Bundessozialgericht, Beschluss vom 31.08.2017, Az. B 2 U 74/17 B

2. Senat | REWIS RS 2017, 5898

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des rechtlichen Gehörs - Überraschungsentscheidung - Inaugenscheinnahme des Versicherten - Mitteilung des Beweisergebnisses vor Urteilserlass - Nichterwähnung in Sitzungsniederschrift - faires Verfahren - Recht auf informationelle Selbstbestimmung


Leitsatz

1. Vor Erlass des Urteils muss das Ergebnis einer Inaugenscheinnahme, auch wenn Gegenstand die äußere Erscheinung eines Beteiligten ist, den Prozessbeteiligten mitgeteilt werden, um dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs zu genügen.

2. Eine nicht in der Sitzungsniederschrift erwähnte Inaugenscheinnahme gilt als nicht durchgeführt.

Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 7. Februar 2017 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig ist die Wiedergewährung einer Rente aufgrund eines 1974 erlittenen Arbeitsunfalls, den die Beklagte mit der Unfallfolge "[X.] nach perforierender Verletzung des rechten Auges" anerkannt und bis 1985 entschädigt hat. 1985 wurde die Rente nach einer MdE in Höhe von [X.] unter Auszahlung von 102 468,20 [X.] gemäß § 604 RVO abgefunden.

2

Die Beklagte lehnte den am 5.6.2011 nach § 44 [X.]B X sowie nach § 48 [X.]B X gestellten Überprüfungs- bzw Verschlimmerungsantrag des [X.] nach Einholung eines augenärztlichen Sachverständigengutachtens durch zwei Bescheide vom [X.] ab. Das Widerspruchsverfahren war erfolglos. Das [X.] wies die Klage nach Einholung eines weiteren augenärztlichen Sachverständigengutachtens mit der Begründung ab, dass keine wesentliche Verschlimmerung eingetreten sei.

3

Der Kläger hat Berufung beim L[X.] Nordrhein-Westfalen eingelegt, mit der er die Zahlung einer Rente wegen Eintritts einer wesentlichen Verschlimmerung begehrte. Das L[X.] hat am 7.2.2017 in Anwesenheit des [X.] und dessen Prozessbevollmächtigten eine mündliche Verhandlung durchgeführt und auf diese mündliche Verhandlung hin die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen einer entschädigungspflichtigen Verschlimmerung seien nicht gegeben, weil keine wesentliche Änderung iS des § 73 Abs 3 [X.]B VII vorliege. Die aus den Sachverständigengutachten ableitbaren Beeinträchtigungen der Sehschärfe des [X.] ergäben lediglich einen [X.], der mit einer MdE iHv [X.] zu bewerten sei. Für eine relevante Entstellung des Gesichts durch die Augenverletzung bzw das Innenschielen gebe es keinerlei Anhaltspunkte. Hiervon habe sich der Senat selbst im Rahmen der mündlichen Verhandlung, bei der der Kläger anwesend gewesen sei, überzeugen können.

4

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger im Wesentlichen geltend, dass er in der mündlichen Verhandlung zwar anwesend gewesen sei, jedoch eine Brille getragen habe. Er sei oftmals durch seinen Prozessbevollmächtigten - von der Richterbank aus gesehen - verdeckt gewesen. Die vom L[X.] getroffene Feststellung einer fehlenden entstellenden Wirkung habe man vom Richtertisch aus überhaupt nicht beurteilen können. Seine Augenpartie sehe für Dritte auffällig entstellt aus und löse betroffene Blicke im zwischenmenschlichen Kontakt aus. Das L[X.] habe damit eine heimliche Bewertung des Grades der Entstellung aus der Ferne durchgeführt und so eine Überraschungsentscheidung zu seinen Lasten gefällt. Wenn ihn [X.] aus der Nähe angesehen hätten, wäre ihre Bewertung anders ausgefallen. Ferner sei zu berücksichtigen, dass laut Protokoll keine förmliche Augenscheinseinnahme des [X.], also überhaupt keine Beweisaufnahme stattgefunden habe. Nach [X.]/[X.]/[X.], 8. Aufl 2010, [X.], 293 betrage die MdE in der Unfallversicherung bei einseitiger Erblindung 25 Prozent, jedoch 30 Prozent, wenn sowohl relevante Komplikationen als auch Erschwernisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorlägen, wie zB eine Gesichtsentstellung.

5

II. [X.] ist zulässig und begründet.

6

[X.]begründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 [X.] [X.]G. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 [X.]G) ergibt. [X.]begründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.

7

Der Entscheidung des L[X.] liegt ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G zugrunde, weil das L[X.] den Anspruch des [X.] auf rechtliches Gehör gemäß § 62 Halbs 1 [X.]G iVm Art 103 GG verletzt hat, indem es das Gesicht des [X.] in Augenschein genommen hat, ohne dies und das Ergebnis der Augenscheinseinnahme dem Kläger vor seiner Entscheidung mitzuteilen.

8

Gemäß § 62 Halbs 1 [X.]G, der einfachrechtlich das durch Art 103 Abs 1 GG garantierte prozessuale Grundrecht wiederholt, ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren; dies gilt insbesondere für eine die Instanz abschließende Entscheidung, wie das am 7.2.2017 nach mündlicher Verhandlung verkündete Urteil. Demgemäß darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 [X.]G). Darüber hinaus verlangt § 107 [X.]G, dass den Beteiligten der Inhalt einer Beweisaufnahme mitzuteilen ist. Letzteres ist zwar grundsätzlich nicht erforderlich, wenn der Beteiligte bei der Beweisaufnahme anwesend war ([X.] in [X.]/ [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 12. Aufl 2017, § 107 Rd[X.] 9), jedoch kann dies nur dann gelten, wenn dem Beteiligten die Durchführung der Beweisaufnahme bewusst war. Die Mitteilung des Ergebnisses muss jedenfalls vor der Entscheidung erfolgen, damit die Beteiligten ausreichend [X.] für eine Stellungnahme haben (B[X.] vom 19.3.1991 - 2 RU 28/90 - [X.] 3-1500 § 62 [X.] 5; s auch B[X.] vom 23.10.2003 - [X.]/03 B - [X.] 4-1500 § 62 [X.] 1 Rd[X.] 7; vgl [X.] in [X.]/[X.], [X.]G, 2014, § 107 Rd[X.] 11 f). Ansonsten liegt ein Überraschungsurteil vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zum Gegenstand der Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen war (vgl BVerwG vom 25.5.2001 - 4 B 81.00 - [X.] 310 § 108 Abs 2 VwGO [X.]4). Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs hat Vorrang vor der in § 106 Abs 2 [X.]G verankerten Beschleunigungspflicht, den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen (so B[X.] [X.] [X.] 13 zu § 106 [X.]G; B[X.] [X.] 3-1500 § 62 [X.] 5 S 9; B[X.] [X.] 3-1500 § 128 [X.] 14 S 28; B[X.] vom [X.] KA 8/02 R - [X.]b 2003, 152).

9

Das L[X.] hat den Eindruck, den es vom äußeren Erscheinungsbild des [X.] und damit faktisch aufgrund einer Augenscheinseinnahme, nämlich einer sinnlichen Wahrnehmung, deren Gegenstand nicht der Inhalt einer gedanklichen Erklärung ist ([X.] in [X.]/[X.]/ [X.]/[X.], aaO, § 118 Rd[X.] 9; [X.]/[X.]/[X.]/[X.], ZPO, 75. Aufl 2017, Übers § 371 Rd[X.] 4) gewonnen hat, seiner Entscheidung zugrunde gelegt, ohne diesen mit dem Kläger zu erörtern oder auch nur zur Kenntnis mit der Möglichkeit der Stellungnahme zu geben. Letzteres ergibt sich aus der negativen Beweiskraft der Sitzungsniederschrift (§ 122 [X.]G iVm § 165 [X.] ZPO), die eine entsprechende Anhörung des [X.] als vorgeschriebene Förmlichkeit eines wesentlichen Vorgangs der Verhandlung (§ 122 [X.]G iVm § 160 Abs 2 ZPO) nicht aufführt (B[X.] vom 8.2.2012 - B 5 RS 76/11 B - Juris Rd[X.] 5; vgl auch B[X.] vom 23.7.2015 - B 5 R 196/15 B - Juris Rd[X.] 14). Damit musste den Kläger die Verwertung seines äußeren Erscheinungsbildes für die Entscheidung überraschen, weil mit der Durchführung einer Augenscheinseinnahme nach dem Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen war und deren Durchführung ihm gegenüber nicht offengelegt wurde.

Dahinstehen kann, ob zugleich ein Verstoß gegen § 116 [X.] [X.]G vorliegt. Diese Norm sowie der damit verbundene Grundsatz der Parteiöffentlichkeit beinhalten, dass die Durchführung einer Beweisaufnahme selbst bei physischer Präsenz eines Beteiligten nicht im Verborgenen "hinter seinem Rücken" erfolgen darf, sondern dieser über die der Beweisaufnahme dienenden Handlungen des Gerichts unterrichtet werden muss (vgl [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], aaO, § 118 Rd[X.] und 9), damit er adäquat auf Ergebnisse der Beweisaufnahme und Erkenntnisse, die das Gericht aus der Beweisaufnahme gewinnt, reagieren kann.

Keiner Entscheidung bedurfte es schließlich, ob über den Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs hinaus eine Verletzung des aus Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip bzw Art 6 [X.] folgenden Anspruchs auf ein faires Verfahren (vgl [X.] vom 27.10.1993 - 37/1992/382/460 - NJW 1995, 1413 - [X.]; B[X.] Beschlüsse vom 12.12.2014 - [X.] ÜG 15/14 B - Juris Rd[X.] 8 und vom 17.4.2013 - B 9 V 36/12 B - [X.] 4-1500 § 118 [X.] Rd[X.] 16) vorliegt, sowie, ob die den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 GG) tangierende Erhebung von Eindrücken des äußeren Erscheinungsbildes ohne Wissen des Betroffenen einer über § 372 ZPO iVm § 118 [X.]G hinausgehenden besonderen gesetzlichen Grundlage bedurft hätte (vgl L[X.] Nordrhein-Westfalen vom 8.6.2011 - L 12 AS 201/11 B [X.] - Juris; Bayerisches L[X.] vom 25.1.2008 - L 7 AS 72/07 - Juris Rd[X.] 43; vgl auch [X.] in [X.]/[X.], jurisPK-[X.]G, 2017, § 103 Rd[X.] 60; [X.], [X.]b 2010, 501, 503, 507; Hammel, [X.]/[X.]B 2011, 577, 582).

Der Senat hat von der durch § 160a Abs 5 [X.]G eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückzuverweisen.

Das L[X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 2 U 74/17 B

31.08.2017

Bundessozialgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: U

vorgehend SG Gelsenkirchen, 25. Oktober 2013, Az: S 7 U 365/12, Urteil

§ 62 Halbs 1 SGG, Art 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, Art 103 Abs 1 GG, § 128 Abs 2 SGG, § 107 SGG, § 122 SGG, § 165 ZPO, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, Art 6 MRK

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 31.08.2017, Az. B 2 U 74/17 B (REWIS RS 2017, 5898)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 5898

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