Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 08.12.2022, Az. 1 C 59/20

1. Senat | REWIS RS 2022, 9484

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Tenor

Die Revision der Kläger gegen das Urteil des [X.] vom 22. September 2020 wird zurückgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Tatbestand

1

Die Kläger sind syrische Staatsangehörige und begehren die Erteilung von [X.] zum Familiennachzug zu ihrem im [X.] lebenden und als subsidiär schutzberechtigt anerkannten [X.] beziehungsweise Bruder (Stammberechtigter).

2

Die Kläger zu 1 und 2 sind die Eltern, der Kläger zu 3 ist der Bruder des am 1. Januar 2001 in [X.] geborenen Stammberechtigten. Dieser reiste im Oktober 2015 gemeinsam mit seinem später als Vormund bestellten Onkel in das [X.] ein und stellte am 18. März 2016 einen Asylantrag. Das [X.] ([X.]) erkannte ihm mit Bescheid vom 14. September 2016 den subsidiären Schutzstatus zu und lehnte den Antrag im Übrigen ab. Im Mai 2017 wurde ihm erstmals eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 [X.] erteilt, die jeweils verlängert wurde.

3

Am 7. November 2018 beantragten die Kläger die Erteilung von [X.] zum Familiennachzug beim Generalkonsulat in [X.]/[X.]. Die Anträge wurden mit Bescheiden der Auslandsvertretung vom 18. Dezember 2018 abgelehnt.

4

Die hiergegen gerichtete Klage ist erfolglos geblieben. Das Oberverwaltungsgericht hat auch die Berufung der Kläger mit Urteil vom 22. September 2020 zurückgewiesen. Die Versagung der Erteilung von [X.] zum Familiennachzug durch die Beklagte sei rechtmäßig. Der Stammberechtigte sei zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr minderjährig gewesen. Nach Sinn und Zweck und dem systematischen Zusammenhang von § 36a [X.] gehe der im Ermessen der Beklagten stehende Anspruch der Eltern auf Nachzug zu ihre im [X.] lebenden subsidiär schutzberechtigten Kind unter, wenn das bei der [X.] noch minderjährige Kind im Laufe des Verwaltungsverfahrens oder des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens volljährig werde. Sei das Kind bereits vor der Einreise der Eltern volljährig geworden, könnten diese nach ihrer Einreise in das [X.] keine "reguläre" Aufenthaltserlaubnis (mehr) erlangen, weil weder § 36a [X.] noch eine sonstige Vorschrift ein von dem Aufenthaltsrecht des Kindes unabhängiges Aufenthaltsrecht der Eltern normiere. Dies stehe mit höherrangigem Recht im Einklang. Die Kläger zu 1 und 2 könnten sich insbesondere nicht auf die zu Art. 10 Abs. 3 Buchst. a [X.] 2003/86/[X.] ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] berufen, die allein den Elternnachzug zu minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen betreffe. Diese Richtlinie sei auf den Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen zu einem subsidiär Schutzberechtigten nicht anwendbar. Auf den in Art. 23 [X.] 2011/95/[X.] geregelten Schutz des Familienverbandes könnten sich die Kläger nicht berufen, da sich diese nicht bereits im Mitgliedstaat befänden. Schließlich widerspräche es weder menschenrechtlichen noch verfassungsrechtlichen Vorgaben, den Elternnachzug im Sinne von § 36a Abs. 1 Satz 2 [X.] zu versagen, wenn das bereits im [X.] lebende Kind während des Verwaltungsverfahrens oder des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens volljährig geworden sei. Dem stehe nicht entgegen, dass die nachzugswilligen Eltern den Verlust ihres Anspruchs auf ermessensfehlerfreie Entscheidung aus § 36a Abs. 1 Satz 2 [X.] nicht steuern könnten, weil die Dauer des Visumverfahrens und eines sich gegebenenfalls daran anschließenden Verwaltungsstreitverfahrens in der Regel ihrem Einfluss entzogen sei. Der nach Art. 19 Abs. 4 GG gebotene Rechtsschutz könne bei drohendem Zeitablauf wegen bevorstehender Volljährigkeit im Wege einstweiliger Anordnung gemäß § 123 VwGO erreicht werden. Die Voraussetzungen des § 22 Satz 1 und § 36 Abs. 2 [X.] lägen offensichtlich nicht vor. Da den Klägern zu 1 und 2 kein Anspruch auf Familiennachzug zustehe, könne auch der Kläger zu 3 als ihr minderjähriger [X.] kein derartiges Visum beanspruchen.

5

Zur Begründung der Revision machen die Kläger geltend, dass die Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] vom 12. April 2018 - [X.]/16 [[X.]:[X.]:C:2018:248] - auch für den Nachzug zum subsidiär Schutzberechtigten gelten müsse. Das Recht auf Familienzusammenführung aus der Richtlinie 2003/86/[X.] und damit die Bestimmung des für die Beurteilung der Minderjährigkeit maßgeblichen Zeitpunkts sei nicht in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt. Die Abhängigkeit des Rechts auf Familienzusammenführung vom Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung dürfe nicht dessen praktische Wirksamkeit infrage stellen. Dies laufe nicht nur den Zielen der Richtlinie entgegen, sondern auch den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit. Die Auffassung, dass die [X.] Rechtslage, nach der die nachgezogenen Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nur bis zu dessen Volljährigkeit haben, sei mit Art. 16 Abs. 1 [X.] 2003/86/[X.] und der zu Art. 10 Abs. 3 und Art. 2 Buchst. f der Richtlinie ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] nicht vereinbar. Die vom Berufungsgericht vorgenommene Differenzierung zwischen Flüchtlingseigenschaft und subsidiärem Schutzstatus verstoße gegen die Richtlinie und den Gleichheitsgrundsatz.

6

Die Beklagte verteidigt das Urteil des [X.].

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision der Kläger ist ni[X.]ht begründet. Im Einklang mit Bundesre[X.]ht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) hat das Oberverwaltungsgeri[X.]ht erkannt, dass die Kläger keinen Anspru[X.]h auf Erteilung eines nationalen Visums (§ 6 Abs. 3 [X.]) zum Familienna[X.]hzug zu dem als subsidiär s[X.]hutzbere[X.]htigt anerkannten [X.] haben. Zum maßgebli[X.]hen Zeitpunkt der Ents[X.]heidung des [X.] (1.) hatten sie keinen Na[X.]hzugsanspru[X.]h na[X.]h § 36a [X.], weil der Stammbere[X.]htigte ni[X.]ht mehr minderjährig war (2.). Na[X.]h den bindenden Feststellungen des [X.] liegt weder eine dur[X.]h die familiäre Situation begründete außergewöhnli[X.]he Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 [X.] vor (3.), no[X.]h haben die Kläger einen Anspru[X.]h auf Familienna[X.]hzug aus dringenden humanitären Gründen na[X.]h § 22 Satz 1 [X.] (4.).

8

1. Maßgebli[X.]h für die Beurteilung der Sa[X.]h- und Re[X.]htslage ist bei [X.] auf Erteilung eines Aufenthaltstitels - wie der vorliegenden - grundsätzli[X.]h der Zeitpunkt der letzten mündli[X.]hen Verhandlung oder Ents[X.]heidung in der Tatsa[X.]heninstanz. Re[X.]htsänderungen, die dana[X.]h eintreten, sind vom Revisionsgeri[X.]ht zu berü[X.]ksi[X.]htigen, wenn sie das [X.], wenn es jetzt ents[X.]hiede, zu bea[X.]hten hätte (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 17. Dezember 2015 - 1 C 31.14 - BVerwGE 153, 353 Rn. 9 und vom 21. August 2018 - 1 C 22.17 - NVwZ 2019, 417 Rn. 11 m. w. N.). Der Ents[X.]heidung sind daher zum einen das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im [X.] ([X.] - [X.]) vom 30. Juli 2004 ([X.] I S. 1950) in der Fassung der Bekanntma[X.]hung vom 25. Februar 2008 ([X.] I S. 162), zuletzt geändert dur[X.]h Art. 3 des Gesetzes vom 9. Juli 2021 zur Weiterentwi[X.]klung des [X.] ([X.] I S. 2467 <2502>), sowie das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntma[X.]hung vom 2. September 2008 ([X.] I S. 1798), zuletzt geändert dur[X.]h das Gesetz vom 23. Mai 2022, zugrunde zu legen. [X.] maßgebli[X.]h sind die Ri[X.]htlinie 2003/86/[X.] vom 22. September 2003 betreffend das Re[X.]ht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251 S. 12 - [X.] 2003/86/[X.]) und die Ri[X.]htlinie 2011/95/[X.] des [X.] und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspru[X.]h auf internationalen S[X.]hutz, für einen einheitli[X.]hen Status für Flü[X.]htlinge oder für Personen mit Anre[X.]ht auf subsidiären S[X.]hutz und für den Inhalt des zu gewährenden S[X.]hutzes (ABl. L 337 S. 9 - [X.] 2011/95/[X.]).

9

2. Im Einklang mit Bundesre[X.]ht hat das Oberverwaltungsgeri[X.]ht einen Anspru[X.]h der Kläger auf Familienna[X.]hzug verneint.

a) Ein sol[X.]her Anspru[X.]h der Kläger zu 1 und 2 auf [X.] folgt ni[X.]ht aus § 36 Abs. 1 [X.] in der bis zum 31. Juli 2018 gültigen Fassung. Die Vors[X.]hrift findet na[X.]h § 104 Abs. 13 Satz 1 [X.] Anwendung auf den Familienna[X.]hzug zu Ausländern, denen bis zum 17. März 2016 eine Aufenthaltserlaubnis na[X.]h § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 [X.] erteilt worden ist, wenn der Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zwe[X.]ke des Familienna[X.]hzuges zu dem Ausländer bis zum 31. Juli 2018 gestellt worden ist. Diese Voraussetzungen sind hier ni[X.]ht erfüllt. Dem [X.] wurde eine Aufenthaltserlaubnis im Mai 2017 erteilt. Die Kläger stellten ihren Visumantrag am 7. November 2018. Der Kläger zu 3 hat keinen Anspru[X.]h auf Kinderna[X.]hzug na[X.]h § 32 Abs. 1 [X.], weil seine Eltern ni[X.]ht im Besitz des erforderli[X.]hen Aufenthaltstitels sind.

b) Einen Anspru[X.]h der Kläger zu 1 und 2 na[X.]h § 36a [X.] hat das Oberverwaltungsgeri[X.]ht zutreffend verneint, weil der Stammbere[X.]htigte zum maßgebli[X.]hen Zeitpunkt der Ents[X.]heidung des [X.] am 22. September 2020 bereits volljährig war.

aa) Na[X.]h § 6 Abs. 3 i. V. m. § 36a Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Satz 1 [X.] kann den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis na[X.]h § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 [X.] (als subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigter) besitzt, aus humanitären Gründen ein nationales Visum für die Einreise und den Aufenthalt zum Familienna[X.]hzug erteilt werden, wenn si[X.]h kein personensorgebere[X.]htigter Elternteil im [X.] aufhält. Die beispielhafte Aufzählung ("insbesondere") der zwingenden humanitären Gründe für die Zusammenführung in § 36a Abs. 2 Satz 1 [X.] nennt unter Nr. 1 die Unmögli[X.]hkeit der Herstellung der familiären Lebensgemeins[X.]haft seit langer Zeit und in Nr. 2 die Betroffenheit eines minderjährigen Kindes.

bb) Die si[X.]h daraus ergebende Unglei[X.]hbehandlung des Familienna[X.]hzuges zum anerkannten Flü[X.]htling na[X.]h § 36 Abs. 1 [X.] einerseits und zum subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigten na[X.]h § 36a [X.] andererseits verstößt ni[X.]ht gegen höherrangiges Re[X.]ht.

Sie ist insbesondere mit dem allgemeinen Glei[X.]hheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Soweit dieser dem Normgeber gebietet, wesentli[X.]h Glei[X.]hes glei[X.]h und wesentli[X.]h Unglei[X.]hes unglei[X.]h zu behandeln, und dies sowohl für unglei[X.]he Belastungen als au[X.]h unglei[X.]he Begünstigungen gilt ([X.], Bes[X.]hluss vom 11. Oktober 1988 - 1 BvR 777/85 u. a. - [X.]E 79, 1 <17>), kann offenbleiben, ob anerkannte Flü[X.]htlinge einerseits und subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigte andererseits im Hinbli[X.]k auf die na[X.]h dem sekundären Unionsre[X.]ht bestehenden Unters[X.]hiede im S[X.]hutzstatus überhaupt verglei[X.]hbar sind. Denn eine Unglei[X.]hbehandlung wäre jedenfalls sa[X.]hli[X.]h gere[X.]htfertigt. Sowohl na[X.]h der Re[X.]htspre[X.]hung des [X.] zu Art. 3 GG ([X.], Bes[X.]hlüsse vom 15. Dezember 1959 - 1 BvL 10/55 - [X.]E 10, 234 <246> und vom 3. Oktober 1989 - 1 [X.] u. a. - [X.]E 81, 1 <8>; vgl. au[X.]h [X.], in: [X.], Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 14 ff.) als au[X.]h des [X.]. 14 [X.] ([X.]MR , Urteil vom 24. Mai 2016 - Nr. 38590/10, [X.] - Rn. 90) kommt es na[X.]h dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit maßgebli[X.]h auf die Gewi[X.]htung der dur[X.]h die Unglei[X.]hbehandlung beeinträ[X.]htigten Freiheitsre[X.]hte an. Im Hinbli[X.]k auf den Familienna[X.]hzug von und zu Minderjährigen sind dabei der Familiens[X.]hutz na[X.]h Art. 6 GG und Art. 8 [X.] sowie das Kindeswohl und Kinderre[X.]hte zu berü[X.]ksi[X.]htigen.

Weder Art. 6 GG no[X.]h Art. 8 [X.] vermitteln einen unmittelbaren Anspru[X.]h auf Familienzusammenführung ([X.], Bes[X.]hluss vom 18. Juli 1979 - 1 BvR 650/77 - [X.]E 51, 386 <395>; [X.]MR , Urteil vom 3. Oktober 2014 - Nr. 12738/10, [X.] - Rn. 107). Bei Ents[X.]heidungen über Aufenthaltsre[X.]hte sind die familiären Bindungen angemessen zu berü[X.]ksi[X.]htigen. Erforderli[X.]h ist eine Einzelfallbetra[X.]htung, bei der die familiären Bindungen, aber au[X.]h sonstige Umstände wie die Trennungsdauer oder die Mögli[X.]hkeit der Herstellung der [X.] nur im [X.], abzuwägen sind (vgl. [X.]MR , Urteil vom 3. Oktober 2014 - Nr. 12738/10 - Rn. 106; [X.], [X.] vom 10. Mai 2008 - 2 BvR 588/08 - [X.] 2008, 347 <348>, vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 - NVwZ 2013, 1207 <1208> und vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 - NVwZ 2022, 406 Rn. 45). Berühren aufenthaltsre[X.]htli[X.]he Ents[X.]heidungen den Umgang mit einem Kind, ist im Rahmen der Abwägung maßgebli[X.]h auf die Si[X.]ht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersu[X.]hen, ob tatsä[X.]hli[X.]h eine persönli[X.]he Verbundenheit besteht, auf deren Aufre[X.]hterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Sind Minderjährige betroffen, sind im Rahmen des dann eins[X.]hlägigen Art. 3 der [X.] ([X.]) das Alter der betroffenen Kinder, die Situation in ihrem Herkunftsland und die Abhängigkeit von ihren Eltern bei der Ents[X.]heidung in die Abwägung einzustellen. Au[X.]h aus einer Zusammens[X.]hau des Art. 3 [X.] mit Art. 9 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 1 [X.] folgt allerdings kein Anspru[X.]h auf einen voraussetzungslosen Kinder- oder [X.] und au[X.]h das Kindeswohl hat keinen unbedingten Vorrang (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 16.12 - NVwZ 2013, 1493 Rn. 24).

Die in § 36a [X.] vorgesehene Bes[X.]hränkung des Familienna[X.]hzuges auf einen Ermessensanspru[X.]h im Rahmen einer Kontingentierung (§ 36a Abs. 2 Satz 2 [X.]) genügt den dargestellten verfassungs-, konventions- und völkerre[X.]htli[X.]hen Anforderungen. Den aufgeführten, in die Einzelfallbetra[X.]htung einzustellenden familiären Belangen kann im Rahmen der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen na[X.]h § 22 Satz 1 [X.], der gemäß § 36a Abs. 1 Satz 4 [X.] unberührt bleibt, ausrei[X.]hend Re[X.]hnung getragen werden. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis na[X.]h § 22 Satz 1 [X.] ist grundsätzli[X.]h au[X.]h in Fällen mögli[X.]h, in denen die Voraussetzungen für einen Familienna[X.]hzug ni[X.]ht vorliegen. Denn bei der Frage der Vereinbarkeit eins[X.]hränkender Familienna[X.]hzugsregelungen mit Art. 6 GG ist zu berü[X.]ksi[X.]htigen, inwieweit Härtefällen dur[X.]h die Erteilung von humanitären Aufenthaltserlaubnissen gemäß § 22 Satz 1 [X.] Re[X.]hnung getragen werden kann, insbesondere au[X.]h dann, wenn die besondere Härte dur[X.]h Umstände in der Person des subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigten begründet wird. Damit lassen si[X.]h mit dem besonderen S[X.]hutz von Ehe und Familie na[X.]h Art. 6 GG und Art. 8 [X.] sowie Art. 7 und 24 [X.] ni[X.]ht zu vereinbarende Familientrennungen in besonderen Einzelfällen über die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus dringenden humanitären Gründen gemäß § 22 [X.] vermeiden (BVerwG, Bes[X.]hluss vom 4. Juli 2019 - 1 [X.] - [X.] 402.242 § 36 [X.] Nr. 6 Rn. 13 unter Hinweis u. a. auf [X.], Bes[X.]hluss vom 20. März 2018 - 2 BvR 1266/17 - [X.] 2018, 179 und [X.]. 19/2438 S. 22).

Unionsre[X.]ht steht der Anwendung von § 36a [X.] ni[X.]ht entgegen. Die Ri[X.]htlinie 2003/86/[X.] regelt den Familienna[X.]hzug zu subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigten ni[X.]ht. Sie findet na[X.]h ihrem Art. 3 Abs. 2 Bu[X.]hst. [X.] unter anderem dann keine Anwendung, wenn dem Zusammenführenden der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat aufgrund subsidiärer S[X.]hutzformen gemäß internationalen Verpfli[X.]htungen genehmigt wurde. Dies erfasst au[X.]h Personen, denen der vom Unionsre[X.]ht vorgesehene subsidiäre S[X.]hutzstatus zukommt (vgl. [X.], Urteil vom 7. November 2018 - [X.]/17 [[X.]:[X.]:C:2018:877] - Rn. 27 ff.).

Art. 23 [X.] 2011/95/[X.] trifft ebenfalls keine Regelung des Familienna[X.]hzuges aus dem Ausland zu subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigten, die si[X.]h in Deuts[X.]hland befinden. Der persönli[X.]he Anwendungsberei[X.]h der Vors[X.]hrift ist in diesen Fällen ni[X.]ht eröffnet. Sie ist nur auf Familienangehörige anzuwenden, die si[X.]h im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen S[X.]hutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat (Art. 2 Bu[X.]hst. j [X.] 2011/95/[X.]). Der Ri[X.]htlinie 2011/95/[X.] lässt si[X.]h au[X.]h kein Gebot der Glei[X.]hbehandlung der Angehörigen von anerkannten Flü[X.]htlingen einerseits und von subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigten andererseits im Hinbli[X.]k auf den Na[X.]hzug aus dem Ausland entnehmen.

[X.]) Ein Anspru[X.]h des [X.] zu 3 na[X.]h § 36a [X.] besteht bereits deshalb ni[X.]ht, weil die Vors[X.]hrift ledigli[X.]h den Familienna[X.]hzug für Ehegatten oder minderjährige Kinder eines Ausländers, der im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis na[X.]h § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 [X.] ist, oder für Eltern eines minderjährigen und im Besitz einer entspre[X.]henden Aufenthaltserlaubnis befindli[X.]hen Ausländers, ni[X.]ht aber für dessen Ges[X.]hwister, eröffnet.

3. Ohne Bundesre[X.]htsverstoß hat das Oberverwaltungsgeri[X.]ht die Voraussetzungen für die Erteilung von [X.] zum Familienna[X.]hzug an die Kläger na[X.]h § 36 Abs. 2 [X.] verneint.

Die dana[X.]h erforderli[X.]he außergewöhnli[X.]he Härte liegt ni[X.]ht vor. Der Na[X.]hzug na[X.]h § 36 Abs. 2 [X.] ist auf seltene Ausnahmefälle bes[X.]hränkt, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsre[X.]hts und damit der [X.] im Li[X.]hte des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 [X.] grundlegenden Gere[X.]htigkeitsvorstellungen widersprä[X.]he, also s[X.]hle[X.]hthin unvertretbar wäre. Eine außergewöhnli[X.]he Härte in diesem Sinne setzt grundsätzli[X.]h voraus, dass der s[X.]hutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben ni[X.]ht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deuts[X.]hland erbra[X.]ht werden kann. Ob dies der Fall ist, kann nur unter Berü[X.]ksi[X.]htigung aller im Einzelfall relevanten, auf die Notwendigkeit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeins[X.]haft bezogenen konkreten Umstände beantwortet werden (BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 15.12 - BVerwGE 147, 278 Rn. 11 f.). Das Vorliegen der genannten Voraussetzungen hat das Oberverwaltungsgeri[X.]ht revisionsre[X.]htli[X.]h fehlerfrei verneint.

4. Die Kläger haben au[X.]h keinen Aufnahmeanspru[X.]h na[X.]h § 22 Satz 1 [X.].

a) Gemäß dieser Norm soll na[X.]h der Intention des Gesetzgebers insbesondere aus dringenden humanitären Gründen über § 36a [X.] hinaus im Einzelfall au[X.]h Angehörigen der Kernfamilie subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigter eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden können. Sol[X.]he Gründe sind anzunehmen, wenn die Aufnahme des Familienangehörigen si[X.]h aufgrund des Gebots der Mens[X.]hli[X.]hkeit aufdrängt und eine Situation vorliegt, die ein Eingreifen zwingend erforderli[X.]h ma[X.]ht. Dies gilt zum Beispiel beim Bestehen einer erhebli[X.]hen und unauswei[X.]hli[X.]hen Gefahr für Leib und Leben des Familienangehörigen im Ausland. Die dringenden humanitären Gründe im Sinne des § 22 [X.] können sowohl beim bereits im [X.] befindli[X.]hen S[X.]hutzbere[X.]htigten als au[X.]h beim im Ausland befindli[X.]hen Familienangehörigen vorliegen ([X.]. 19/2438 S. 22).

Dringende humanitäre Gründe im Sinne des § 22 Satz 1 Alt. 2 [X.] liegen zum einen dann vor, wenn si[X.]h der Ausländer aufgrund besonderer Umstände in einer auf seine Person bezogenen Sondersituation befindet, si[X.]h diese Sondersituation deutli[X.]h von der Lage verglei[X.]hbarer Ausländer unters[X.]heidet, der Ausländer spezifis[X.]h auf die Hilfe der Bundesrepublik Deuts[X.]hland angewiesen ist oder eine besondere Beziehung des Ausländers zur Bundesrepublik Deuts[X.]hland besteht und die Umstände so gestaltet sind, dass eine baldige Ausreise und Aufnahme unerlässli[X.]h sind. Sie sind aber zum anderen au[X.]h dann gegeben, wenn besondere Umstände des Einzelfalles eine Fortdauer der räumli[X.]hen Trennung der Angehörigen der Kernfamilie des subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigten mit Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG ni[X.]ht länger vereinbar ers[X.]heinen lassen. Der Zeitpunkt, ab dem den Ehegatten und ihren minderjährigen ledigen Kindern eine weitere Trennung ni[X.]ht länger zuzumuten ist, ist wiederum maßgebli[X.]h davon abhängig, ob diesen eine (Wieder-)Herstellung der familiären Lebensgemeins[X.]haft in dem Aufenthaltsstaat der Na[X.]hzugswilligen mögli[X.]h und zumutbar ist. Die S[X.]hwelle, bei deren Errei[X.]hen die Versagung einer Familienzusammenführung im [X.] mit Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG s[X.]hle[X.]hthin unvereinbar ist, aus humanitären Gründen mithin ein - vom Kontingent des § 36a Abs. 2 Satz 2 [X.] unabhängiger - Aufenthaltstitel na[X.]h § 22 Satz 1 [X.] zu gewähren ist, liegt indes höher als jene, die dur[X.]h Annahme eines Ausnahmefalles in den Fällen des § 36a Abs. 3 Nr. 1 [X.] den Zugang zu einer (kontingentgebundenen) Auswahlents[X.]heidung (§ 36a Abs. 2 Satz 2 [X.]) eröffnet (BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2020 - 1 C 30.19 - BVerwGE 171, 103 Rn. 49). Soweit die Berü[X.]ksi[X.]htigung einer familiären Notsituation im Rahmen des § 22 Satz 1 [X.] im Hinbli[X.]k auf eine verfassungskonforme Anwendung von § 36a [X.] geboten ist, erfordert dies keine von den genannten Maßstäben abwei[X.]hende, insbesondere erweiternde Auslegung. Vielmehr können besondere, aus der Berü[X.]ksi[X.]htigung des Kindeswohls und der familiären Situation im Einzelfall resultierende Umstände als dringende humanitäre Gründe für einen Familienna[X.]hzug berü[X.]ksi[X.]htigt werden.

b) Hiervon ausgehend hat das Oberverwaltungsgeri[X.]ht in revisionsre[X.]htli[X.]h ni[X.]ht zu beanstandender Weise das Vorliegen eines dringenden humanitären Grundes im Falle der Kläger zu 1 und 2 verneint, weil ihnen na[X.]h eigenen Angaben in [X.] keine Gefahr für Leib oder Leben drohe und die erwa[X.]hsenen Söhne zur Fortsetzung des Studiums dort bleiben mö[X.]hten. Der volljährige Stammbere[X.]htigte könne im [X.] ein eigenständiges Leben führen und sei ni[X.]ht zwingend auf die Unterstützung dur[X.]h seine Eltern angewiesen. Dringende humanitäre Gründe sind au[X.]h im Hinbli[X.]k auf den Kläger zu 3 ni[X.]ht erkennbar.

5. Die Kostenents[X.]heidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Da si[X.]h die Beigeladene ni[X.]ht mit einem Antrag am Kostenrisiko beteiligt hat, entspri[X.]ht es der Billigkeit, dass sie ihre außergeri[X.]htli[X.]hen Kosten selbst trägt.

Meta

1 C 59/20

08.12.2022

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, 22. September 2020, Az: OVG 3 B 38.19, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 08.12.2022, Az. 1 C 59/20 (REWIS RS 2022, 9484)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 9484

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2 BvR 1266/17

2 BvR 1333/21

2 BvR 586/13

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