Bundesgerichtshof, Beschluss vom 09.12.2021, Az. V ZB 12/21

5. Zivilsenat | REWIS RS 2021, 465

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Gegenstand

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Einlegung der Berufung in einer Wohnungseigentumssache bei dem für allgemeine Zivilsachen zuständigen Landgericht


Leitsatz

Wird die Berufung gegen ein Urteil des Amtsgerichts nicht bei dem in der zutreffenden Rechtsmittelbelehrung benannten, für Wohnungseigentumssachen zuständigen Landgericht, sondern bei dem für allgemeine Zivilsachen zuständigen Landgericht eingelegt (oder umgekehrt), kann das angerufene Berufungsgericht seine Unzuständigkeit nicht „ohne weiteres“ bzw. „leicht und einwandfrei“ erkennen, und der Rechtsmittelführer kann nicht darauf vertrauen, dass das Gericht seinerseits Maßnahmen ergreifen wird, um die Fristversäumnis abzuwenden.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer des [X.] vom 28. Januar 2021 wird auf Kosten der Beklagten als unzulässig verworfen.

Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Die Klägerin, eine Wohnungseigentümergemeinschaft, verlangt von der Beklagten als ehemaliger Verwalterin die Herausgabe von [X.]. Das [X.] hat der Klage weitgehend stattgegeben. Das Urteil ist der Beklagten am 28. August 2020 zugestellt worden. In der Rechtsmittelbelehrung wird das [X.] als zuständiges Berufungsgericht bezeichnet. Die Berufung der Beklagten ist am 21. September 2020 bei dem [X.] eingegangen. Nachdem der gegnerische Prozessbevollmächtigte auf die Unzuständigkeit des [X.] hingewiesen hatte, hat die Beklagte die Berufung zurückgenommen und bei dem [X.] Berufung eingelegt, verbunden mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; der Schriftsatz ist am 27. Oktober 2020 eingegangen. Das [X.] hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung durch Beschluss als unzulässig verworfen. Mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt, will die Beklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Durchführung der Berufung erreichen.

II.

2

Das Berufungsgericht sieht sich als zuständig an, weil es sich um eine Wohnungseigentumssache im Sinne von § 72 Abs. 2 [X.] aF handele. Die Berufungsfrist sei jedoch nicht gewahrt worden. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht, weil die Fristversäumnis auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Beklagten (§ 85 Abs. 2 ZPO) beruhe. Das [X.] habe nicht gegen die prozessuale Fürsorgepflicht verstoßen. Zwar sei der dortigen Geschäftsstelle am 28. September 2020 - dem Tag des Fristablaufs - aufgefallen, dass in der Rechtsmittelbelehrung das [X.] als zuständiges Berufungsgericht bezeichnet werde. Es sei aber ausreichend gewesen, die Akte mit einem entsprechenden Vermerk im üblichen Geschäftsgang an den zuständigen [X.] weiterzuleiten. Dieser habe die Akte erst am 30. September 2020 bearbeitet; dass er einen Hinweis unterlassen habe, sei nicht kausal geworden, da die Frist zu diesem Zeitpunkt bereits verstrichen gewesen sei.

III.

3

Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig, weil es an den besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO fehlt. Eine Entscheidung des [X.] ist weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Insbesondere ist der Zugang zur Rechtsmittelinstanz nicht in unzumutbarer, aus [X.] nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert worden (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - [X.], [X.], 488 Rn. 7 mwN).

4

1. Zutreffend ist zunächst die Annahme des Berufungsgerichts, dass die Berufung fristwahrend nur bei dem [X.] als dem von der Regelung des § 72 Abs. 2 [X.] aF vorgegebenen Berufungsgericht eingelegt werden konnte (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Oktober 2020 - [X.]/20, NJW-RR 2021, 140 Rn. 4 mwN); denn bei einer Klage auf Herausgabe von [X.] handelt es sich um eine Wohnungseigentumssache (§ 72 Abs. 2 Satz 1 [X.] aF i.V.m. § 43 Nr. 3 WEG aF). Bei dem [X.] ist die Berufung erst am 27. Oktober 2020 und damit nach Ablauf der Berufungsfrist eingegangen.

5

2. Wiedereinsetzung hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei deshalb versagt, weil die Versäumung der Berufungsfrist auf einem der Beklagten zurechenbaren Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten beruht (§ 233 Satz 1, § 85 Abs. 2 ZPO). Den insoweit hohen Sorgfaltsanforderungen (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 11. Dezember 2015 - [X.] 103/14, [X.], 446 Rn. 7) ist der Prozessbevollmächtigte der Beklagten schon deshalb nicht gerecht geworden, weil er die zutreffende Rechtsmittelbelehrung nicht befolgt hat. Dass das funktionell unzuständige [X.], wie die Rechtsbeschwerde meint, aufgrund der prozessualen Fürsorgepflicht gehalten war, Maßnahmen zur Verhinderung der Fristversäumnis zu ergreifen, verneint das Berufungsgericht im Ergebnis zu Recht.

6

a) Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung besteht keine generelle Fürsorgepflicht des unzuständigen Rechtsmittelgerichts, durch Hinweise oder andere geeignete Maßnahmen eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern. Die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge verfassungsrechtlich geboten ist, kann sich nicht nur am Interesse des Rechtsuchenden an einer möglichst weitgehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern muss auch berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss. Danach muss der [X.] und ihrem Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener [X.] nicht allgemein abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden ([X.] 93, 99, 114; [X.], NJW 2006, 1579 Rn. 8; Senat, Beschluss vom 11. Dezember 2015 - [X.] 103/14, [X.], 446 Rn. 10 mwN). Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts „ohne Weiteres“ bzw. „leicht und einwandfrei“ zu erkennen ist und die nicht rechtzeitige Aufdeckung der nicht gegebenen Zuständigkeit auf einem offenkundig nachlässigen Fehlverhalten des angerufenen Gerichts beruht (vgl. [X.], NJW 2006, 1579 Rn. 9; Senat, Beschluss vom 11. Dezember 2015 - [X.] 103/14, [X.], 446 Rn. 10 mwN). Nach der von der Rechtsbeschwerde herangezogenen Rechtsprechung darf der Rechtsmittelführer etwa dann auf eine Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang vertrauen, wenn er die [X.] versehentlich an das Ausgangsgericht gerichtet und damit für die Geschäftsstelle offenkundig falsch adressiert hat (vgl. [X.], Beschluss vom 21. Februar 2018 - I[X.] 18/17, juris Rn. 13 ff.; Beschluss vom 12. Mai 2016 - [X.]/15, juris Rn. 11 ff.).

7

b) Um einen solchen Ausnahmefall geht es hier nicht. Wird die Berufung gegen ein Urteil des Amtsgerichts nicht bei dem in der zutreffenden Rechtsmittelbelehrung benannten, für [X.] zuständigen Landgericht, sondern bei dem für allgemeine [X.]n zuständigen Landgericht eingelegt (oder umgekehrt), kann das angerufene Berufungsgericht seine Unzuständigkeit nicht „ohne weiteres“ bzw. „leicht und einwandfrei“ erkennen, und der Rechtsmittelführer kann nicht darauf vertrauen, dass das Gericht seinerseits Maßnahmen ergreifen wird, um die Fristversäumnis abzuwenden (vgl. bereits Senat, Beschluss vom 12. November 2015 - [X.] 36/15, [X.], 168 Rn. 16).

8

aa) Selbst wenn das angerufene Berufungsgericht noch innerhalb der laufenden Berufungsfrist bemerkt, dass die Rechtsmittelbelehrung ein anderes Berufungsgericht benennt, muss es daraus nicht den Schluss auf eine versehentliche Falschadressierung ziehen. Vielmehr kommt stets auch in Betracht, dass der Rechtsmittelführer die Rechtsmittelbelehrung aufgrund der ihm obliegenden eigenständigen Prüfung für unzutreffend hält und das Verfahren seinerseits als allgemeine [X.] einordnet. In Verfahren mit wohnungseigentumsrechtlichem Bezug ist regelmäßig gerade nicht „leicht und einwandfrei“ zu erkennen, welches Gericht zuständig ist, weil die [X.] nur dann eintritt, wenn es sich in der Sache um eine sogenannte Binnenstreitigkeit handelt (vgl. § 72 Abs. 2 Satz 1 [X.] aF i.V.m. § 43 Nr. 1 bis 4 und 6 [X.] bzw. § 72 Abs. 2 Satz 1 [X.] nF i.V.m. § 43 Abs. 2 WEG nF; vgl. Senat, Beschluss vom 12. November 2015 - [X.] 36/15, [X.], 168 Rn. 16; Beschluss vom 9. März 2017 - [X.] 18/16, [X.], 481 Rn. 15; Beschluss vom 28. September 2017 - [X.] 109/16, NJW 2018, 164 Rn. 14). Auch ist es nicht zu beanstanden, wenn die richterliche Prüfung der funktionellen Zuständigkeit in dem frühen Verfahrensstadium nach Einlegung der Berufung unterbleibt, obwohl die Rechtsmittelbelehrung ein anderes Gericht benennt. Aus der maßgeblichen richterlichen Sicht ist eine Zuständigkeitsprüfung zu diesem Zeitpunkt weder erforderlich noch sinnvoll, weil die Zuständigkeit erst nach Eingang der Verfahrensakten, oft auch erst anhand der Rechtsmittelbegründung, abschließend beurteilt werden kann (vgl. Senat, Beschluss vom 12. November 2015 - [X.] 36/15, [X.], 168 Rn. 16; Beschluss vom 24. Juni 2010 - [X.] 170/09, [X.], 774 Rn. 9; siehe auch [X.], NJW 2006, 1579 Rn. 10 f.).

9

bb) Danach ist die prozessuale Fürsorgepflicht nicht außer [X.] gelassen worden. Die Berufungsschrift war an das [X.] gerichtet, und die anderslautende Rechtsmittelbelehrung, die der Geschäftsstelle an dem Tag des Fristablaufs aufgefallen ist, erlaubte nicht den Schluss auf eine versehentliche Falschadressierung. Selbst wenn die Berufungsschrift dem zuständigen [X.] vor Fristablauf vorgelegen und er die Rechtsmittelbelehrung bemerkt hätte, wäre er - anders, als es das Berufungsgericht erwogen hat - nicht verpflichtet gewesen, die funktionelle Zuständigkeit in diesem Verfahrensstadium zu prüfen. Schon deshalb ist der zeitliche Ablauf der Aktenbearbeitung durch die Geschäftsstelle, den das Berufungsgericht und die [X.]en erörtern, von vornherein unerheblich. Ob eine Hinweispflicht ausnahmsweise besteht, wenn das angerufene Gericht seine funktionelle Unzuständigkeit positiv erkennt (dazu [X.], Beschluss vom 14. Dezember 2010 - [X.], NJW 2011, 683 Rn. 20), kann dahinstehen, weil das [X.] lediglich den Inhalt der Rechtsmittelbelehrung zur Kenntnis genommen hat.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Den Gegenstandswert hat der Senat gemäß § 3 ZPO in Anlehnung an die Entscheidung des Berufungsgerichts festgesetzt.

[X.]     

      

Brückner     

      

Göbel 

      

Malik     

      

Laube     

      

Meta

V ZB 12/21

09.12.2021

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Dortmund, 28. Januar 2021, Az: 1 S 228/20

§ 43 Abs 2 WoEigG, § 72 Abs 2 GVG, § 85 Abs 2 ZPO, § 233 S 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 09.12.2021, Az. V ZB 12/21 (REWIS RS 2021, 465)

Papier­fundstellen: MDR 2022, 261-262 MDR 2022, 480-482 REWIS RS 2021, 465


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. V ZB 12/21

Bundesgerichtshof, V ZB 12/21, 09.12.2021.


Az. 1 S 228/20

Landgericht Dortmund, 1 S 228/20, 28.01.2021.


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