Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 08.12.2022, Az. 1 C 56/20

1. Senat | REWIS RS 2022, 9485

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Tenor

Die Revision der Kläger gegen das Urteil des [X.] vom 7. Juli 2020 wird zurückgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Tatbestand

1

Die Kläger sind syrische Staatsangehörige und begehren die Erteilung von [X.] zum Familiennachzug zu ihrem im [X.] lebenden und als subsidiär schutzberechtigt anerkannten [X.] beziehungsweise Bruder (Stammberechtigter).

2

Die Kläger zu 1 und 2 sind die Eltern, die Kläger zu 3 - 6 die Geschwister des am 1. Januar 2001 in [X.] geborenen Stammberechtigten. Dieser reiste Mitte 2015 in das [X.] ein und stellte im April 2016 einen Asylantrag. Das [X.] ([X.]) erkannte ihm mit Bescheid vom 31. Januar 2018 den subsidiären Schutzstatus zu und lehnte den Antrag im Übrigen ab. Am 17. Dezember 2018 wurde ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 [X.] erteilt.

3

Am 26. November 2018 beantragten die Kläger die Erteilung von [X.] zum Familiennachzug beim Generalkonsulat in [X.]. Die Anträge wurden mit Bescheiden der Auslandsvertretung vom 28. Dezember 2018 abgelehnt.

4

Die dagegen erhobenen Klagen hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 7. Juli 2020 abgewiesen. Die Kläger hätten keinen Anspruch auf Neubescheidung ihrer Visumanträge nach § 6 Abs. 3 [X.] m. § 36 Abs. 1 [X.] a. F. oder [X.] m. § 36a Abs. 1 Satz 2 oder § 22 Satz 1 [X.]. Der Stammberechtigte sei zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr minderjährig gewesen. Dieser nach allgemeinem Prozessrecht maßgebliche Zeitpunkt führe auch nicht dazu, dass die Behörde ein auf § 36a Abs. 1 Satz 2 [X.] gestütztes Nachzugsbegehren durch Verfahrensverzögerung oder rechtswidrige Versagung des Visums vereiteln könnte, weil den Betroffenen dagegen hinreichende Rechtsschutzmöglichkeiten rechtzeitig vor Erreichen der Volljährigkeit des Kindes zur Verfügung stünden. Die Beschränkung des Elternnachzuges auf eine Einreise bis zum Zeitpunkt der Volljährigkeit des subsidiär Schutzberechtigten stehe auch im Einklang mit Unionsrecht. Mit der Volljährigkeit unterfalle der Schutzberechtigte nicht mehr der [X.] und Art. 24 GRC. Aus Art. 8 [X.] ergebe sich kein Recht auf Einreise und Aufenthalt und Art. 6 Abs. 1 und 2 GG begründeten keinen grundrechtlichen Anspruch von ausländischen Ehegatten oder Familienangehörigen auf Nachzug zu ihrem berechtigterweise in [X.] lebenden Ehegatten oder Familienangehörigen. Die Ungleichbehandlung des Elternnachzuges zu ihren subsidiär schutzberechtigten Kindern vor und nach deren Volljährigkeit sei wegen der Unterschiede im Hinblick auf den Schutz des Kindes und der Familie gerechtfertigt und verstoße nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die tatbestandlichen Voraussetzungen einer besonderen Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 Satz 1 [X.] lägen weder im Falle der Kläger noch des Stammberechtigten vor. Ebenso lägen keine dringenden humanitären Gründe im Sinne von § 22 [X.] vor. Ein Anspruch der Geschwister des Stammberechtigten sei weder durch § 36a [X.] noch durch einen Kindernachzugsanspruch nach § 32 Abs. 1 [X.] eröffnet, weil es für Letzteren an einem Aufenthaltstitel der Eltern fehle.

5

Zur Begründung ihrer Sprungrevision machen die Kläger sinngemäß eine Verletzung von § 36a [X.] geltend, weil das Verwaltungsgericht einen Familiennachzugsanspruch wegen Erreichens der Volljährigkeit des Stammberechtigten ablehne. Es könne auch kein effektiver Rechtsschutz über § 123 VwGO erreicht werden. Das Erreichen der Volljährigkeit des Stammberechtigten sei durch einen Verstoß gegen den [X.] verursacht und könne den Klägern nicht zugerechnet werden.

6

Die Beklagte und die Beigeladene verteidigen das Urteil des [X.].

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision der Kläger ist ni[X.]ht begründet. Im Einklang mit Bundesre[X.]ht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) hat das Verwaltungsgeri[X.]ht erkannt, dass die Kläger keinen Anspru[X.]h auf Erteilung eines nationalen Visums (§ 6 Abs. 3 [X.]) zum Familienna[X.]hzug zu dem als subsidiär s[X.]hutzbere[X.]htigt anerkannten [X.] haben. Zum maßgebli[X.]hen Zeitpunkt der Ents[X.]heidung des [X.] (1.) hatten sie keinen Na[X.]hzugsanspru[X.]h na[X.]h § 36a [X.], weil der Stammbere[X.]htigte ni[X.]ht mehr minderjährig war (2.). Na[X.]h den bindenden Feststellungen des [X.] liegt weder eine dur[X.]h die familiäre Situation begründete außergewöhnli[X.]he Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 [X.] vor (3.), no[X.]h haben die Kläger einen Anspru[X.]h auf Familienna[X.]hzug aus dringenden humanitären Gründen na[X.]h § 22 Satz 1 [X.] (4.).

8

1. Maßgebli[X.]h für die Beurteilung der Sa[X.]h- und Re[X.]htslage ist bei [X.] auf Erteilung eines Aufenthaltstitels - wie der vorliegenden - grundsätzli[X.]h der Zeitpunkt der letzten mündli[X.]hen Verhandlung oder Ents[X.]heidung in der Tatsa[X.]heninstanz. Re[X.]htsänderungen, die dana[X.]h eintreten, sind vom Revisionsgeri[X.]ht zu berü[X.]ksi[X.]htigen, wenn sie das [X.], wenn es jetzt ents[X.]hiede, zu bea[X.]hten hätte (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 17. Dezember 2015 - 1 C 31.14 - BVerwGE 153, 353 Rn. 9 und vom 21. August 2018 - 1 C 22.17 - NVwZ 2019, 417 Rn. 11 m. w. N.). Der Ents[X.]heidung sind daher zum einen das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im [X.] ([X.] - [X.]) vom 30. Juli 2004 ([X.] I S. 1950) in der Fassung der Bekanntma[X.]hung vom 25. Februar 2008 ([X.] I S. 162), zuletzt geändert dur[X.]h Art. 3 des Gesetzes vom 9. Juli 2021 zur Weiterentwi[X.]klung des [X.] ([X.] I S. 2467 <2502>), sowie das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntma[X.]hung vom 2. September 2008 ([X.] I S. 1798), zuletzt geändert dur[X.]h das Gesetz vom 23. Mai 2022, zugrunde zu legen. [X.] maßgebli[X.]h sind die Ri[X.]htlinie 2003/86/[X.] vom 22. September 2003 betreffend das Re[X.]ht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251 S. 12 - [X.] 2003/86/[X.]) und die Ri[X.]htlinie 2011/95/[X.] des [X.] und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspru[X.]h auf internationalen S[X.]hutz, für einen einheitli[X.]hen Status für Flü[X.]htlinge oder für Personen mit Anre[X.]ht auf subsidiären S[X.]hutz und für den Inhalt des zu gewährenden S[X.]hutzes (ABl. L 337 S. 9 - [X.] 2011/95/[X.]).

9

2. Im Einklang mit Bundesre[X.]ht hat das Verwaltungsgeri[X.]ht einen Anspru[X.]h der Kläger auf Familienna[X.]hzug verneint.

a) Ein sol[X.]her Anspru[X.]h der Kläger zu 1 und 2 auf [X.] folgt ni[X.]ht aus § 36 Abs. 1 [X.] in der bis zum 31. Juli 2018 gültigen Fassung. Die Vors[X.]hrift findet na[X.]h § 104 Abs. 13 Satz 1 [X.] Anwendung auf den Familienna[X.]hzug zu Ausländern, denen bis zum 17. März 2016 eine Aufenthaltserlaubnis na[X.]h § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 [X.] erteilt worden ist, wenn der Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zwe[X.]ke des Familienna[X.]hzuges zu dem Ausländer bis zum 31. Juli 2018 gestellt worden ist. Diese Voraussetzungen sind hier ni[X.]ht erfüllt. Dem [X.] wurde eine Aufenthaltserlaubnis am 17. Dezember 2018 erteilt. Die Kläger stellten ihren Visumantrag am 26. November 2018. Die Kläger zu 3 bis 6 haben keinen Anspru[X.]h auf Kinderna[X.]hzug na[X.]h § 32 Abs. 1 [X.], weil ihre Eltern ni[X.]ht im Besitz des erforderli[X.]hen Aufenthaltstitels sind.

b) Einen Anspru[X.]h der Kläger zu 1 und 2 na[X.]h § 36a [X.] hat das Verwaltungsgeri[X.]ht zutreffend verneint, weil der Stammbere[X.]htigte zum maßgebli[X.]hen Zeitpunkt der Ents[X.]heidung des [X.] am 7. Juli 2020 bereits volljährig war.

aa) Na[X.]h § 6 Abs. 3 i. V. m. § 36a Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Satz 1 [X.] kann den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis na[X.]h § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 [X.] (als subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigter) besitzt, aus humanitären Gründen ein nationales Visum für die Einreise und den Aufenthalt zum Familienna[X.]hzug erteilt werden, wenn si[X.]h kein personensorgebere[X.]htigter Elternteil im [X.] aufhält. Die beispielhafte Aufzählung ("insbesondere") der zwingenden humanitären Gründe für die Zusammenführung in § 36a Abs. 2 Satz 1 [X.] nennt unter Nr. 1 die Unmögli[X.]hkeit der Herstellung der familiären Lebensgemeins[X.]haft seit langer Zeit und in Nr. 2 die Betroffenheit eines minderjährigen Kindes.

bb) Die si[X.]h daraus ergebende Unglei[X.]hbehandlung des Familienna[X.]hzuges zum anerkannten Flü[X.]htling na[X.]h § 36 Abs. 1 [X.] einerseits und zum subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigten na[X.]h § 36a [X.] andererseits verstößt ni[X.]ht gegen höherrangiges Re[X.]ht.

Sie ist insbesondere mit dem allgemeinen Glei[X.]hheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Soweit dieser dem Normgeber gebietet, wesentli[X.]h Glei[X.]hes glei[X.]h und wesentli[X.]h Unglei[X.]hes unglei[X.]h zu behandeln, und dies sowohl für unglei[X.]he Belastungen als au[X.]h unglei[X.]he Begünstigungen gilt ([X.], Bes[X.]hluss vom 11. Oktober 1988 - 1 BvR 777/85 u. a. - [X.]E 79, 1 <17>), kann offenbleiben, ob anerkannte Flü[X.]htlinge einerseits und subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigte andererseits im Hinbli[X.]k auf die na[X.]h dem sekundären Unionsre[X.]ht bestehenden Unters[X.]hiede im S[X.]hutzstatus überhaupt verglei[X.]hbar sind. Denn eine Unglei[X.]hbehandlung wäre jedenfalls sa[X.]hli[X.]h gere[X.]htfertigt. Sowohl na[X.]h der Re[X.]htspre[X.]hung des [X.] zu Art. 3 GG ([X.], Bes[X.]hlüsse vom 15. Dezember 1959 - 1 BvL 10/55 - [X.]E 10, 234 <246> und vom 3. Oktober 1989 - 1 [X.] u. a. - [X.]E 81, 1 <8>; vgl. au[X.]h [X.], in: [X.], Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 14 ff.) als au[X.]h des [X.]. 14 [X.] ([X.]MR , Urteil vom 24. Mai 2016 - Nr. 38590/10, [X.] - Rn. 90) kommt es na[X.]h dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit maßgebli[X.]h auf die Gewi[X.]htung der dur[X.]h die Unglei[X.]hbehandlung beeinträ[X.]htigten Freiheitsre[X.]hte an. Im Hinbli[X.]k auf den Familienna[X.]hzug von und zu Minderjährigen sind dabei der Familiens[X.]hutz na[X.]h Art. 6 GG und Art. 8 [X.] sowie das Kindeswohl und Kinderre[X.]hte zu berü[X.]ksi[X.]htigen.

Weder Art. 6 GG no[X.]h Art. 8 [X.] vermitteln einen unmittelbaren Anspru[X.]h auf Familienzusammenführung ([X.], Bes[X.]hluss vom 18. Juli 1979 - 1 BvR 650/77 - [X.]E 51, 386 <395>; [X.]MR , Urteil vom 3. Oktober 2014 - Nr. 12738/10, [X.] - Rn. 107). Bei Ents[X.]heidungen über Aufenthaltsre[X.]hte sind die familiären Bindungen angemessen zu berü[X.]ksi[X.]htigen. Erforderli[X.]h ist eine Einzelfallbetra[X.]htung, bei der die familiären Bindungen, aber au[X.]h sonstige Umstände wie die Trennungsdauer oder die Mögli[X.]hkeit der Herstellung der [X.] nur im [X.], abzuwägen sind (vgl. [X.]MR , Urteil vom 3. Oktober 2014 - Nr. 12738/10 - Rn. 106; [X.], [X.] vom 10. Mai 2008 - 2 BvR 588/08 - [X.] 2008, 347 <348>, vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 - NVwZ 2013, 1207 <1208> und vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 - NVwZ 2022, 406 Rn. 45). Berühren aufenthaltsre[X.]htli[X.]he Ents[X.]heidungen den Umgang mit einem Kind, ist im Rahmen der Abwägung maßgebli[X.]h auf die Si[X.]ht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersu[X.]hen, ob tatsä[X.]hli[X.]h eine persönli[X.]he Verbundenheit besteht, auf deren Aufre[X.]hterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Sind Minderjährige betroffen, sind im Rahmen des dann eins[X.]hlägigen Art. 3 der [X.] ([X.]) das Alter der betroffenen Kinder, die Situation in ihrem Herkunftsland und die Abhängigkeit von ihren Eltern bei der Ents[X.]heidung in die Abwägung einzustellen. Au[X.]h aus einer Zusammens[X.]hau des Art. 3 [X.] mit Art. 9 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 1 [X.] folgt allerdings kein Anspru[X.]h auf einen voraussetzungslosen Kinder- oder [X.] und au[X.]h das Kindeswohl hat keinen unbedingten Vorrang (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 16.12 - NVwZ 2013, 1493 Rn. 24).

Die in § 36a [X.] vorgesehene Bes[X.]hränkung des Familienna[X.]hzuges auf einen Ermessensanspru[X.]h im Rahmen einer Kontingentierung (§ 36a Abs. 2 Satz 2 [X.]) genügt den dargestellten verfassungs-, konventions- und völkerre[X.]htli[X.]hen Anforderungen. Den aufgeführten, in die Einzelfallbetra[X.]htung einzustellenden familiären Belangen kann im Rahmen der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen na[X.]h § 22 Satz 1 [X.], der gemäß § 36a Abs. 1 Satz 4 [X.] unberührt bleibt, ausrei[X.]hend Re[X.]hnung getragen werden. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis na[X.]h § 22 Satz 1 [X.] ist grundsätzli[X.]h au[X.]h in Fällen mögli[X.]h, in denen die Voraussetzungen für einen Familienna[X.]hzug ni[X.]ht vorliegen. Denn bei der Frage der Vereinbarkeit eins[X.]hränkender Familienna[X.]hzugsregelungen mit Art. 6 GG ist zu berü[X.]ksi[X.]htigen, inwieweit Härtefällen dur[X.]h die Erteilung von humanitären Aufenthaltserlaubnissen gemäß § 22 Satz 1 [X.] Re[X.]hnung getragen werden kann, insbesondere au[X.]h dann, wenn die besondere Härte dur[X.]h Umstände in der Person des subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigten begründet wird. Damit lassen si[X.]h mit dem besonderen S[X.]hutz von Ehe und Familie na[X.]h Art. 6 GG und Art. 8 [X.] sowie Art. 7 und 24 [X.] ni[X.]ht zu vereinbarende Familientrennungen in besonderen Einzelfällen über die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus dringenden humanitären Gründen gemäß § 22 [X.] vermeiden (BVerwG, Bes[X.]hluss vom 4. Juli 2019 - 1 [X.] - [X.] 402.242 § 36 [X.] Nr. 6 Rn. 13 unter Hinweis u. a. auf [X.], Bes[X.]hluss vom 20. März 2018 - 2 BvR 1266/17 - [X.] 2018, 179 und [X.]. 19/2438 S. 22).

Unionsre[X.]ht steht der Anwendung von § 36a [X.] ni[X.]ht entgegen. Die Ri[X.]htlinie 2003/86/[X.] regelt den Familienna[X.]hzug zu subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigten ni[X.]ht. Sie findet na[X.]h ihrem Art. 3 Abs. 2 Bu[X.]hst. [X.] unter anderem dann keine Anwendung, wenn dem Zusammenführenden der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat aufgrund subsidiärer S[X.]hutzformen gemäß internationalen Verpfli[X.]htungen genehmigt wurde. Dies erfasst au[X.]h Personen, denen der vom Unionsre[X.]ht vorgesehene subsidiäre S[X.]hutzstatus zukommt (vgl. [X.], Urteil vom 7. November 2018 - [X.]/17 [[X.]:[X.]:C:2018:877] - Rn. 27 ff.).

Art. 23 [X.] 2011/95/[X.] trifft ebenfalls keine Regelung des Familienna[X.]hzuges aus dem Ausland zu subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigten, die si[X.]h in Deuts[X.]hland befinden. Der persönli[X.]he Anwendungsberei[X.]h der Vors[X.]hrift ist in diesen Fällen ni[X.]ht eröffnet. Sie ist nur auf Familienangehörige anzuwenden, die si[X.]h im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen S[X.]hutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat (Art. 2 Bu[X.]hst. j [X.] 2011/95/[X.]). Der Ri[X.]htlinie 2011/95/[X.] lässt si[X.]h au[X.]h kein Gebot der Glei[X.]hbehandlung der Angehörigen von anerkannten Flü[X.]htlingen einerseits und von subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigten andererseits im Hinbli[X.]k auf den Na[X.]hzug aus dem Ausland entnehmen.

[X.]) Ein Anspru[X.]h der Kläger zu 3 bis 6 na[X.]h § 36a [X.] besteht bereits deshalb ni[X.]ht, weil die Vors[X.]hrift ledigli[X.]h den Familienna[X.]hzug für Ehegatten oder minderjährige Kinder eines Ausländers, der im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis na[X.]h § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 [X.] ist, oder für Eltern eines minderjährigen und im Besitz einer entspre[X.]henden Aufenthaltserlaubnis befindli[X.]hen Ausländers, ni[X.]ht aber für dessen Ges[X.]hwister, eröffnet.

3. Ohne Bundesre[X.]htsverstoß hat das Verwaltungsgeri[X.]ht die Voraussetzungen für die Erteilung von [X.] zum Familienna[X.]hzug an die Kläger na[X.]h § 36 Abs. 2 [X.] verneint.

Die dana[X.]h erforderli[X.]he außergewöhnli[X.]he Härte liegt ni[X.]ht vor. Der Na[X.]hzug na[X.]h § 36 Abs. 2 [X.] ist auf seltene Ausnahmefälle bes[X.]hränkt, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsre[X.]hts und damit der [X.] im Li[X.]hte des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 [X.] grundlegenden Gere[X.]htigkeitsvorstellungen widersprä[X.]he, also s[X.]hle[X.]hthin unvertretbar wäre. Eine außergewöhnli[X.]he Härte in diesem Sinne setzt grundsätzli[X.]h voraus, dass der s[X.]hutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben ni[X.]ht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deuts[X.]hland erbra[X.]ht werden kann. Ob dies der Fall ist, kann nur unter Berü[X.]ksi[X.]htigung aller im Einzelfall relevanten, auf die Notwendigkeit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeins[X.]haft bezogenen konkreten Umstände beantwortet werden (BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 15.12 - BVerwGE 147, 278 Rn. 11 f.).

Das Vorliegen der genannten Voraussetzungen hat das Verwaltungsgeri[X.]ht revisionsre[X.]htli[X.]h fehlerfrei verneint. Hinsi[X.]htli[X.]h der Kläger zu 3 bis 6 hat das Verwaltungsgeri[X.]ht insbesondere zutreffend darauf abgestellt, dass sie gemeinsam mit ihren Eltern in der [X.] leben, dort regulär die S[X.]hule besu[X.]hen und au[X.]h ansonsten ni[X.]ht vorgetragen wurde, dass sie dort kein eigenständiges Leben führen könnten, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dur[X.]h oder für ihren in Deuts[X.]hland lebenden Bruder angewiesen wären.

4. Die Kläger haben au[X.]h keinen Aufnahmeanspru[X.]h na[X.]h § 22 Satz 1 [X.].

a) Gemäß dieser Norm soll na[X.]h der Intention des Gesetzgebers insbesondere aus dringenden humanitären Gründen über § 36a [X.] hinaus im Einzelfall au[X.]h Angehörigen der Kernfamilie subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigter eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden können. Sol[X.]he Gründe sind anzunehmen, wenn die Aufnahme des Familienangehörigen si[X.]h aufgrund des Gebots der Mens[X.]hli[X.]hkeit aufdrängt und eine Situation vorliegt, die ein Eingreifen zwingend erforderli[X.]h ma[X.]ht. Dies gilt zum Beispiel beim Bestehen einer erhebli[X.]hen und unauswei[X.]hli[X.]hen Gefahr für Leib und Leben des Familienangehörigen im Ausland. Die dringenden humanitären Gründe im Sinne des § 22 [X.] können sowohl beim bereits im [X.] befindli[X.]hen S[X.]hutzbere[X.]htigten als au[X.]h beim im Ausland befindli[X.]hen Familienangehörigen vorliegen ([X.]. 19/2438 S. 22).

Dringende humanitäre Gründe im Sinne des § 22 Satz 1 Alt. 2 [X.] liegen zum einen dann vor, wenn si[X.]h der Ausländer aufgrund besonderer Umstände in einer auf seine Person bezogenen Sondersituation befindet, si[X.]h diese Sondersituation deutli[X.]h von der Lage verglei[X.]hbarer Ausländer unters[X.]heidet, der Ausländer spezifis[X.]h auf die Hilfe der Bundesrepublik Deuts[X.]hland angewiesen ist oder eine besondere Beziehung des Ausländers zur Bundesrepublik Deuts[X.]hland besteht und die Umstände so gestaltet sind, dass eine baldige Ausreise und Aufnahme unerlässli[X.]h sind. Sie sind aber zum anderen au[X.]h dann gegeben, wenn besondere Umstände des Einzelfalles eine Fortdauer der räumli[X.]hen Trennung der Angehörigen der Kernfamilie des subsidiär S[X.]hutzbere[X.]htigten mit Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG ni[X.]ht länger vereinbar ers[X.]heinen lassen. Der Zeitpunkt, ab dem den Ehegatten und ihren minderjährigen ledigen Kindern eine weitere Trennung ni[X.]ht länger zuzumuten ist, ist wiederum maßgebli[X.]h davon abhängig, ob diesen eine (Wieder-)Herstellung der familiären Lebensgemeins[X.]haft in dem Aufenthaltsstaat der Na[X.]hzugswilligen mögli[X.]h und zumutbar ist. Die S[X.]hwelle, bei deren Errei[X.]hen die Versagung einer Familienzusammenführung im [X.] mit Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG s[X.]hle[X.]hthin unvereinbar ist, aus humanitären Gründen mithin ein - vom Kontingent des § 36a Abs. 2 Satz 2 [X.] unabhängiger - Aufenthaltstitel na[X.]h § 22 Satz 1 [X.] zu gewähren ist, liegt indes höher als jene, die dur[X.]h Annahme eines Ausnahmefalles in den Fällen des § 36a Abs. 3 Nr. 1 [X.] den Zugang zu einer (kontingentgebundenen) Auswahlents[X.]heidung (§ 36a Abs. 2 Satz 2 [X.]) eröffnet (BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2020 - 1 C 30.19 - BVerwGE 171, 103 Rn. 49). Soweit die Berü[X.]ksi[X.]htigung einer familiären Notsituation im Rahmen des § 22 Satz 1 [X.] im Hinbli[X.]k auf eine verfassungskonforme Anwendung von § 36a [X.] geboten ist, erfordert dies keine von den genannten Maßstäben abwei[X.]hende, insbesondere erweiternde Auslegung. Vielmehr können besondere, aus der Berü[X.]ksi[X.]htigung des Kindeswohls und der familiären Situation im Einzelfall resultierende Umstände als dringende humanitäre Gründe für einen Familienna[X.]hzug berü[X.]ksi[X.]htigt werden.

b) Hiervon ausgehend hat das Verwaltungsgeri[X.]ht in revisionsre[X.]htli[X.]h ni[X.]ht zu beanstandender Weise das Vorliegen eines dringenden humanitären Grundes im Falle der Kläger verneint, weil eine von den Verhältnissen anderer syris[X.]her Staatsangehöriger, deren Kinder und Ges[X.]hwister das Herkunftsland verlassen haben, abwei[X.]hende Notlage ni[X.]ht ersi[X.]htli[X.]h sei.

5. Die Kostenents[X.]heidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Da si[X.]h die Beigeladene ni[X.]ht mit einem Antrag am Kostenrisiko beteiligt hat, entspri[X.]ht es der Billigkeit, dass sie ihre außergeri[X.]htli[X.]hen Kosten selbst trägt.

Meta

1 C 56/20

08.12.2022

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend VG Berlin, 7. Juli 2020, Az: 38 K 7.19 V, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 08.12.2022, Az. 1 C 56/20 (REWIS RS 2022, 9485)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 9485

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2 BvR 1266/17

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