Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.12.2015, Az. 1 BvR 3164/13

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2015, 390

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz im Verfahren der Verzögerungsrüge (§ 198 GVG) - Anforderungen an die Auslegung eines Schriftsatzes als Verzögerungsrüge - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

1. [X.] [X.] vom 30. September 2013 - 18 [X.] 11/13 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

2. Das [X.] hat die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers zu erstatten.

3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Rüge der Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz durch die gerichtliche Auslegung des Begriffs der [X.] in einem Entschädigungsverfahren nach § 198 [X.].

2

1. Der Beschwerdeführer war Beklagter in einem baurechtlichen Schadenersatzprozess (Ursprungsverfahren) vor dem [X.], der insgesamt sieben Jahre (von März 2006 bis März 2013) dauerte. Er wurde unter Klageabweisung im Übrigen in der Hauptsache zur Zahlung von rund 4.800 € verurteilt.

3

2. Im Februar 2013 erhob der Beschwerdeführer vor dem [X.] nach § 198 [X.] gegen das Land aufgrund überlangen Gerichtsverfahrens (Ausgangsverfahren). Er forderte eine Entschädigung in Höhe von 1.700 € für die [X.]räume August 2009 bis Februar 2010 (sieben Monate) sowie August 2011 bis Mai 2012 (zehn Monate). Diese [X.]räume betrafen die völlige Inaktivität des Gerichts. Sie enthielten keine Phasen, in denen das Verfahren aufgrund des Verhaltens des Beschwerdeführers keinen Fortgang genommen hatte. Unter Bezugnahme auf eine der Klageschrift beigefügte Anlage zum Verfahrensgang war ausgeführt, der Beschwerdeführer habe beim [X.] immer wieder die Verfahrensdauer gerügt und nach Inkrafttreten des [X.] bei überlangen Gerichtsverfahren auch entsprechende [X.]n erhoben.

4

Der im Ursprungsverfahren tätige Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers hatte vor Inkrafttreten des [X.] bei überlangen Gerichtsverfahren in zwei Schriftsätzen um Verfahrensförderung gebeten.

5

Im Schriftsatz vom 31. Oktober 2011 war ausgeführt:

In dem Rechtsstreit […] bittet der Beklagte darauf hinzuweisen, dass der Rechtsstreit schon in Richtung einer "überlangen Verfahrensdauer" zu gleiten scheint. […]

Wir möchten daher das Gericht nachdrücklich um Förderung des Verfahrens bitten.

6

Im Schriftsatz vom 8. November 2011 hieß es:

[…] bittet der Beklagte hinsichtlich der "[X.]" nochmals auf folgendes hinzuweisen:

Nach den von ihm recherchierten Unterlagen ergibt sich eine Verfahrensrüge gemäß Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren. […]

Der Warnfunktion gegenüber dem Gericht ist in der Regel schon mit einer [X.] hinreichend genügt […]

Wir bitten daher nochmal das Gericht entsprechend der hier vorliegenden Verfahrensrüge nunmehr die Angelegenheit zeitnah zu fördern.

7

Nach Inkrafttreten des Gesetzes hat sich der Rechtsanwalt mit Schriftsätzen vom 19. Dezember 2011, 14. Februar 2012, 20. Juni 2012 und 20. Dezember 2012 an das Gericht gewandt.

8

Die Formulierung im Schriftsatz vom 19. Dezember 2011 lautete:

[…] bittet unsere Mandantschaft nunmehr nach seit dem 02.12.2011 veröffentlichten Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren um die Erhebung einer förmlichen [X.].

9

Mit Schriftsatz vom 14. Februar 2012 nahm der damalige Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers auf die förmliche [X.] vom 19. Dezember 2011 Bezug und bat um Sachstandsmitteilung.

Unter dem 20. Juni 2012 erhob der Anwalt:

[…] auf Veranlassung und namens unserer Mandantschaft nach dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren eine förmliche[n] [X.].

Im letzten Schriftsatz vom 20. Dezember 2012 erhob er:

[…] im Auftrage des Beklagten erneut aufgrund des überlangen Gerichtsverfahrens förmliche [X.].

Das [X.] wies die Klage nach vorangegangenem Hinweis mit dem angegriffenen Urteil als unbegründet zurück. Da Entschädigungsansprüche für [X.]räume vor Inkrafttreten der Neuregelung des Gesetzes geltend gemacht würden, fordere Artikel 23 des [X.] bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ([X.]) für diese "Altfälle" eine unverzüglich nach Inkrafttreten des Gesetzes erhobene [X.]. Es könne dahinstehen, ob der Schriftsatz vom 19. Dezember 2011 noch unverzüglich sei, denn jedenfalls enthalte er keine wirksame [X.], weil die Ausführungen in Wortlaut und Inhalt - insbesondere im Vergleich mit den nachfolgend ab dem 20. Juni 2012 erhobenen [X.]n - nicht eindeutig und unmissverständlich, sondern mindestens mehrdeutig seien.

Der Inhalt des Schriftsatzes vom 19. Dezember 2011 könne insbesondere so verstanden werden, dass er nicht mehr als einen Hinweis an das Gericht enthalten solle, der Mandant sei an den Prozessbevollmächtigten herangetreten, habe ihn auf die gesetzliche Neuregelung hingewiesen und geäußert, der Prozessbevollmächtigte möge eine solche Rüge erheben. Damit könne der Schriftsatz als kollegialer Hinweis angesehen werden, dass sich der Prozessbevollmächtigte bei zögerlicher Bearbeitung des Rechtsstreits durch das Gericht in absehbarer [X.] genötigt sehen könnte, dieser Bitte nachzukommen und eine [X.] zu erheben. Dieses Verständnis sei im Vergleich mit den nachfolgenden Schriftsätzen - in denen eine (erste) eindeutige und eine (zweite) erneute [X.] erhoben worden seien - sogar naheliegend.

Die nach der wirksamen Verzögerungsbeschwerde vom 20. Juni 2012 durchgeführte Prüfung ergebe keine unangemessen lange Dauer des Verfahrens ab diesem [X.]punkt. Dass in dieser [X.] bis zum Urteil im März 2013 Verzögerungen aufgetreten seien, behaupte der Kläger selbst nicht.

Das Verfahren wäre aber auch dann nicht unangemessen lang gewesen, wenn der [X.] vom 20. Juni 2012 Rückwirkung zugekommen und danach alle im Verfahren nach Inkrafttreten der Neuregelung eingetretenen Verzögerungen zu berücksichtigen gewesen wären. In diesem Fall hätte nach dem Vortrag des [X.] der Rechtsstreit bei optimaler Förderung fünf Monate früher geendet. Dieser [X.]raum mache einen umfangreichen, rund sieben Jahre dauernden [X.] mit einer vielfältigen, immer wieder insbesondere durch Einholung von Sachverständigengutachten erweiterten Beweisaufnahme nicht unangemessen lang. Dies gelte insbesondere unter Berücksichtigung des Prozessverhaltens des jetzigen [X.] sowie des Umstands, dass er damals der auf Zahlung in Anspruch genommene Beklagte gewesen sei.

1. Die Verfassungsbeschwerde rügt die Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz durch die Auslegung des Schriftsatzes vom 19. Dezember 2011 als bloßen Hinweis statt als [X.] und sieht darin einen leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen, durch den rechtsstaatliche Grundsätze krass verletzt worden seien.

Die Formulierung des Schriftsatzes vom 19. Dezember 2011 könne nicht zu der Auslegung führen, dass keine wirksame Verfahrensverzögerungsrüge erhoben worden sei. Weiter müsse berücksichtigt werden, dass der Beschwerdeführer schon zuvor mehrfach die Verfahrensdauer beanstandet habe. Daraus sowie aus dem Umstand der früheren Beanstandungen der Verfahrensdauer, dem Wortlaut des Schriftsatzes vom 19. Dezember 2011, der Neuregelung des Gesetzes und der Notwendigkeit der Erhebung einer neuen [X.] ergebe sich zweifelsfrei, dass der Beschwerdeführer eine solche Rüge mit dem Schriftsatz vom 19. Dezember 2011 habe erheben wollen.

Der Verstoß sei auch entscheidungserheblich, weil hierdurch keine weitere Prüfung der Verfahrensverzögerung stattgefunden habe.

2. [X.] wurde beigezogen.

3. Zu der Verfassungsbeschwerde hatten das [X.] sowie das [X.] und [X.] des [X.] Gelegenheit zur Äußerung. Die Verfassungsbeschwerde wurde ferner der Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen [X.]s zur Kenntnis zugeleitet.

Nach Auffassung des [X.] und [X.] des [X.] ist die den Gerichten durch das Grundgesetz und die Rechtsprechung des [X.] gezogene Grenze zur Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz nicht überschritten. Selbst wenn die Erklärung des damaligen Prozessbevollmächtigten im Schriftsatz vom 19. Dezember 2011 tatsächlich nicht nur als Hinweis oder Ankündigung gemeint gewesen sein sollte, müsse jedem Rechtsanwalt klar sein, dass die Abgabe einer so unüblichen, weil distanzierten Prozesserklärung mehrdeutig sei und damit missverständlich wirke. Zumindest von einem Rechtsanwalt dürfe insoweit eine eindeutige und unmissverständliche Erklärung erwartet werden.

Der Beschwerdeführer hat ergänzend Stellung genommen.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]; vgl. [X.] 90, 22 <25>). Der Beschwerdeführer ist in seinem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz verletzt und die Verletzung hat besonderes Gewicht.

Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] liegen vor. Das [X.] hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Maßstäbe der Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes durch wohlwollende Auslegung des Inhalts von Rechtsbehelfen sind durch die Rechtsprechung des [X.] bereits geklärt. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet (vgl. [X.] 82, 126 <155>; 93, 99 <107>).

Die seitens des [X.]s gestellten Anforderungen an die Auslegung des Begriffs der [X.] bei überlanger Verfahrensdauer verletzen den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Artikel 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).

1. a) Aus Artikel 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) lässt sich ein Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz im materiellen Sinn für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten ableiten (vgl. [X.] 82, 126 <155>; 93, 99 <107>). Die daraus folgende Rechtsschutzgarantie gewährleistet nicht nur, dass überhaupt ein Rechtsweg zu den Gerichten offensteht, sie garantiert vielmehr auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Die Rechtsschutzgewährung durch die Gerichte bedarf allerdings einer normativen Ausgestaltung durch eine Verfahrensordnung. Dabei kann der Gesetzgeber auch Regelungen treffen, die für ein [X.] besondere formelle Voraussetzungen vorsehen und sich dadurch für den Rechtsuchenden einschränkend auswirken (vgl. [X.] 10, 264 <268>; 60, 253 <268 f.>; 77, 275 <284>). Solche Einschränkungen müssen aber mit den Belangen einer rechtsstaatlichen Verfahrensordnung vereinbar sein und dürfen den einzelnen Rechtsuchenden nicht unverhältnismäßig belasten. Darin findet die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers zugleich ihre Grenze. Der Rechtsweg darf danach nicht in unzumutbarer, durch [X.] nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. [X.] 10, 264 <268>; 77, 275 <284> m.w.N.). Formerfordernisse für Prozesshandlungen können der Rechtssicherheit dienen, sofern sie geeignet sind, die prozessuale Lage für alle Beteiligten rasch und zweifelsfrei zu klären.

Diese Grundsätze gelten nicht nur für den ersten Zugang zum Gericht, sondern für die Ausgestaltung des gesamten Verfahrens (vgl. [X.] 40, 272 <275>). Sie sind auf das [X.] der klagenden Partei in gleicher Weise wie auf das auf Rechtsverteidigung gerichtete Begehren des Gegners anwendbar. Auch der [X.] muss die Tragweite des Grundrechts auf einen wirkungsvollen Rechtsschutz beachten (vgl. [X.] 77, 275 <284>). Er darf verfahrensrechtliche Regelungen, die den vorgenannten Grundsätzen widersprechen, nicht anwenden (Art. 100 Abs. 1 GG). Soweit Verfahrensvorschriften einen Auslegungsspielraum lassen, darf er sie nicht in einem Sinne auslegen, der zu einem solchen Widerspruch führen würde (vgl. [X.] 88, 118 <123 ff.>).

Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Sachverhalts, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allerdings Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das [X.] entzogen. Das [X.] beschränkt seine Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen auf die Verletzung von Verfassungsrecht (vgl. [X.] 18, 85 <92>; stRspr). Die Schwelle eines derartigen Verstoßes gegen Verfassungsrecht ist erst erreicht, wenn die Auslegung der Fachgerichte Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (vgl. [X.] 89, 1 <9 f.>; 99, 145 <160>; 129, 78 <102>). Dies ist hier der Fall.

b) Am 3. Dezember 2011 ist das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren in [X.] getreten (Art. 24 des Gesetzes, [X.] 2302 <2312 f.>). Nach diesem Gesetz ist nunmehr gemäß § 198 [X.] die Möglichkeit eröffnet, nach Erhebung einer [X.] eine Entschädigungsklage wegen der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens einzureichen. Artikel 23 des [X.] bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ([X.]) sieht für bereits anhängige Verfahren, die bei Inkrafttreten des Gesetzes schon verzögert sind, eine Übergangsregelung vor. Danach muss die [X.] unverzüglich nach Inkrafttreten des Gesetzes erhoben werden. Sie wahrt dann einen Anspruch auf Entschädigung oder auf Wiedergutmachung in anderer Weise auch für den vorausgehenden [X.]raum.

Der Gesetzgeber hat Form und Inhalt der als zwingende Anspruchsvoraussetzung ausgestalteten [X.] gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 [X.] nicht näher bestimmt. Den Gesetzesmaterialien kann lediglich entnommen werden, dass die [X.] schriftlich oder mündlich und im Anwaltsprozess nur durch den bevollmächtigten Anwalt erhoben werden kann. Das Vorhandensein einer entsprechenden Rüge ist von Amts wegen zu überprüfen (BTDrucks 17/3802, [X.], 22).

c) Durch die [X.] muss der Betroffene lediglich sein fehlendes Einverständnis mit der Dauer des Verfahrens zum Ausdruck bringen (vgl. [X.]/[X.], NJW 2012, [X.]). Eine ausdrückliche Bezeichnung als "[X.]" ist nicht erforderlich (Zimmermann, [X.], S. 1905 <1908>).

Das Recht auf effektiven Rechtsschutz sichert dem Bürger einen substantiellen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle zu (vgl. [X.] 81, 123 <129>; 96, 27 <39>). Ist dem Inhalt einer schriftlichen Erklärung eines Antragstellers in Verbindung mit Umständen, die für das Gericht offensichtlich sind, zweifelsfrei zu entnehmen, dass der Antragsteller einen Rechtsbehelf einlegen will, so wäre es eine bloße, mit einer rechtsstaatlichen Verfahrensweise nicht vereinbare [X.], den Rechtsbehelf allein deshalb als unzulässig anzusehen, weil die Erklärung unzulänglich formuliert ist (vgl. [X.] 88, 118 <127> zum Einspruch gegen ein Versäumnisurteil). Auch im fachgerichtlichen Verfahren erhobene prozessuale Anträge sind wohlwollend im Sinne des am Gesamtvorbringens erkennbaren Rechtsschutzanliegens auszulegen (vgl. [X.] 134, 106 <114 Rn. 25>).

Dabei ist nicht nur anerkannt, dass es auf die wirkliche Natur des [X.]s ankommt und Falschbezeichnungen unschädlich sind ([X.], Beschluss vom 19. März 2013 - 4 VAs 8/13 -, BeckRS 2013, 05324 "Untätigkeitsbeschwerde"), sondern ebenso, dass ein vor Inkrafttreten des [X.] bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren mangels gesetzlicher Grundlage als sogenannte Untätigkeitsbeschwerde eingelegter Rechtsbehelf durch die Einführung der [X.] obsolet geworden und der bisherige Rechtsbehelf als [X.] auszulegen ist (vgl. [X.], Beschluss vom 21. September 2012 - 4 VAs 39/12 -, BeckRS 2013, 18849). Nach der Rechtsprechung des [X.] sind in einem Anwaltsschriftsatz abgegebene Prozesserklärungen unter Zuhilfenahme ihrer Begründung auslegbar und ist im Zweifel dasjenige gewollt, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der wohlverstandenen Interessenlage entspricht ([X.], Beschluss vom 29. März 2011 - [X.]/10 -, NJW 2011, S. 1455 <1456>).

Auch Nachfragen zum Verbleib von Eilanträgen können gegebenenfalls als [X.] auszulegen sein (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 16. Oktober 2014 - 2 BvR 437/12 -, juris, Rn. 5, 14). Daher ist auch eine durch einen Rechtsanwalt erhobene bedingungsfeindliche Prozesserklärung, wie hier die [X.], auslegungsfähig.

2. Gemessen daran führt die Auslegung des [X.]s, im Schriftsatz vom 19. Dezember 2011 sei keine [X.] zu erkennen, zu einer verfassungsrechtlich nicht mehr gerechtfertigten Verkürzung des Rechtsschutzes.

a) Allerdings war eine [X.] nach dem Inkrafttreten des Gesetzes am 3. Dezember 2011 nicht bereits deshalb entbehrlich, weil der Beschwerdeführer die Verfahrensdauer schon vor Inkrafttreten der §§ 198 ff. [X.] mit Schriftsätzen vom 31. Oktober und 8. November 2011 die Verfahrensdauer beanstandet hatte. Denn nach der Übergangsregelung des Artikel 23 Satz 1 bis 3 [X.] ist bei bereits anhängigen, zum [X.]punkt des Inkrafttretens des Gesetzes schon verzögerten Verfahren die Erhebung der [X.] ausdrücklich unverzüglich nach Inkrafttreten des Gesetzes erforderlich. Frühere Beanstandungen der Verfahrensdauer ersetzen daher die [X.] nicht (vgl. [X.], Urteil vom 22. Mai 2013 - 1 [X.] 2/12 -, BeckRS 2014, 15590).

b) Das [X.] hat jedoch bei der Frage, ob der Schriftsatz vom 19. Dezember 2011 eine wirksame [X.] enthält, die Auslegung ersichtlich nicht am Gesamtinhalt des aus den eingereichten Schriftsätzen erkennbaren [X.]s des Beschwerdeführers ausgerichtet. Zwar hat das Ausgangsgericht auch den Inhalt der nachfolgenden Schriftsätze vom 20. Juni 2012 und vom 20. Dezember 2012 bei der Auslegung herangezogen. Allein aufgrund dieser Beurteilungsgrundlage mag die Wertung des Gerichts, der Schriftsatz vom 19. Dezember 2011 enthalte keine [X.], sondern im Sinne eines kollegialen Hinweises nur deren Ankündigung, noch vertretbar sein. Allerdings hat das [X.] nicht geprüft, ob die vorherigen Bitten um Verfahrensförderung mit Schriftsatz vom 31. Oktober 2011 und 8. November 2011 - bei letzterem unter Hinweis auf die gesetzliche Neuregelung - und der Inhalt des Schriftsatzes vom 14. Februar 2012 geeignet sind, den nach Auffassung des Gerichts mehrdeutigen Inhalt des Schriftsatzes vom 19. Dezember 2011 zu präzisieren und ihm damit den Gehalt einer eindeutigen [X.] zu verschaffen. Da schon im Schriftsatz vom 8. November 2011 der Regelungsgehalt der §§ 198 ff. [X.] angesprochen worden war, scheint es nicht ausgeschlossen, dass das Ausgangsgericht bei einer wohlwollenden, am vernünftigen Rechtsschutzziel orientierten Auslegung unter Berücksichtigung auch dieser weiteren Beanstandungen den Inhalt des Schriftsatzes vom 19. Dezember 2011 als [X.] im Sinne des § 198 Abs. 3 Satz 1 [X.] ausgelegt hätte.

c) Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem festgestellten Verstoß, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Ausgangsgericht zu einem abweichenden, für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis gekommen wäre, wenn es die aus Artikel 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgende Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes in ihrer Bedeutung als Verpflichtung der Fachgerichte, Rechtsbehelfe unter Berücksichtigung des [X.]s wohlwollend auszulegen, beachtet hätte. Es ist nicht auszuschließen, dass das [X.] bei Beurteilung des Schriftsatzes vom 19. Dezember 2011 als wirksame [X.] auch deren Rechtzeitigkeit angenommen sowie haftungsrelevante Verzögerungen im Ursprungsverfahren in der [X.] von August 2009 bis Februar 2010 und von August 2011 bis Dezember 2011 beziehungsweise bis Mai 2012 festgestellt hätte, und dass diese Verzögerung genügt, um das konkrete Verfahren als unangemessen lang einzustufen.

Das [X.] hat - aus seiner Sicht folgerichtig - offengelassen, ob im Falle der Auslegung des Schriftsatzes vom 19. Dezember 2011 als [X.] diese "unverzüglich" im Sinne des Artikel 23 Satz 2 [X.] nach Inkrafttreten des Gesetzes erhoben worden sei. Sofern die Neubewertung zur Einstufung als [X.] führt, liegt die Unverzüglichkeit jedenfalls nahe. Zutreffend weist das [X.] und [X.] des [X.] in seiner Stellungnahme darauf hin, dass der Rechtsbegriff der Unverzüglichkeit im Zusammenhang mit der Erhebung der [X.] mittlerweile in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt ist (vgl. [X.], Urteil vom 10. April 2014 - [X.] -, NJW 2014, S. 1967 <1968>; [X.], Urteil vom 17. Juli 2014 - [X.] -, juris, Rn. 22; [X.], Urteil vom 20. August 2014 - [X.] -, juris, Rn. 23; BSG, Urteil vom 3. September 2014 - [X.] ÜG 2/14 R -, juris, Rn. 27). Danach wird eine innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des [X.] erfolgte [X.] regelmäßig als unverzüglich erhoben betrachtet. Soweit der Verfahrensbevollmächtigte des Beschwerdeführers dies als nicht ausreichend erachtet und eine sechsmonatige Frist entsprechend Artikel 35 Abs. 1 [X.] befürwortet, ist diese Frage nicht Gegenstand des konkreten Verfassungsbeschwerdeverfahrens.

Die Verletzung des Artikel 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Artikel 20 Abs. 3 GG hat besonderes Gewicht. Besonders gewichtig ist eine Grundrechtsverletzung, die auf eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten hindeutet oder wegen ihrer Wirkung geeignet ist, den Betroffenen von der Ausübung von Grundrechten abzuhalten, wenn sie auf einer groben Verkennung des durch ein Grundrecht gewährleisteten Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht oder wenn sie rechtsstaatliche Grundsätze krass verletzt (vgl. [X.] 90, 22 <25>). Das [X.] hat die Würdigung des Inhalts der früheren Schriftsätze vor dem 19. Dezember 2011 und desjenigen vom 14. Februar 2012 nicht lediglich versehentlich mangels Kenntnisnahme unterlassen. Obwohl im Laufe des [X.] sowohl seitens des beklagten [X.] als auch des Beschwerdeführers ausdrücklich auch auf die früheren Beanstandungen hingewiesen wurde, beschränkt sich das Gericht bei der Auslegung auf die Würdigung der nachfolgenden Schriftsätze, ohne auf die zuvor eingereichten Bitten um Verfahrensförderung und den weiteren Schriftsatz vom 14. Februar 2012 überhaupt einzugehen.

1. Da die Klageabweisung durch das [X.] auf dem Verfassungsverstoß beruht, ist das angegriffene Urteil hiernach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 [X.] aufzuheben; die Sache ist an das [X.] zurückzuverweisen.

2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 [X.].

3. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 [X.].

Meta

1 BvR 3164/13

17.12.2015

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, 30. September 2013, Az: 18 SchH 11/13, Urteil

Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 198 Abs 3 S 1 GVG, Art 23 ÜberlVfRSchG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.12.2015, Az. 1 BvR 3164/13 (REWIS RS 2015, 390)

Papier­fundstellen: NJW 2016, 2018 REWIS RS 2015, 390

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5 C 31/15 D (Bundesverwaltungsgericht)

Überlanges verwaltungsgerichtliches Verfahren; maßgeblicher Zeitpunkt für die Erhebung der Verzögerungsrüge und die Berechnung der Verfahrensdauer


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