Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 14.02.2012, Az. 9 B 79/11, 9 B 79/11, 9 PKH 7/11, 9 VR 1/12, 9 VR 1/12, 9 PKH 1/12

9. Senat | REWIS RS 2012, 9169

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Gegenstand

Klageerhebung; Verzicht auf Angabe der ladungsfähigen Anschrift; Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz


Leitsatz

Die Zulässigkeit der Klage setzt regelmäßig die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift voraus. Im Hinblick auf den aus Art. 19 Abs. 4 GG fließenden Anspruch auf effektiven Rechtsschutz kann diese Angabe ausnahmsweise entfallen, wenn besondere dem Gericht mitgeteilte Gründe dies rechtfertigen, etwa fehlender Wohnort wegen Obdachlosigkeit oder ein schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse (stRspr, wie Urteil vom 13. April 1999 - BVerwG 1 C 24.97 - Buchholz 310 § 82 VwGO Nr. 19).

Gründe

1

I. Dem Kläger kann Prozesskostenhilfe nicht bewilligt werden, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, vielmehr aussichtslos erscheint (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1, § 121 Abs. 1 ZPO).

2

II. [X.] ist unbegründet. Die allein geltend gemachte grundsätzliche [X.]edeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor.

3

1. Die Frage:

"Setzt der für die Angabe einer [X.] Anschrift konstitutive [X.]egriff der Wohnung voraus, dass der als Wohnung dienende Raum nicht nur vorübergehend, also eine deutlich größere Zeitspanne als wenige Tage bewohnt werden muss?"

verleiht der Rechtssache nicht die geltend gemachte grundsätzliche [X.]edeutung. Denn in einem Revisionsverfahren käme es auf die [X.]eantwortung dieser Frage nicht an.

4

Das Oberverwaltungsgericht ist nach umfassender Würdigung aller einschlägigen Tatsachen davon ausgegangen, dass der Kläger bis zum Ablauf der von dem Verwaltungsgericht gesetzten Ausschlussfrist am 18. April 2006 keine ladungsfähige Anschrift bezeichnet hat, weil seine [X.]ehauptungen sowie die Zeugenaussagen und die sich aus den sonstigen Unterlagen ergebenden Umstände zu der vom Kläger als ladungsfähig angegebenen Anschrift [X.] in [X.] ein derart widersprüchliches [X.]ild ergäben, dass die [X.]ehauptungen des [X.] unauflösbar unglaubhaft seien ([X.], 26). Aus der Gesamtschau der dargestellten Gesichtspunkte ergebe sich das [X.]ild, dass der Kläger die Räumlichkeiten unter der genannten Anschrift nicht bewohnt habe; es fehlten selbst hinreichende Anhaltspunkte für einen kurzfristigen Aufenthalt in den Räumlichkeiten. Der Kläger habe vielmehr die betreffende Anschrift allenfalls wie ein Postfach zeitweise als Postanschrift benutzt. Danach geht das Oberverwaltungsgericht davon aus, dass es sich bei der vom Kläger angegebenen Anschrift wegen der widersprüchlichen Angaben nicht um eine ladungsfähige Anschrift gehandelt und dass der Kläger noch nicht einmal kurzzeitig bzw. vorübergehend und besuchsweise in den Räumlichkeiten gewohnt hat ([X.]). Gegen die Feststellungen des [X.] hat der Kläger Verfahrensrügen nicht erhoben. Steht danach fest, dass der Kläger unter der angegebenen Anschrift nicht auch nur kurzzeitig gewohnt hat, kommt es auf die Frage, ab welcher Aufenthaltsdauer ein "Wohnen" angenommen werden kann, nicht an.

5

Daran ändert nichts, dass das Oberverwaltungsgericht darüber hinaus angeführt hat, ein vielleicht kurzzeitiger bzw. vorübergehender und besuchsweiser Aufenthalt zum Übernachten in den Räumlichkeiten könne die Annahme einer [X.] Anschrift ebenfalls nicht rechtfertigen ([X.]); denn insoweit handelt es sich um eine weitere [X.]egründung, die die selbstständige Tragfähigkeit der erstgenannten [X.]egründung nicht berührt. Die Zulassung der Revision kommt nicht in [X.]etracht, wenn - wie hier - im Falle einer mehrfachen, die Entscheidung jeweils selbstständig tragenden [X.]egründung des angefochtenen Urteils die [X.]eschwerde nicht in [X.]ezug auf jede dieser [X.]egründungen einen Zulassungsgrund erfolgreich geltend gemacht hat ([X.]eschluss vom 19. August 1997 - [X.]VerwG 7 [X.] 261.97 - [X.] 310 § 133 n.F. VwGO Nr. 26 S. 15).

6

Gleiches gilt für die weitere [X.]egründung des [X.], soweit es eine hinreichende [X.]ezeichnung der [X.] Anschrift durch den Kläger im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vom 21. Juni 2011 deshalb verneint hat, weil mit der Angabe, er wohne "jetzt" bei seiner Schwester, allenfalls ein für die Annahme einer [X.] Anschrift nicht ausreichender besuchsweiser bzw. kurzzeitiger und vorübergehender Aufenthalt behauptet werde ([X.] 29).

7

2. Die weitere Frage:

"Reicht es für eine ordnungsgemäße Klage aus, dass das Gericht den Eindruck gewinnt, dass der Kläger über keine ladungsfähige Anschrift verfügt, ohne dass es darüber hinaus noch maßgeblich auf die Gründe für diesen Umstand ankommt, und, wenn die Gründe hierfür doch maßgeblich sind, abstrakt welche Gründe wären zureichend, um von der Angabe einer [X.] Anschrift als Zulässigkeitsvoraussetzung abzusehen?"

erfüllt die Anforderungen für die Zulassung der Revision ebenfalls nicht. Um den ersten Teil der Frage zu beantworten, bedarf es nicht der Durchführung eines Revisionsverfahrens. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Angabe einer [X.] Anschrift nur ausnahmsweise entbehrlich, wenn besondere Umstände dies rechtfertigen (vgl. [X.], [X.] vom 2. Februar 1996 - 1 [X.]vR 2211/94 - NJW 1996, 1272 und vom 11. November 1999 - 1 [X.]vR 1203/99 - juris; [X.]VerwG, Urteil vom 13. April 1999 - [X.]VerwG 1 C 24.97 - [X.] 310 § 82 VwGO Nr. 19 S. 8; [X.], Urteil vom 9. Dezember 1987 - [X.] - [X.]Z 102, 332 <336>; [X.]FH, [X.]eschluss vom 18. August 2011 - [X.]/10 - juris Rn. 15). Es liegt auf der Hand, dass damit objektive Gegebenheiten gemeint sind, zu denen konkrete Feststellungen getroffen werden müssen. [X.]loße Eindrücke oder Vermutungen des Gerichts reichen also nicht aus.

8

Der zweite Teil der Frage ist schon zu unbestimmt, um einen Klärungsbedarf zu begründen. Ohne Angabe von Gründen, die nach Auffassung der [X.]eschwerde den Verzicht auf die Angabe einer [X.] Anschrift rechtfertigen könnten, fehlt es dieser Fragestellung am notwendigen [X.]ezug zu dem vom [X.]erufungsgericht festgestellten Sachverhalt und damit an einer Grundlage zur [X.]eurteilung ihrer Entscheidungserheblichkeit. Das [X.] dient nicht der Klärung abstrakt ohne [X.]ezug zum Rechtsstreit interessierender Rechtsfragen. Gleiches gilt für die in der ergänzenden [X.]eschwerdebegründung vom 24. November 2011 konkretisierend aufgeworfene Frage:

"Genügt im Falle des Fehlens einer [X.] Anschrift unter der Prämisse, allein dieser Umstand führt noch nicht zur Unzulässigkeit der Klage, sondern es sind auch die Gründe hierfür maßgeblich (siehe erster Teil der Frage), die fehlende Sesshaftigkeit als sich bereits über einen längeren Zeitraum verfestigte Lebensweise des [X.], das wirtschaftliche Unvermögen zur Errichtung eines eigenen Wohnsitzes oder die drohende Gefahr der Zwangsvollstreckung?"

9

Weder hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass der Kläger nicht sesshaft ist, noch, dass er wirtschaftlich nicht in der Lage ist, einen eigenen Wohnsitz zu begründen, noch, dass ihm die Gefahr der Zwangsvollstreckung droht.

3. In einem Revisionsverfahren nicht klärungsbedürftig ist auch die weitere Frage:

"Sind bei belastenden Verwaltungsakten geringere Anforderungen an die Zulässigkeitsvoraussetzung der [X.]ezeichnung einer [X.] Anschrift derart zu stellen, dass insoweit - ungeachtet einer Verletzung der Mitwirkungspflichten des [X.] etwa mit [X.]lick auf § 82 Abs. 2 VwGO - im Zweifel vor einer Klageabweisung aufgrund fehlender Angabe einer [X.] Anschrift die Zustellung an den Kläger ebenso wie dessen persönliches Erscheinen und die [X.]eitreibung entstandener Gerichtskostenforderungen anderweitig, Letzteres etwa durch Sicherheitsleistung, sicherzustellen versucht werden muss?"

Denn in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass die Zulässigkeit der Klage regelmäßig die Angabe einer [X.] Anschrift voraussetzt, ohne dass insoweit nach [X.] differenziert wird, § 82 Abs. 1 VwGO, § 173 VwGO i.V.m. § 130 Nr. 1 ZPO (Urteil vom 13. April 1999 a.a.[X.] ff.; [X.]eschluss vom 1. September 2005 - [X.]VerwG 1 [X.] 79.05 - [X.] 310 § 82 VwGO Nr. 22; [X.], Urteil vom 9. Dezember 1987 a.a.[X.]34 f.; [X.]FH, Urteil vom 28. Januar 1997 - [X.] - juris Rn. 11 ff.; vgl. auch [X.], Urteil vom 15. Mai 1995 - 7 UE 2052/94 - NVwZ-RR 1996, 179; KG, [X.]eschluss vom 10. März 2005 - 19 WF 34/05 - juris Rn. 3 f.; [X.], Urteil vom 3. Januar 2011 - 5 U 94/09 - juris Rn. 19 ff. = [X.]eckRS 2011, 16758; a.A. VGH Mannheim, Urteil vom 22. April 1996 - 1 S 662/95 - NVwZ 1997, 1233). Ebenfalls ist geklärt, dass die Pflicht zur Angabe der Anschrift im Hinblick auf den aus Art. 19 Abs. 4 GG fließenden Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, der unabhängig von der jeweiligen Klageart besteht, ausnahmsweise entfällt, etwa bei fehlendem Wohnort wegen Obdachlosigkeit oder wegen eines schutzwürdigen Geheimhaltungsinteresses, wenn dem Gericht die Gründe hierfür mitgeteilt werden ([X.], [X.] vom 2. Februar 1996 a.a.[X.] und vom 11. November 1999 a.a.[X.]; [X.]VerwG, Urteil vom 13. April 1999 a.a.[X.] 8; [X.], Urteil vom 9. Dezember 1987 a.a.[X.]36; [X.]FH, Urteil vom 19. Oktober 2000 - [X.]/00 - [X.]FHE 193, 52 <55>; [X.]eschluss vom 18. August 2011 a.a.[X.] Rn. 14 f.). Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, ist jedoch eine Frage des jeweiligen Einzelfalles und deshalb einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich.

4. Die weitere Frage:

"Kann für die Zulässigkeit einer Klage die Angabe der [X.] Anschrift auch dann verlangt werden, wenn der Kläger sich bei ihrer Nennung der Gefahr einer Verhaftung aussetzen würde?"

ist schon deshalb in einem Revisionsverfahren nicht klärungsfähig, weil das Oberverwaltungsgericht auch insoweit weder Tatsachen festgestellt noch in den Entscheidungsgründen darauf abgestellt hat. Zwar ist im Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 21. Juni 2011 festgehalten, dass gegen den Kläger zwei staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren anhängig sein sollen und er darüber hinaus zur Fahndung ausgeschrieben sein soll. Das Oberverwaltungsgericht ist dem jedoch nicht nachgegangen. Soweit der Einwand des nicht festgestellten Sachverhalts einer Grundsatzbeschwerde ausnahmsweise dann nicht entgegengehalten werden kann, wenn eine in der Vorinstanz ordnungsgemäß beantragte Sachverhaltsaufklärung nur deswegen unterblieben ist, weil das [X.] die als rechtsgrundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage anders als der [X.]eschwerdeführer beantwortet und deswegen die [X.]eweisaufnahme als nicht entscheidungserheblich abgelehnt hat (s. [X.]eschluss vom 17. März 2000 - [X.]VerwG 8 [X.] 287.99 - [X.]VerwGE 111, 61 <62> = [X.] 428 § 30a VermG Nr. 14), liegt dieser Ausnahmefall hier nicht vor. Denn der Kläger hatte einen [X.]eweisantrag zur Gefahr seiner Verhaftung nicht gestellt und auf eine diesbezügliche Aufklärung auch nicht hingewirkt. Da im Übrigen ein etwaiger Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO mit der [X.]eschwerde ausdrücklich nicht geltend gemacht und demzufolge nicht dargelegt worden ist (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), kommt die Zulassung der Revision auch unter diesem Gesichtspunkt nicht in [X.]etracht.

III. Der zulässige Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheides (§ 80 Abs. 5, § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO) bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Zwar ist das [X.]undesverwaltungsgericht als Gericht der Hauptsache und [X.] der Sache durch das zunächst angerufene Verwaltungsgericht für die Entscheidung über den Antrag zuständig. Der Antrag ist jedoch nicht begründet, weil mit der Zurückweisung der [X.]eschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision der Haftungsbescheid vom 12. Dezember 2002 bestandskräftig wird.

IV. Die Kostenpflicht des [X.] für das [X.]eschwerdeverfahren folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des [X.] für das [X.]eschwerdeverfahren (auf den [X.]etrag des Haftungsbescheides) beruht auf § 52 Abs. 3, § 47 Abs. 1 und 3 GKG, für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auf § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. [X.], 3.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Meta

9 B 79/11, 9 B 79/11, 9 PKH 7/11, 9 VR 1/12, 9 VR 1/12, 9 PKH 1/12

14.02.2012

Bundesverwaltungsgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: PKH

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, 21. Juni 2011, Az: 1 L 266/06, Urteil

§ 82 Abs 1 VwGO, Art 19 Abs 4 GG, § 130 Nr 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 14.02.2012, Az. 9 B 79/11, 9 B 79/11, 9 PKH 7/11, 9 VR 1/12, 9 VR 1/12, 9 PKH 1/12 (REWIS RS 2012, 9169)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 9169

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