Bundessozialgericht, Beschluss vom 09.10.2012, Az. B 5 R 196/12 B

5. Senat | REWIS RS 2012, 2558

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - Versäumung der Berufungsfrist - Urlaubsabwesenheit - kein Verschuldensvorwurf bei faktischem Stillstand des vorangegangenen Gerichtsverfahrens - Grundsatz des fairen Verfahrens - Verbot des widersprüchlichen Verhaltens - Rücksichtnahmegebot - überlange Verfahrensdauer


Leitsatz

Sorgt ein Verfahrensbeteiligter nicht dafür, dass ihn Gerichtspost während einer Urlaubsabwesenheit im Bereich von etwa 6 Wochen erreicht, und versäumt er deshalb eine gesetzliche Verfahrensfrist, so entfällt im Wiedereinsetzungsverfahren ein Schuldvorwurf, wenn das vorangegangene Gerichtsverfahren aufgrund staatlichen Fehlverhaltens faktisch zum Stillstand gekommen war.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird der Beschluss des [X.] vom 12. April 2012 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten über eine höhere Regelaltersrente. Der Kläger stimmte am 10.7.2009 einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zu, nachdem ihn das [X.] zum Betreiben des Verfahrens aufgefordert und ihn gleichzeitig über den Eintritt der Klagerücknahmefiktion belehrt hatte, weil er es versäumt habe, ein - nicht aktenkundiges - Schreiben des Gerichts innerhalb von 13 Tagen zu beantworten. Das [X.] wies die Klage - ohne mündliche Verhandlung - durch Urteil vom 24.11.2011 ab und ließ es dem Kläger am 15.12.2011 durch Einlegen in dessen Wohnungsbriefkasten zustellen. Der Kläger war jedoch am 12.12.2011 urlaubsbedingt nach [X.] gereist und kehrte erst am 25.1.2012 nach [X.] zurück. Am 26.1.2012 legte er Berufung ein und beantragte Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist. Das L[X.] hat die Berufung verworfen und die Revision nicht zugelassen (Beschluss vom 12.4.2012): Die einmonatige Berufungsfrist sei versäumt; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu gewähren. Denn der Kläger habe keine besonderen Vorkehrungen dafür getroffen, dass ihn eingehende Sendungen erreichten, obwohl hierzu angesichts des laufenden Klageverfahrens besonderer Anlass bestanden habe. Auch wenn das Verfahren über längere [X.] nicht gefördert worden sei, habe er mit dessen Fortsetzung rechnen müssen. Um einen Schuldvorwurf zu vermeiden, habe der Kläger vor Reiseantritt zumindest eine Sachstandsanfrage an das [X.] richten oder seine bevorstehende längere Abwesenheit mitteilen müssen. Gegen die Nichtzulassung der Revision hat der Kläger beim B[X.] Beschwerde eingelegt und einen Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 [X.] iVm § 67 Abs 1 [X.]G geltend gemacht.

2

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.

3

Der Kläger hat ordnungsgemäß dargetan, dass das L[X.] gegen § 67 Abs 1 [X.]G verstoßen habe und das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruhen könne 160 Abs 2 [X.] 3 iVm § 160a Abs 2 S 3 [X.]G).

4

Der gerügte Verfahrensmangel liegt auch vor. Gemäß § 67 Abs 1 [X.]G (iVm § 153 Abs 1 [X.]G) ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Der Kläger hat die gesetzliche Verfahrensfrist des § 151 Abs 1 [X.]G nicht eingehalten. Danach ist die Berufung bei dem L[X.] innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Das Urteil des [X.] ist dem Kläger am 15.12.2011 - mit zutreffender Rechtsmittelbelehrung (§ 66 [X.]G) - durch Einlegen in den zu seiner Wohnung gehörenden Briefkasten (§ 63 Abs 2 [X.] iVm § 180 [X.] und 2 ZPO) im Inland wirksam zugestellt (§ 133 [X.], § 135 [X.]G) worden. Damit begann die einmonatige Berufungsfrist am 16.12.2011 (§ 64 Abs 1 [X.]G) und lief am Montag, dem 16.1.2012 ab (§ 64 Abs 2 [X.] und Abs 3 [X.]G). Die Berufung ist jedoch erst am 26.1.2012 und damit verspätet beim L[X.] eingegangen.

5

Der Kläger war aus tatsächlichen Gründen "verhindert", die Berufungsfrist einzuhalten. Denn er hielt sich während der einmonatigen Berufungsfrist (§ 151 Abs 1 [X.]G) urlaubsbedingt im Ausland auf und erfuhr von der Ersatzzustellung des Urteils erst nach seiner Rückkehr am 25.1.2012. Dieses Fristversäumnis des schuldfähigen (vgl § 276 Abs 1 S 2, § 827 [X.], § 104 [X.]) [X.] erfolgte "ohne Verschulden", dh weder vorsätzlich noch fahrlässig. Es existieren keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger die Berufungsfrist vorsätzlich verpasste, weil er das Fristversäumnis zumindest billigend in Kauf nahm (bedingter Vorsatz). Fahrlässig handelt, wer diejenige Sorgfalt außer [X.] lässt, die einem gewissenhaften Prozessführenden, der seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnimmt, nach den Gesamtumständen des konkreten Falles zuzumuten ist (B[X.] Beschlüsse vom 24.10.2007 - [X.]a [X.]/07 B - [X.] 4-1500 § 67 [X.] Rd[X.] 14 und vom 11.12.2008 - [X.] [X.] 34/08 B - Juris Rd[X.]) und deshalb die Möglichkeit der Fristversäumnis entweder gar nicht voraussieht (unbewusste Fahrlässigkeit) oder nicht vermeidet (bewusste Fahrlässigkeit).

6

Welche Sorgfalt einem Bürger, der eine ständige Wohnung besitzt und diese nur vorübergehend während eines Urlaubs nicht benutzt, allgemein zuzumuten ist, hat das [X.] - mit Bindungswirkung gemäß § 31 Abs 1 [X.]G ([X.] Beschlüsse vom 10.6.1975 - 2 BvR 1018/74 - [X.]E 40, 88, 93 f und vom [X.] - 2 BvR 1099/74 - [X.]E 40, 182, 186 f) - bereits mehrfach entschieden ([X.] Beschlüsse vom [X.] - 2 BvR 724/67 - [X.]E 25, 158, 166, vom [X.] - 2 BvR 753/68 - [X.]E 26, 315, 319 und vom 16.11.1972 - 2 BvR 21/72 - [X.]E 34, 154, 156 f). Danach braucht niemand während eines mehrwöchigen Urlaubs für diese [X.] besondere Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen. Der Staatsbürger könne damit rechnen, dass er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erhalte, falls ihm während seiner Urlaubsabwesenheit etwa eine Strafverfügung oder ein Bußgeldbescheid durch Niederlegung bei der Post zugestellt werde und er aus Unkenntnis dieser Ersatzzustellung die Einspruchsfrist versäumen sollte. Andernfalls wäre sein Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG) verletzt. Diese Grundsätze hat das B[X.] uneingeschränkt auf das sozialgerichtliche Verfahren übertragen (B[X.] Urteil vom [X.] - 8 RU 130/75 - [X.] 1500 § 67 [X.] 6) und ergänzend festgelegt, dass sie auch gölten, wenn der Betroffene mit der Zustellung eines sozialgerichtlichen Urteils habe rechnen müssen. Zur Höchstdauer einer unschädlichen Urlaubsreise in diesem Sinne hat das [X.] ausgeführt, die urlaubsbedingte Abwesenheit von einer sonst ständig benutzen Wohnung dürfe nur vorübergehend und relativ kurzfristig sein; "zu denken wäre an längstens etwa sechs Wochen" ([X.] Beschluss vom 11.2.1976 - 2 BvR 849/75 - [X.]E 41, 332, 336). Mit dem vorangestellten Adverb "längstens" (iS von "keinesfalls länger als") verdeutlicht das [X.] einerseits, dass es eine zeitliche Obergrenze gibt, und lässt mit dem nachgestellten vagen Adverb "etwa" (iS von "ungefähr") andererseits bewusst Raum für die Berücksichtigung der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls. Damit bleibt der Grenzwert variabel und kann im Einzelfall oberhalb oder auch unterhalb von sechs Wochen anzusiedeln sein (vgl dazu auch [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 10. Aufl 2012, § 67 Rd[X.]a). Der Sechs-Wochen-[X.]raum als Richtwert für urlaubsbedingte [X.] lässt sich auf die (generelle) Tatsache zurückführen, dass eine deutliche Mehrheit der tarifvertraglich erfassten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer "Anspruch auf eine Urlaubsdauer von 6 Wochen oder mehr" hat und der durchschnittliche tarifvertragliche Urlaubsanspruch im früheren [X.] 31 Arbeitstage und im Beitrittsgebiet 30 Arbeitstage beträgt ([X.], herausgegeben vom [X.], Stand: November 2011, 4.9).

7

Eine Urlaubsreise von sechs Wochen und zwei Tagen, wie sie der Kläger unternommen hat, lässt sich unter den Begriff "etwa sechs Wochen“ subsumieren. Betrachtet man zudem den Reisezeitraum vom 12.12.2011 bis 25.1.2012 konkret, so hätte ein Arbeitnehmer (mit [X.]) dafür 31 Urlaubstage aufwenden müssen, wobei berücksichtigt ist, dass innerhalb dieses [X.]raums ein gesetzlicher Feiertag (26.12.2011) auf einen Montag fiel. Der [X.]urlaub des [X.] bewegte sich mithin noch im Rahmen des durchschnittlichen tarifvertraglichen Urlaubsanspruchs. Lässt sich unter diesen Umständen die urlaubsbedingte Abwesenheit des [X.] mit guten Gründen unter den (unscharfen) Begriff "längstens etwa sechs Wochen" fassen, entfällt ein Schuldvorwurf. Ist nämlich eine bestimmte Auslegung höchstrichterlicher Rechtssätze, die sich innerhalb des möglichen [X.] bewegt, möglich und vertretbar, kann dem Rechtsuchenden nicht vorgeworfen werden, sich diese Interpretation zu Eigen gemacht zu haben. Denn ihm darf bei unklarer Rechtslage nicht das Subsumtionsrisiko vager Rechtsbegriffe aufgebürdet werden.

8

Der unvertretene Kläger durfte aber auch von [X.] wegen darauf vertrauen, dass er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erhalten werde, wenn ihm während seines "etwa" sechswöchigen Urlaubs ein (belastendes) Urteil zugestellt werden und er aus Unkenntnis dieser Ersatzzustellung die Berufungsfrist versäumen sollte. Denn das [X.] hat das allgemeine verfassungsrechtliche Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren verletzt, das auf Art 1 Abs 1, Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG und auf Art 19 Abs 4 GG ([X.] Beschlüsse vom 8.10.1974 - 2 BvR 747/73 - [X.]E 38, 105, 111, vom 26.5.1981 - 2 BvR 215/81 - [X.]E 57, 250, 275, vom [X.] ua - [X.]E 78, 123, vom 14.10.2003 - 1 BvR 901/03 - NVwZ 2004, 334 sowie Nichtannahmebeschluss der [X.] des 1. Senats vom [X.] - 1 BvR 2147/00 - NJW 2001, 1343 und Kammerbeschluss der [X.] des 1. Senats vom 15.4.2004 - 1 BvR 622/98 - NJW 2004, 2149, 2150; [X.], [X.], 377, 378) und auf Art 6 Abs 1 [X.] [X.] beruht (B[X.] Beschluss vom 17.12.2010 - [X.] U 278/10 B - Juris Rd[X.] 4). Danach darf sich das Gericht nicht widersprüchlich verhalten ([X.] Beschluss vom 14.5.1985 - 1 BvR 370/84 - [X.]E 69, 381, 387), darf aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten ([X.] Beschlüsse vom [X.] - 1 BvR 1077/77 - [X.]E 51, 188, 192, vom [X.] - 1 BvR 1379/80 - [X.]E 60, 1, 6 und vom [X.] - 1 BvR 162/84 - [X.]E 75, 183, 190) und ist allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet ([X.] Beschlüsse vom 8.10.1974 - 2 BvR 747/73 - [X.]E 38, 105, 111 ff, vom 10.6.1975 - 2 BvR 1074/74 - [X.]E 40, 95, 98 f und vom 19.10.1977 - 2 BvR 462/77 - [X.]E 46, 202, 210). Diese Grundsätze haben [X.] und L[X.] nicht ausreichend beachtet. Das [X.] hatte mit seiner Anfrage vom [X.], ob der Kläger einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zustimme, bereits signalisiert, dass die Sache entscheidungsreif sei, und damit gleichzeitig die Erwartung geweckt, es werde nach Eingang der Einverständniserklärung rasch entschieden. Diese Erwartung enttäuschte das [X.] durch seine 28monatige Untätigkeit und verhielt sich damit widersprüchlich. Es ist jedoch mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens, dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens und dem [X.] unvereinbar, von einem Verfahrensbeteiligten zu verlangen, er müsse im Hinblick auf etwaige Handlungen des Gerichts jahrelang in einer prozessbezogenen "Hab-[X.]-Stellung" verharren oder über seine jeweiligen Aufenthaltsorte informieren, obwohl das Verfahren - wie hier - verfahrensfehlerhaft zum Stillstand gekommen ist. Dies gilt ungeachtet des Umstandes, dass Sachstandsanfragen der Beklagten vom Gericht weder beantwortet noch dem Kläger zur Kenntnis zugeleitet wurden. Ebenso kann offenbleiben, ob überhaupt eine ausdrückliche und eindeutige Erklärung der Beklagten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung vorlag.

9

Soweit sich das L[X.] auf den Nichtannahmebeschluss der [X.] des 1. Senats des [X.] vom [X.] (1 BvR 685/07 - NJW 2007, 3486) und den Beschluss des B[X.] vom 14.11.2008 (B 12 KR 82/07 B - Juris) beruft, gilt nichts anderes. Der Kammerbeschluss des [X.] hat - anders als die zitierten Senatsbeschlüsse des [X.] - schon keine Bindungswirkung iS des § 31 Abs 1 [X.]G ([X.] Beschluss vom 7.3.1968 - 2 BvR 354/66 ua - [X.]E 23, 191, 207; vgl auch Senatsurteil vom 14.12.2011 - [X.] R 2/10 R - Juris Rd[X.] 44): Beiden Entscheidungen kommt zudem keine materielle Rechtskraft zu, weil sie lediglich die Zulässigkeit einer [X.]beschwerde bzw Nichtzulassungsbeschwerde verneinen. Sie stellen die oben genannten höchstrichterlichen Rechtssätze aber auch inhaltlich nicht in Frage. Denn nach beiden Entscheidungen obliegt es einem Verfahrensbeteiligten lediglich dann, seinen Posteingang zu kontrollieren und für eine rechtzeitige Erledigung fristwahrender Handlungen zu sorgen, wenn er "erwarten musste", dass während seiner Abwesenheit Fristen in Lauf gesetzt oder Termine bestimmt werden. Ein künftiges Ereignis ist aber nur zu "erwarten", wenn es prognostisch zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Für eine derartige Wahrscheinlichkeitsaussage benötigt der Verfahrensbeteiligte konkrete Anhaltspunkte, wie zB einen bereits zurückliegenden [X.] ([X.] Beschluss vom [X.] - II Z[X.]2/99 - NJW 2000, 3143), die Anhängigkeit eines Eilverfahrens (vgl [X.], aaO, § 67 Rd[X.]a), das Scheitern von Vergleichsverhandlungen und der Ablauf einer zuvor gesetzten Zahlungsfrist ([X.] Nichtannahmebeschluss vom [X.] - 1 BvR 685/07 - NJW 2007, 3486) oder die Information über eine beabsichtigte baldige Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung. Als der Kläger seine Auslandsreise antrat, existierten keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die Kammer bereits ein Urteil ohne mündliche Verhandlung gefällt hatte und ihm in der ersten Urlaubswoche zustellen würde, nachdem 28 Monate zuvor nichts geschehen war. Die bloße Möglichkeit oder gewisse Wahrscheinlichkeit, dass das [X.] während der ersten Urlaubsphase mit der Ersatzzustellung eines belastenden Urteils die einmonatige Berufungsfrist in Gang setzen würde, verdichtete sich nicht allein deshalb zu einer hohen Wahrscheinlichkeit, weil ein Gerichtsverfahren anhängig und - entgegen Art 19 Abs 4 [X.] GG, Art 6 Abs 1 [X.] - trotz [X.] seit 28 Monaten nicht mehr gefördert worden war. Das [X.] hatte damit gleichermaßen die normative Erwartung des [X.], Rechtschutz "innerhalb angemessener Frist" (Art 6 Abs 1 [X.] [X.]) zu erhalten, wie auch dessen faktische Erwartung enttäuscht, nach Erklärung seines Einverständnisses mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zeitnah eine Entscheidung zu erhalten. Die Rückkehr des [X.] zu einer prozessordnungsgemäßen Vorgehensweise war gänzlich ungewiss. Umgekehrt oblag es nicht dem Kläger, die überlange Verfahrensdauer, die auf staatlichem Fehlverhalten beruhte, mit besonderen Vorkehrungen für etwaige Zustellungen zu kompensieren (in diesem Sinne [X.]/[X.], VwGO, 18. Aufl 2012, § 60 Rd[X.] 10 Fußnote 35: abgeschwächte Anforderungen, "selbst bei anhängigen Verfahren, wenn längere [X.] nichts mehr 'los' war").

Auf dem Verfahrensmangel kann die angefochtene Entscheidung beruhen. Hätte das L[X.] dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt, dann hätte es die Berufung aller Voraussicht nach für zulässig erachtet und nicht als unzulässig verworfen. Dann wäre anstelle eines Prozessurteils eine Sachentscheidung ergangen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Sachentscheidung zugunsten des [X.] ausgefallen wäre.

Nach § 160a Abs 5 [X.]G kann das erkennende Gericht in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Das L[X.] wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 5 R 196/12 B

09.10.2012

Bundessozialgericht 5. Senat

Beschluss

Sachgebiet: R

vorgehend SG Hamburg, 24. November 2011, Az: S 4 R 666/08, Urteil

§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 67 Abs 1 SGG, § 151 Abs 1 SGG, Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 19 Abs 4 S 1 GG, Art 6 Abs 1 MRK

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 09.10.2012, Az. B 5 R 196/12 B (REWIS RS 2012, 2558)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 2558

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