Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 25.02.2010, Az. 2 BvC 6/07

2. Senat | REWIS RS 2010, 8936

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Gegenstand

Erledigung einer Wahlprüfungsbeschwerde bzgl der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag mit Ablauf der betroffenen Legislaturperiode - negatives Stimmgewicht - vgl BVerfGE 121, 266


Gründe

1

1. Die Beschwerdeführerin erhob mit Schreiben vom 18. November 2005 beim [X.] Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl zum 16. [X.] am 18. September 2005. Zur Begründung machte sie geltend, die Wahlrechtsgrundsätze seien durch § 6 Abs. 5 Satz 2 in Verbindung mit § 7 Abs. 3 Satz 2 [X.] verletzt, soweit hierdurch der Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts ermöglicht werde.

2

2. Der [X.] wies den Wahleinspruch in seiner 73. Sitzung vom 14. Dezember 2006 als offensichtlich unbegründet zurück (vgl. Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses vom 30. November 2006, BTDrucks 16/3600, [X.] f. ; Stenografischer Bericht vom 14. Dezember 2006, [X.] B).

3

3. Gegen diesen Beschluss richtet sich die Wahlprüfungsbeschwerde der Beschwerdeführerin. Sie wird von mehr als einhundert Wahlberechtigten unterstützt. Die Beschwerdeführerin wiederholt ihre Rüge aus dem Einspruchsverfahren.

4

4. Am 27. September 2009 hat die Wahl zum 17. [X.] stattgefunden. Dieser hat sich am 27. Oktober 2009 konstituiert.

5

Die Beschwerdeführerin verfolgt ihre Beschwerde weiter.

II.

6

Die Wahlprüfungsbeschwerde hat sich erledigt.

7

1. Das Wahlprüfungsverfahren soll die gesetzmäßige Zusammensetzung des [X.]es gewährleisten (vgl. [X.] 1, 430 <433>; 103, 111 <134>; stRspr). Da die 16. Legislaturperiode abgelaufen ist und sich der 17. [X.] konstituiert hat, kann eine Entscheidung über die Wahlprüfungsbeschwerde keine Auswirkungen mehr auf die ordnungsgemäße Zusammensetzung des 16. [X.]es haben. Die Wahlprüfungsbeschwerde ist insoweit gegenstandslos geworden (vgl. [X.] 22, 277 <280 f.>; 34, 201 <203>).

8

2. Das [X.] bleibt grundsätzlich auch nach dem Ablauf einer Wahlperiode befugt, die im Rahmen einer zulässigen Wahlprüfungsbeschwerde erhobenen [X.] der Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsnormen und wichtige wahlrechtliche Zweifelsfragen zu prüfen (vgl. [X.], Beschlüsse des [X.] vom 15. Januar 2009 - 2 BvC 4/04 -, vom 9. Februar 2009 - 2 BvC 11/04 -, vom 18. Februar 2009 - 2 BvC 6/03 -, vom 18. Februar 2009 - 2 BvC 9/04 -, vom 26. Februar 2009 - 2 BvC 1/04 - und vom 26. Februar 2009 - 2 BvC 6/04 -, jeweils veröffentlicht in juris).

9

a) Ob eine Wahlprüfungsbeschwerde eingelegt wird, obliegt der freien Entscheidung jedes Beschwerdeberechtigten. Das [X.] kann nicht von Amts wegen tätig werden. Die Wahlprüfungsbeschwerde hat demgemäß eine Anstoßfunktion. Über den weiteren Verlauf des überwiegend objektiven Verfahrens (vgl. [X.] 34, 81 <97>) entscheidet jedoch das [X.]. Insoweit kommt es auf das öffentliche Interesse an (vgl. [X.] 89, 291 <299>).

b) Nach Ablauf einer Wahlperiode kann ein öffentliches Interesse an einer Entscheidung des [X.]s über die Verfassungsgemäßheit von Wahlrechtsnormen und die Anwendung des geltenden Wahlrechts bestehen, soweit ein möglicher Wahlfehler über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung hat (vgl. [X.], Beschlüsse des [X.] vom 15. Januar 2009 - 2 BvC 4/04 -, vom 9. Februar 2009 - 2 BvC 11/04 -, vom 18. Februar 2009 - 2 BvC 6/03 -, vom 18. Februar 2009 - 2 BvC 9/04 -, vom 26. Februar 2009 - 2 BvC 1/04 - und vom 26. Februar 2009 - 2 BvC 6/04 -, a.a.O.).

aa) Die strikte rechtliche Regelung der Vorbereitung und Durchführung der Wahl und eine Kontrolle der Anwendung dieser Vorschriften entsprechen der Bedeutung der Wahl zum [X.] als Ausgangspunkt aller [X.] Legitimation wie auch der Gewährleistung des aktiven und passiven Wahlrechts durch Art. 38 GG (vgl. [X.] 89, 243 <250 f.>). In der durch das Grundgesetz verfassten freiheitlichen Demokratie der [X.] geht alle Staatsgewalt vom Volke aus ([ref=c5682412-e854-4917-88cb-1972b38a386d]Art. 20 Abs. 2 Satz 1 [X.]]). Das Volk übt sie in Wahlen und Abstimmungen aus (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Im demokratisch verfassten Staat des Grundgesetzes können die Abgeordneten ihre Legitimation zur Repräsentation nur aus der Wahl durch das Volk beziehen (vgl. [X.] 97, 317 <323>); die Wahlen zur Volksvertretung sind der [X.] [X.] Legitimation (vgl. [X.] 44, 125 <142>). Die Ausübung des Wahlrechts stellt sich essentiell als Teilhabe an der Staatsgewalt, als ein Stück Ausübung von Staatsgewalt im status activus dar (vgl. [X.] 8, 104 <115>; 83, 60 <71>).

bb) Das [X.] prüft im Wahlprüfungsverfahren nicht nur den angegriffenen Beschluss des [X.]es in formeller Hinsicht und darauf, ob Vorschriften des materiellen Rechts zutreffend angewandt worden sind (vgl. [X.] 97, 317 <322>), sondern darüber hinaus, ob das angewandte Wahlgesetz mit der Verfassung in Einklang steht (vgl. [X.] 16, 130 <136>; 21, 200 <204>; 34, 81 <95>). Als letzte und in der Regel einzige Instanz hat das [X.] im Wahlprüfungsverfahren eine mittelbare Normenkontrolle angewandter Wahlrechtsnormen durchzuführen. Der [X.] prüft in ständiger Übung im Einspruchsverfahren nicht abschließend die Verfassungsmäßigkeit der angewandten Wahlrechtsnormen (vgl. nur BTDrucks 15/1150, S. 1; 16/1800, [X.]). Ihm fehlt insoweit die [X.]. Eine Pflicht des [X.]es zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normen im Wahleinspruchsverfahren besteht dementsprechend nicht (vgl. [X.] 121, 266 <290>).

cc) [X.] entfalten über die jeweilige Wahlperiode hinaus solange Wirkung, bis sie vom Gesetzgeber geändert oder vom [X.] für nichtig oder für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt werden. Die Fortsetzung einer durch die Wahlprüfungsbeschwerde veranlassten mittelbaren verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle liegt daher grundsätzlich auch nach Ablauf der Wahlperiode im öffentlichen Interesse. Gleiches gilt für sonstige wahlrechtliche Zweifelsfragen, die über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung haben.

c) Ein öffentliches Interesse an einer Sachentscheidung nach Ablauf der Wahlperiode besteht nicht, soweit eine Wahlprüfungsbeschwerde von Anfang an unzulässig ist. Insoweit wäre auch vor Ablauf der Wahlperiode keine Sachentscheidung des [X.]s ergangen (vgl. [X.], Beschlüsse des [X.] vom 15. Januar 2009 - 2 BvC 4/04 -, vom 18. Februar 2009 - 2 BvC 9/04 - und vom 26. Februar 2009 - 2 BvC 1/04 -, a.a.O.).

Das öffentliche Interesse an einer Sachentscheidung kann jedoch insbesondere dann entfallen, wenn das [X.] bereits in anderem Zusammenhang die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Vorschrift oder vom Beschwerdeführer aufgeworfene wahlrechtliche Zweifelsfragen geklärt und der Beschwerdeführer keine Gesichtspunkte vorgetragen hat, die Anlass zu einer abweichenden Beurteilung geben könnten (vgl. [X.], Beschlüsse des [X.] vom 15. Januar 2009 - 2 BvC 4/04 -, vom 9. Februar 2009 - 2 BvC 11/04 -, vom 18. Februar 2009 - 2 BvC 6/03 -, vom 18. Februar 2009 - 2 BvC 9/04 -, vom 26. Februar 2009 - 2 BvC 1/04 - und vom 26. Februar 2009 - 2 BvC 6/04 -, a.a.O.).

3. Danach hat sich die Wahlprüfungsbeschwerde der Beschwerdeführerin erledigt. Das öffentliche Interesse steht einer Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung zur Sache nicht entgegen.

Das [X.] hat die von der Beschwerdeführerin beanstandeten Regelungen in seinem Urteil zum sogenannten negativen Stimmgewicht (vgl. [X.] 121, 266) zwischenzeitlich für verfassungswidrig erklärt. Es hat festgestellt, dass § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 [X.] in der Fassung des Siebzehnten Gesetzes zur Änderung des [X.]vom 11. März 2005 ([X.]) den Grundsatz der Gleichheit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen, soweit hierdurch ermöglicht wird, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann (vgl. [X.] 121, 266 <298 ff.>). Zugleich hat es einen Verstoß gegen die verfassungsrechtlich verbürgte Unmittelbarkeit der Wahl festgestellt, weil der Wähler unter Geltung dieser Vorschriften nicht erkennen kann, ob sich seine Stimme stets für die zu wählende Partei und deren Wahlbewerber positiv auswirkt oder ob er durch seine Stimme den Misserfolg eines Kandidaten seiner eigenen Partei verursacht (vgl. [X.] 121, 266 <307 f.>).

Das [X.] hat dem Gesetzgeber aufgegeben, den [X.], der zum Auftreten des sogenannten negativen Stimmgewichts führen kann, bis spätestens zum 30. Juni 2011 zu ändern, damit der [X.] in Zukunft aufgrund eines in Einklang mit der [X.] gewählt werden kann. Im Hinblick darauf, dass der genannte Effekt untrennbar mit den Überhangmandaten und der Möglichkeit von Listenverbindungen zusammenhängt, kann eine Neuregelung beim Entstehen der Überhangmandate oder bei der Verrechnung von Direktmandaten mit den Zweitstimmenmandaten oder auch bei der Möglichkeit von Listenverbindungen ansetzen (vgl. [X.] 121, 266 <315>). Der Gesetzgeber ist aufgerufen, das für den Wähler kaum noch nachzuvollziehende Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzzuteilung im [X.] auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage zu stellen (vgl. [X.] 121, 266 <316>).

Da das [X.] damit die Verfassungswidrigkeit des sogenannten negativen Stimmgewichts festgestellt hat, besteht kein öffentliches Interesse mehr an einer Sachentscheidung des Senats.

Meta

2 BvC 6/07

25.02.2010

Bundesverfassungsgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: BvC

Art 20 Abs 2 S 1 GG, Art 38 Abs 1 S 1 GG, § 48 BVerfGG, § 6 Abs 5 S 2 BWahlG, § 7 Abs 3 S 2 BWahlG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 25.02.2010, Az. 2 BvC 6/07 (REWIS RS 2010, 8936)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 8936

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Verwerfung einer Wahlprüfungsbeschwerde: Unstatthaftigkeit, unzureichende Substantiierung sowie mangelnder Beitritt von hundert Wahlberechtigten gem § 48 …


Referenzen
Wird zitiert von

2 BvC 62/14

2 BvF 1/21

Zitiert

2 BvC 4/04

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