Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 13.08.2010, Az. 1 AZR 173/09

1. Senat | REWIS RS 2010, 4068

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Gegenstand

Freistellung von der Arbeitspflicht zur Teilnahme an Ortsvorstandssitzungen der Gewerkschaft


Leitsatz

Weder Art 9 Abs 3 GG noch § 275 Abs 3 BGB berechtigen einen gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer von der Arbeit fernzubleiben, um an Sitzungen des Ortsvorstands seiner Gewerkschaft teilzunehmen.

Tenor

Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Gründe

1

A. Die Parteien haben über einen Anspruch der Klägerin auf unbezahlte Freistellung von der Arbeitspflicht zur Teilnahme an Sitzungen des [X.] einer [X.] gestritten.

2

Die Klägerin ist bei der Beklagten als gewerbliche Arbeitnehmerin beschäftigt. Sie ist nicht freigestelltes Mitglied des Betriebsrats. Seit Ende 2007 gehört sie dem Ortsvorstand einer [X.] an. Dieser hält in zumeist monatlichen Abständen an Dienstagen jeweils von 13.00 bis 17.00 Uhr seine Sitzungen ab. Für den Weg vom Betrieb bis zum Sitzungsraum der [X.] muss die Klägerin eine Wegezeit von rund einer Stunde zurücklegen.

3

Bis August 2008 hatte die Klägerin eine regelmäßige Arbeitszeit von 6.00 bis 14.00 Uhr, danach war sie im Dreischichtbetrieb mit Wechsel von Früh-, Spät- und Nachtschicht eingesetzt.

4

Die Klägerin hat gemeint, die Beklagte habe sie an den Sitzungstagen des [X.] in der [X.] von 12.00 bis 18.00 Uhr von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung unbezahlt freizustellen. Auf die Festlegung der Sitzungstermine habe sie keinen Einfluss. Dementsprechend hat die Klägerin zuletzt die unbezahlte Freistellung von der Arbeitspflicht für konkret benannte Tage im Jahre 2009 verlangt. Die Beklagte hat demgegenüber geltend gemacht, sie werde das Freistellungsbegehren der Klägerin - soweit sie im Dreischichtbetrieb beschäftigt sei - bei der Schichtplanung berücksichtigen. Eine weitergehende unbezahlte Freistellung von der Arbeitspflicht lehnte sie ab.

5

Mit Schriftsatz vom 10. Juni 2010 hat die Klägerin den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt; die Beklagte hat sich dem angeschlossen.

6

B. Nach den übereinstimmenden Erledigungserklärungen ist gem. § 91a Abs. 1 Satz 1 ZPO unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden. Danach hat die Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Die Frage, ob der von der Klägerin gestellte Antrag auf Freistellung von [X.] als Antrag auf eine zukünftige Leistung zulässig war, bedarf dabei im Rahmen der Kostenentscheidung nach § 91a ZPO keiner Entscheidung. Ihre zulässige Revision wäre jedenfalls unbegründet gewesen. Für das Freistellungsbegehren der Klägerin fehlt es an einer Rechtsgrundlage.

7

I. Soweit die Klägerin während der [X.] der [X.]sitzungen zu arbeiten hat, kann sie von der Beklagten nach Art. 9 Abs. 3 [X.] keine unbezahlte Freistellung von ihrer Arbeitspflicht verlangen.

8

1. Die Teilnahme der Klägerin an den Sitzungen des [X.] der [X.] stellt allerdings eine durch Art. 9 Abs. 3 [X.] geschützte koalitionsspezifische Betätigung dar. Der Schutz dieses Grundrechts beschränkt sich nicht auf diejenigen Tätigkeiten, die für die Erhaltung und die Sicherung des Bestands der Koalition unerlässlich sind, sondern umfasst alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen des Verbands und seiner einzelnen Mitglieder ([X.] 14. November 1995 - 1 BvR 601/92 - [X.]E 93, 352). Dazu zählt auch die Mitwirkung in gewerkschaftlichen Organen und bei deren Willensbildung.

9

Hieraus allein ergibt sich jedoch noch kein Anspruch auf unbezahlte Freistellung von der Arbeitspflicht. Die Klägerin lässt unberücksichtigt, dass sie mit dem Abschluss des Arbeitsvertrags und den damit eingegangenen Bindungen in zulässiger Weise auch über [X.] verfügt hat. Mit der Begründung des Arbeitsverhältnisses hat sie der Beklagten zugesagt, ihr im Rahmen der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. In diesem zeitlichen Umfang hat sie Einschränkungen ihrer privaten Lebensführung hingenommen (vgl. zu Art. 4 [X.] [X.] in v. Mangoldt[X.]/[X.] [X.] 6. Aufl. Art. 4 Rn. 137). Die damit verbundene Verfügung über [X.] ist eine wesentliche Form des [X.] und um der personalen Selbstbestimmung willen grundsätzlich zulässig ([X.]/[X.] 10. Aufl. Einl. [X.] Rn. 63). Die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit ist daher für sich betrachtet keine Abrede, welche die durch Art. 9 Abs. 3 [X.] geschützte Koalitionsbetätigungsfreiheit unzulässig einschränkt oder behindert (Art. 9 Abs. 3 Satz 2 [X.]).

2. Mit der Eingehung eines Arbeitsverhältnisses und der damit verbundenen Grundrechtsdisposition verlieren verfassungsrechtlich geschützte Freiheitsrechte jedoch nicht jede Bedeutung. Durch den Arbeitsvertrag werden nicht nur Hauptleistungspflichten, sondern auch vertragliche Rücksichtnahmepflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) begründet. Diese sind unter Beachtung verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen zu konkretisieren. Entsprechendes gilt bei der Ausübung des dem Arbeitgeber nach § 106 [X.] zustehenden Weisungsrechts zur Verteilung der vertraglich geschuldeten Arbeitszeit. Nach dieser Vorschrift hat der Arbeitgeber Inhalt, Ort und [X.] der Arbeitsleistung näher zu bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrags oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. Die Leistungsbestimmung ist nach billigem Ermessen zu treffen. Das verlangt vom Arbeitgeber eine Abwägung der wechselseitigen berechtigten Interessen unter Einbeziehung verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen (vgl. [X.] 15. September 2009 - 9 [X.] - EzA [X.] § 106 Nr. 4). Dazu gehört auch die durch Art. 9 Abs. 3 [X.] geschützte Koalitionsbetätigungsfreiheit des Arbeitnehmers. Da im Rahmen der nach § 106 [X.] vorzunehmenden Abwägung die berechtigten betrieblichen Interessen des Arbeitgebers zu berücksichtigen sind, kann dahinstehen, ob die von der Klägerin in der Revision vorgenommene Einschränkung ihres Klageantrags durch den Zusatz „soweit betriebliche Gründe nicht entgegenstehen“ wirksam erfolgt ist.

3. Danach besteht keine vertragliche Rücksichtnahmepflicht der Beklagten, die Klägerin - wie von ihr begehrt - generell von 12.00 bis 18.00 Uhr zur Teilnahme an den um 13.00 Uhr beginnenden [X.]sitzungen der [X.] von der Arbeit freizustellen. Auch unter Berücksichtigung der Bedeutung der Koalitionsbetätigungsfreiheit überwiegt das Interesse der Beklagten an der Einhaltung der vertraglich begründeten Arbeitspflicht das Interesse der Klägerin an der Teilnahme der regelmäßig an einem Werktag um 13.00 Uhr beginnenden Sitzungen. Die Festlegung dieser Sitzungstermine fällt in den Verantwortungsbereich des [X.]. Als dessen Mitglied wäre es Sache der Klägerin gewesen, darauf hinzuwirken, dass die Sitzungen nicht um die Mittagszeit beginnen und damit eine Kollision mit den [X.] vollzeitbeschäftigter ehrenamtlich tätiger [X.]smitglieder auszuschließen. Ihr Einwand, sie habe keinen Einfluss auf die Terminfestsetzung, ist im Verhältnis zur Beklagten unbeachtlich.

II. Entgegen der Auffassung der Klägerin ergibt sich wegen der Teilnahme an den [X.]sitzungen der [X.] auch kein Leistungsverweigerungsrecht nach § 275 Abs. 3 BGB. Auch insoweit geht es um das Spannungsverhältnis von Vertragstreue und Unzumutbarkeit der Arbeitsleistung. Dabei ist wie bei § 241 Abs. 2 BGB zu berücksichtigen, dass der auf 13.00 Uhr festgelegte Sitzungsbeginn bei Vollzeitbeschäftigten offenkundig regelmäßig zu einer Kollision mit bestehenden [X.] führt. Da eine Verlegung des Sitzungsbeginns auf einen späteren [X.]punkt nicht ausnahmslos unmöglich ist, steht der Klägerin wegen der Teilnahme an gewerkschaftlichen [X.]sitzungen kein Leistungsverweigerungsrecht zu.

III. Soweit die Klägerin im Schichtdienst tätig ist, hat die Beklagte bei der [X.] allerdings den Wunsch der Klägerin an einer Teilnahme an den gewerkschaftlichen [X.]sitzungen zu berücksichtigen. Dabei ist zu beachten, dass die Aufstellung der Schichtpläne nicht allein durch die Beklagte erfolgt, sondern gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG unter Beachtung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats. Die Betriebsparteien haben dabei neben anderen Interessen, wie etwa der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit (dazu [X.] 16. Dezember 2008 - 9 [X.] § 8 Nr. 27 = EzA TzBfG § 8 Nr. 23), auch den Wunsch der Klägerin an einer Teilnahme an Sitzungen des [X.] zu beachten. Diese Termine stehen weit im Voraus fest. Die damit verbundene zeitliche Bindung der Klägerin kann ohne Weiteres in die Schichtplanung einfließen. Davon geht auch die Beklagte aus.

        

    Schmidt    

        

    Koch    

        

    [X.]    

        

        

        

        

        

        

                 

Meta

1 AZR 173/09

13.08.2010

Bundesarbeitsgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Trier, 30. April 2008, Az: 4 Ca 232/08, Urteil

Art 9 Abs 3 GG, § 275 Abs 3 BGB, § 106 S 1 GewO

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 13.08.2010, Az. 1 AZR 173/09 (REWIS RS 2010, 4068)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 4068

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