.

9

Die sofortige Beschwerde der Klägerin gegen den Aussetzungsbeschluss ist ohne Erfolg geblieben ([X.], [X.] 2019, 140). Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die Beklagte beantragt, begehrt die Klägerin die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, die Abänderung des landgerichtlichen Beschlusses und die Anordnung der Fortsetzung des Rechtsstreits vor dem [X.].

II. Das Beschwerdegericht hat angenommen, das [X.] habe das Verfahren zu Recht gemäß Art. 30 Abs. 1 der Verordnung ([X.]) Nr. 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ([X.]) bis zur rechtskräftigen Entscheidung des in den [X.] geführten Rechtsstreits ausgesetzt. Das Verfahren sei nicht zwingend nach Art. 29 [X.] auszusetzen, weil die Parteien in den beiden Verfahren nicht identisch seien. In den [X.] sei die hiesige Klägerin nicht verklagt. Die Klägerin habe die Ansprüche gegen die Beklagte durch gesetzlichen Forderungsübergang oder durch Abtretung erworben. Der Rechtsstreit in den [X.] sei früher als die in [X.] erhobene Regressklage anhängig gemacht worden. Er sei auch nicht beendet, nachdem die Beklagte gegen das dort ergangene Prozessurteil Berufung eingelegt und dargelegt habe, dass es nicht notwendig bei der Klageabweisung bleiben müsse. Bei beiden Klagen gehe es um den Umfang der Haftung der Beklagten. Art. 71 [X.] stehe einer Aussetzung nicht entgegen, da die in den [X.] erhobene negative Feststellungsklage nicht nach Art. 31 CMR von der im vorliegenden Verfahren erhobenen Leistungsklage verdrängt werde. Die Aussetzung sei nach Art. 30 [X.] geboten, weil die Entscheidung des Erstgerichts die inhaltliche Entscheidung des Zweitgerichts bedinge.

III. Die gemäß § 574 Abs. 2 und 3 Satz 2 ZPO statthafte und zulässige Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und des Aussetzungsbeschlusses des [X.]s sowie zur Zurückverweisung der Sache an das [X.]. Das Beschwerdegericht ist mit Recht davon ausgegangen, dass der Rechtsstreit nicht zwingend nach Art. 31 Abs. 2 CMR in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 [X.] auszusetzen ist (dazu [X.]). Das Beschwerdegericht ist weiter zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass im Streitfall die Voraussetzungen gegeben sind, unter denen das erstinstanzliche Gericht nach Art. 30 Abs. 1 [X.] eine Aussetzungsentscheidung treffen kann (dazu [X.]). Das dem erstinstanzlichen Gericht dabei eingeräumte Ermessen hätte das Beschwerdegericht jedoch nicht selbst ausüben dürfen, sondern es hätte diese Entscheidung dem [X.] überlassen müssen (dazu III 3).

1. Das Beschwerdegericht ist mit Recht davon ausgegangen, dass eine Aussetzung nach Art. 31 Abs. 2 CMR in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 [X.] nicht in Betracht kommt.

a) Nach Art. 31 Abs. 2 CMR kann, wenn ein Verfahren bei einem nach Art. 31 Abs. 1 CMR zuständigen Gericht anhängig ist oder durch ein solches Gericht in einer solchen Streitsache ein Urteil erlassen worden ist, eine neue Klage wegen derselben Sache zwischen denselben Parteien nicht erhoben werden, es sei denn, dass die Entscheidung des Gerichtes, bei dem die erste Klage erhoben worden ist, in dem Staat nicht vollstreckt werden kann, in dem die neue Klage erhoben wird.

Die CMR regelt damit nicht ausdrücklich die Voraussetzungen, unter denen ein Rechtsstreit im Hinblick auf ein anderes Verfahren ausgesetzt werden kann. Die Vorschrift des Art. 31 Abs. 2 CMR begründet in erster Linie eine Rechtshängigkeitssperre und die Einrede der Rechtskraft für gleiche Streitgegenstände in Verfahren wegen derselben Sache zwischen denselben Parteien. Sie enthält keine ausdrückliche Regelung, nach der ein später anhängig gewordenes Verfahren im Hinblick auf ein früher eingeleitetes Verfahren auszusetzen ist oder ausgesetzt werden kann. Wenn das zuerst anhängig gemachte Verfahren noch nicht beendet und die Frage der späteren Vollstreckbarkeit der darin zu treffenden Entscheidung deshalb noch nicht geklärt ist, kommt - wenn Verfahren vor Gerichten zweier Mitgliedstaaten der [X.] anhängig sind - statt einer Abweisung der Klage als unzulässig eine Aussetzung in entsprechender Anwendung von Art. 29 Abs. 1 [X.] in Betracht ([X.]HGB/[X.], 3. Aufl., Art. 31 CMR Rn. 33; [X.]/[X.], HGB, 5. Aufl., Art. 31 CMR Rn. 47; vgl. auch [X.], Urteil vom 20. November 2003 - I ZR 294/02, [X.]Z 157, 66, 72 [juris Rn. 25]). Danach setzt, wenn bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht werden, das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, wenn es sich bei den in Betracht kommenden Zuständigkeiten nicht um eine ausschließliche Zuständigkeit handelt.

b) Art. 31 Abs. 2 CMR setzt voraus, dass ein Verfahren bei einem nach Art. 31 Abs. 1 CMR zuständigen Gericht anhängig ist und eine neue Klage bei einem gleichfalls nach Art. 31 Abs. 1 CMR zuständigen Gericht erhoben worden ist. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt.

aa) Nach Art. 31 Abs. 1 Satz 1 CMR kann der Kläger wegen aller Streitigkeiten aus einer der CMR unterliegenden Beförderung die Gerichte eines Staates anrufen, auf dessen Gebiet (Buchst. a) der Beklagte seinen gewöhnlichen Aufenthalt, seine Hauptniederlassung oder die Zweigniederlassung oder Geschäftsstelle hat, durch deren Vermittlung der Beförderungsvertrag geschlossen worden ist, oder (Buchst. b) der Ort der Übernahme des [X.] oder der für die Ablieferung vorgesehene Ort liegt.

bb) Die im Streitfall in Rede stehende Beförderung unterliegt der CMR.

(1) Nach Art. 1 Abs. 1 CMR gilt dieses Übereinkommen - ohne Rücksicht auf den Wohnsitz und die Staatsangehörigkeit der Parteien - für jeden Vertrag über die entgeltliche Beförderung von Gütern auf der Straße mittels Fahrzeugen, wenn der Ort der Übernahme des [X.] und der für die Ablieferung vorgesehene Ort, wie sie im Vertrag angegeben sind, in zwei verschiedenen [X.] liegen, von denen mindestens einer ein Vertragsstaat ist.

(2) Im Streitfall geht es um einen grenzüberschreitenden Gütertransport auf der Straße von den [X.] nach [X.]. Sowohl die [X.] als auch die Bundesrepublik [X.] sind Vertragsstaaten.

(3) Die CMR findet Anwendung, auch wenn zwischen der Klägerin und der Beklagten keine vertraglichen Beziehungen bestehen.

Die Klägerin ist nach den Feststellungen des [X.] aufgrund der Forderungsabtretungen der K.    + N.     Logistics B. V. und der Versicherungsnehmerin sowie im Fall der Leistung an die Versicherungsnehmerin aus dem Versicherungsvertrag auch aufgrund gesetzlichen Forderungsübergangs Inhaberin möglicher Schadensersatzansprüche der [X.] und der Versicherungsnehmerin gegen die Beklagte. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Versicherungsnehmerin den Transportauftrag an die [X.] weitergegeben und diese die Beklagte beauftragt hat und deshalb zwischen der Versicherungsnehmerin als Hauptfrachtführerin und der Beklagten keine unmittelbaren vertraglichen Beziehungen bestehen. Nach der Rechtsprechung des [X.] kommen die Zuständigkeitsregelungen des Art. 31 Abs. 1 CMR grundsätzlich auch dann zur Anwendung, wenn ein (weiterer) Unterfrachtführer als bloße Hilfsperson (Art. 3 CMR) des Hauptfrachtführers von dessen Auftraggeber oder von dem Rechtsnachfolger des Auftraggebers wegen Verlusts oder Beschädigung des [X.] aus Delikt auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird ([X.], Urteil vom 20. November 2008 - [X.], [X.] 2009, 26 Rn. 18 bis 20). Dies gilt erst recht, wenn - wie hier - der Hauptfrachtführer oder dessen Rechtsnachfolger einen weiteren Unterfrachtführer wegen eines [X.]s der Sendung in Anspruch nimmt.

cc) Sowohl die in den [X.] erhobene negative Feststellungsklage als auch die vorliegende Klage sind bei einem nach Art. 31 Abs. 1 CMR zuständigen Gericht erhoben. Die [X.] Gerichte sind zur Entscheidung über die vorliegende Klage zuständig, weil die Beklagte ihren Sitz in [X.] hat. Außerdem liegt der Auslieferungsort für die transportierte Ware in [X.]. Da der Ort der Übernahme des [X.] in den [X.] liegt, sind die [X.] Gerichte für die dort erhobene negative Feststellungsklage zuständig.

dd) Das Beschwerdegericht hat festgestellt, dass die von der Beklagten vor dem [X.] Gericht anhängig gemachte negative Feststellungsklage früher als die vorliegende Leistungsklage erhoben worden ist und das [X.] damit das später angerufene Gericht ist. Dies stellt die Rechtsbeschwerde nicht in Frage.

c) Mit dem vorliegenden Rechtsstreit liegt eine neue Klage wegen derselben Sache im Sinne von Art. 31 Abs. 2 CMR vor.

aa) Um eine neue Klage wegen "derselben Sache" im Sinne von Art. 31 Abs. 2 CMR handelt es sich auch dann, wenn es sich bei dem anhängigen Verfahren um eine negative Feststellungsklage und bei dem neuen Verfahren um eine Leistungsklage handelt.

(1) Der Senat hat Art. 31 Abs. 2 CMR allerdings nach dem sich aus dem [X.] ergebenden Sinn und Zweck dahingehend ausgelegt, dass es sich bei einer vor einem international zuständigen Gericht erhobenen negativen Feststellungsklage und einer vor einem anderen international zuständigen Gericht eines anderen Staates später erhobenen Leistungsklage nicht um dieselbe Sache im Sinne des Art. 31 Abs. 2 CMR handelt, weil dem Gläubiger ein Wahlrecht zwischen mehreren Gerichtsständen eingeräumt wird. Er hat angenommen, es widerspreche dieser Wertung, wenn es der als Schuldner in Anspruch Genommene in der Hand hätte, die Wahlmöglichkeit des Gläubigers zu unterlaufen, indem er dem Gläubiger durch die Erhebung einer negativen Feststellungsklage vor dem Gericht eines ihm als zweckmäßig erscheinenden Staates zuvorkommt, und den Gläubiger hierdurch dazu zu zwingen, dort (widerklagend) auch die Leistungsklage zu erheben. Deshalb komme der Leistungsklage der Vorrang zu und eine Aussetzung bis zur Entscheidung über die negative Feststellungsklage nicht in Betracht ([X.]Z 157, 66, 69 bis 72 [juris Rn. 16 bis 23]; [X.], Urteil vom 20. November 2003 - [X.], [X.] 2004, 74 [juris Rn. 26 bis 32]; vgl. auch [X.], Urteil vom 21. September 2010, juris).

(2) An dieser Rechtsprechung hält der Senat angesichts der späteren Entscheidungen des Gerichtshofs der [X.] nicht fest. Danach ist Art. 31 Abs. 2 CMR, wenn es - wie hier - um parallel anhängige Verfahren in Mitgliedstaaten der [X.] geht, so auszulegen, dass er zu ebenso günstigen Ergebnissen führt wie sie in der [X.] vorgesehen sind (zu Art. 71 Brüssel-I-VO: [X.], Urteil vom 4. Mai 2010 - [X.]/08, [X.] 2010, 236 Rn. 49 und 51 - [X.]; Urteil vom 19. Dezember 2013 - [X.]/12, [X.] 2014, 26 Rn. 37 - Nipponkoa Insurance).

bb) Das vorliegende Verfahren und das Verfahren in den [X.] fallen nicht nur in den Anwendungsbereich der CMR, sondern auch in denjenigen der [X.]. Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit der Beförderung von Waren auf der Straße zwischen Mitgliedstaaten sind "Zivil- und Handelssachen" im Sinne von Art. 1 Abs. 1 [X.]. Außerdem gehört die Beförderung von Waren auf der Straße nicht zu den in dieser Vorschrift abschließend aufgezählten Bereichen, die vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossen sind (zu Art. 1 Abs. 1 Brüssel-I-VO: [X.], [X.] 2010, 236 Rn. 35 - [X.]).

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] betrifft eine auf die Verurteilung zur Zahlung von Schadensersatz gerichtete Klage denselben Anspruch im Sinne von Art. 29 Abs. 1 [X.] wie eine von dem entsprechenden Beklagten erhobene Klage auf Feststellung, dass er für diesen Schaden nicht haftet (zu Art. 21 des [X.] [EuGVÜ]: [X.], Urteil vom 6. Dezember 1994 - C-406/92, [X.]. 1994, [X.], [X.], 943 Rn. 45 - [X.]; zu Art. 5 Nr. 3 Brüssel-I-VO: [X.], Urteil vom 25. Oktober 2012 - [X.]/11, [X.], 287 Rn. 49 - Folien Fischer und Fofitec). Danach handelt es sich bei der in den [X.] von der Beklagten erhobenen negativen Feststellungsklage und dem vorliegenden Rechtsstreit, in dem eine denselben Sachverhalt betreffende Leistungsklage erhoben worden ist, um dieselbe Sache im Sinne von Art. 31 Abs. 2 CMR.

d) Eine Aussetzung nach Art. 31 Abs. 2 CMR in Verbindung mit Art. 29 [X.] scheidet im Streitfall jedoch deshalb aus, weil es nach den im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht angegriffenen Feststellungen des [X.] an einer Parteiidentität in den beiden Verfahren fehlt. Die Klägerin des vorliegenden Rechtsstreits ist an dem Verfahren in den [X.] nicht beteiligt.

2. Das Beschwerdegericht hat mit Recht angenommen, dass im Streitfall zu prüfen ist, ob eine Aussetzung wegen [X.] nach Art. 30 [X.] in Frage kommt.

a) Da die gegenüber der [X.] grundsätzlich vorrangige CMR (vgl. Art. 71 [X.]) keine Regelung zur Aussetzung eines Verfahrens wegen [X.] mit einem anderen Verfahren enthält, kann im Anwendungsbereich der [X.] insoweit Art. 30 [X.] angewandt werden. Sind bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren, die im Zusammenhang stehen, anhängig, so kann jedes später angerufene Gericht das Verfahren aussetzen (Art. 30 Abs. 1 [X.]). Verfahren stehen im Sinne dieser Regelung im Zusammenhang, wenn zwischen ihnen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten (Art. 30 Abs. 3 [X.]).

b) Das Beschwerdegericht hat angenommen, die in Rede stehenden Verfahren stünden in einem solchen Zusammenhang. Bei den Parteien beider Rechtsstreite handele es sich um die an dem Transport von [X.] am 15. September 2016 unmittelbar oder mittelbar Beteiligten. Beide Klagen hätten die Feststellung des Umfangs der Haftung der hiesigen Beklagten nach den Regelungen der CMR zum Gegenstand, insbesondere die Frage ob eine qualifizierte Haftung der Beklagten vorliege. Diese Beurteilung wird im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht angegriffen. Sie lässt auch keinen Rechtsfehler erkennen.

3. Die Rechtsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Beschwerdegericht die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens selbst getroffen hat.

a) Das Beschwerdegericht hat angenommen, die Aussetzung des vorliegenden Rechtsstreits sei geboten, da die in den [X.] erhobene negative Feststellungsklage die in [X.] erhobene Leistungsklage nicht verdränge. Werde in dem [X.] Verfahren festgestellt, dass die dortige Klägerin und hiesige Beklagte nicht über die Grenzen des Art. 23 Abs. 3 CMR hinaus hafte, könne auf die in [X.] später erhobene Leistungsklage eine Verurteilung der Beklagten nur bis zu der in Art. 23 Abs. 3 CMR genannten Haftungshöchstsumme erfolgen. Einer Aussetzung stehe nicht entgegen, dass die Beklagte [X.] um Verlängerung der Frist zur Stellungnahme auf die Haftbarhaltung vom 16. Mai 2017 durch die [X.] gebeten habe, die Fristverlängerung gewährt worden sei und die Beklagte während dieser Frist die negative Feststellungsklage in den [X.] erhoben habe. Das im [X.] Recht geltende Missbrauchsverbot gelange wegen des Vorrangs des Unionsrechts nicht zur Anwendung. Im Übrigen lägen die Voraussetzungen eines Verfahrensmissbrauchs nicht vor.

b) Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Beschwerdegericht hätte den angefochtenen Beschluss aufheben und die Sache an das erstinstanzliche Gericht zurückverweisen müssen. Es war nicht befugt, sein Ermessen an die Stelle des dem Erstgericht eingeräumten Ermessens zu setzen.

aa) Bei der Entscheidung, ein Verfahren nach Art. 30 Abs. 1 [X.] auszusetzen, handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, wie sich aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt, nach dem das Gericht die Aussetzung anordnen "kann".

Im Beschwerde- und im Rechtsbeschwerdeverfahren kann zwar in vollem Umfang überprüft werden, ob auf Tatbestandsseite ein Aussetzungsgrund vorliegt ([X.], Beschluss vom 12. Dezember 2005 - [X.], NJW-RR 2006, 1289 Rn. 6). Das Beschwerdegericht und das Rechtsbeschwerdegericht dürfen aber auf [X.] eine Ermessensausübung des erstinstanzlichen Gerichts nur darauf überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten oder ob Ermessenfehler gegeben sind ([X.], Beschluss vom 3. März 2005 - [X.], NJW-RR 2005, 925, 926 [juris Rn. 5]; Beschluss vom 22. Juni 2011 - [X.], NJW-RR 2011, 1343 Rn. 11; Beschluss vom 8. April 2014 - [X.], NJW-RR 2014, 758 Rn. 12). Dabei ist zu prüfen, ob das erstinstanzliche Gericht alle wesentlichen Gesichtspunkte in seine Entscheidung einbezogen hat. Ob es zweckmäßig ist, ein Verfahren auszusetzen, kann hingegen nicht nachgeprüft werden ([X.], GRUR 1979, 850, 851; [X.]ZPO/[X.], 5. Aufl., § 252 Rn. 18). Dem Beschwerdegericht sind eigene Zweckmäßigkeitserwägungen verwehrt (KG, [X.] 2007, 736 [juris Rn. 5]; [X.], 32. Edition [Stand: 1. März 2019], § 252 Rn. 8). Es darf die Beurteilung der Sach- und Rechtslage des erstinstanzlichen Gerichts nicht prüfen; diese Prüfung bleibt einem etwaigen späteren Rechtsmittelverfahren gegen die Sachentscheidung vorbehalten ([X.], [X.] 2001, 238 [juris Rn. 7]; [X.]/[X.], ZPO, 32. Aufl., § 252 Rn. 3).

Das Beschwerdegericht darf bei Vorliegen von [X.] die Aussetzungsentscheidung lediglich aufheben ([X.], NJW 1980, 2534; [X.], Beschluss vom 2. Januar 2012 - 6 W 74/11, BeckRS 2012, 02310; [X.], Beschluss vom 30. August 2012 - 12 Ta 197/12, BeckRS 2012, 73390). Dies gilt auch dann, wenn das erstinstanzliche Gericht sein Ermessen nicht ausgeübt hat. Darin liegt ein zur Aufhebung der Aussetzungsentscheidung führender Ermessensfehler ([X.], Beschluss vom 2. Juli 2018 - 10 WF 100/18, juris Rn. 3; [X.], Beschluss vom 17. Dezember 2003 - 3 Ta 384/03, juris Rn. 6 bis 8; [X.], Beschluss vom 30. August 2012 - 12 Ta 197/12, juris Rn. 8 und 16). Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Ermessen auf Null reduziert ist ([X.], NJW-RR 2005, 925, 926 [juris Rn. 7]; [X.], Beschluss vom 5. November 2008 - [X.], NJW-RR 2009, 366 Rn. 28; [X.] aaO § 252 Rn. 8).

bb) Im Streitfall liegt ein Fall des Ermessensnichtgebrauchs vor.

(1) Das [X.] hat angenommen, nach Art. 31 Abs. 2 CMR sei die Entscheidung über die in den [X.] zuerst erhobene negative Feststellungsklage bindend und vorgreiflich für den vorliegenden Rechtsstreit. Art. 31 Abs. 2 CMR sei dahingehend auszulegen, dass ein negatives Feststellungsurteil und eine Rückgriffsklage wegen desselben Schadens zwischen denselben Parteien oder deren Rechtsnachfolgern denselben Anspruch betreffe. Das [X.] ist danach davon ausgegangen, dass es sich bei der Entscheidung über die Aussetzung um eine gebundene Entscheidung handelt, bei der dem angerufenen Gericht kein Ermessen eingeräumt wird.

(2) Das Beschwerdegericht ist zu dem zutreffenden Ergebnis gelangt, dass zwar der vom erstinstanzlichen Gericht angenommene zwingende Aussetzungsgrund nicht vorliegt, dass aber ein anderer Aussetzungsgrund gegeben ist, bei dem die Aussetzung in das Ermessen des Gerichts gestellt wird. Da das [X.], wenn auch von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig, kein Ermessen ausgeübt hat, muss die Sache an das Gericht erster Instanz zurückverwiesen werden, damit es die in seine Zuständigkeit fallende Ermessensentscheidung treffen kann.

IV. Danach kann die Entscheidung des [X.] keinen Bestand haben. Sie ist aufzuheben. Auf die sofortige Beschwerde der Klägerin ist der angefochtene Aussetzungsbeschluss aufzuheben und die Sache an das [X.] zurückzuverweisen. Das [X.] wird zu entscheiden haben, ob der Rechtsstreit gemäß Art. 30 Abs. 1 [X.] auszusetzen ist, wobei diese Entscheidung in seinem pflichtgemäßen Ermessen liegt.

Es kommt entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde nicht in Betracht, das [X.] anzuweisen, den Rechtsstreit fortzusetzen. Die Rechtsbeschwerde macht ohne Erfolg geltend, die nachzuholende Ermessensausübung könnte nur zur Ablehnung der Verfahrensaussetzung führen. Es ist nicht ersichtlich, dass im Streitfall allein eine die Aussetzung des Rechtsstreits ablehnende Entscheidung ermessensfehlerfrei wäre.

Bei der Ausübung des Ermessens ist vom Zweck des Art. 30 Abs. 1 [X.] auszugehen, eine bessere Koordinierung der [X.] zu verwirklichen und die Inkohärenz von Entscheidungen und den Widerspruch zwischen Entscheidungen zu vermeiden, selbst wenn diese getrennt vollstreckt werden können (zu Art. 22 EuGVÜ: [X.], [X.], 943 Rn. 55 - [X.]). Dabei können unter anderem folgende Gesichtspunkte eine Rolle spielen: Der Grad des Zusammenhangs beider Verfahren und der Gefahr widersprechender Entscheidungen, die Interessen der Parteien, die Förderung der Prozessökonomie, Stand und Dauer der Verfahren, die Sach- und Beweisnähe der Gerichte und die Zuständigkeit des Erstgerichts ([X.], Urteil vom 19. Februar 2013 - [X.], [X.]Z 196, 180 Rn. 24).

V. Eine Kostenentscheidung ergeht nicht. Die Ausgangsentscheidung des [X.]s über die Aussetzung des Verfahrens darf als Teil der Hauptsache keine Kostenentscheidung enthalten. Das durch diese Aussetzungsentscheidung ausgelöste Beschwerdeverfahren und das anschließende Rechtsbeschwerdeverfahren stellen daher nur einen Bestandteil des Hauptverfahrens dar (vgl. [X.], NJW-RR 2006, 1289 Rn. 12). Die Kosten des Beschwerde- und des Rechtsbeschwerdeverfahrens, die durch eine Aussetzungsentscheidung ausgelöst werden, bilden einen Teil der Kosten des Rechtsstreits, die unabhängig vom Ausgang des Beschwerde- und Rechtsbeschwerdeverfahrens die nach §§ 91 ff. ZPO in der Sache unterliegende Partei zu tragen hat ([X.], Beschluss vom 1. Juni 2006 - [X.], [X.], 1268 [juris Rn. 2]; Beschluss vom 30. November 2010 - [X.], [X.], 110 Rn. 18 mwN; [X.], NJW-RR 2014, 758 Rn. 26).

Der Senat setzt den Gegenstandswert mit einem Fünftel des Werts der Hauptsache fest ([X.], [X.] 2002, 479; [X.], Beschluss vom 29. März 2006 - 19 W 12/06, juris Rn. 10). In entsprechender Weise war auch in Abänderung der Festsetzung durch das Beschwerdegericht der Wert für das Beschwerdeverfahren festzusetzen.

Koch     

      

Löffler     

      

Schwonke

      

Feddersen     

      

Schmaltz     

      

Meta

I ZB 82/18

25.07.2019

Bundesgerichtshof 1. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend OLG Düsseldorf, 9. Oktober 2018, Az: 18 W 15/18, Beschluss

Art 31 Abs 1 CMR, Art 31 Abs 2 S 1 CMR, Art 29 Abs 1 EUV 1215/2012, Art 30 Abs 1 EUV 1215/2012

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.07.2019, Az. I ZB 82/18 (REWIS RS 2019, 5070)

Papier­fundstellen: MDR 2019, 1524-1525 REWIS RS 2019, 5070


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. I ZB 82/18

Bundesgerichtshof, I ZB 82/18, 25.07.2019.


Az. 18 W 15/18

Oberlandesgericht Düsseldorf, 18 W 15/18, 09.10.2018.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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