Bundesgerichtshof, Beschluss vom 28.07.2020, Az. VI ZB 94/19

6. Zivilsenat | REWIS RS 2020, 781

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BEFANGENHEIT ZIVIL- UND ZIVILVERFAHRENSRECHT BUNDESGERICHTSHOF (BGH) ABGASAFFÄRE RICHTER

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Gegenstand

Richterablehnung: Besorgnis der Befangenheit bei eigenen Ansprüchen des entscheidenden Richters gegen eine Partei


Leitsatz

1. Eine Ablehnung wegen Befangenheit gemäß § 42 Abs. 2 ZPO kann begründet sein, wenn ein Richter in einem Verfahren zwar nicht selbst Partei ist, aber über den gleichen Sachverhalt zu entscheiden hat, aus dem er selbst Ansprüche gegen eine Partei geltend macht (BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2019 - II ZB 14/19, MDR 2020, 303 Rn. 10).

2. Entsprechendes gilt, wenn der Richter Ansprüche gegen die Partei bislang nicht geltend gemacht hat, dies aber ernsthaft in Erwägung zieht.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss des 3. Zivilsenats des [X.] vom 3. Dezember 2019 aufgehoben.

Das Ablehnungsgesuch der Beklagten vom 13. November 2019 gegen [X.] am [X.]sowie die Selbstablehnung des Vorsitzenden [X.] werden für begründet erklärt.

Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt bis 25.000 €.

Gründe

I.

1

Der Kläger erwarb in einer Niederlassung der Beklagten ein Fahrzeug der Marke [X.], das von dem sogenannten Abgasskandal betroffen ist. Er macht unter Berufung hierauf kaufrechtliche und deliktsrechtliche Ansprüche gegen die Beklagte geltend. Das [X.] hat die Klage abgewiesen. Der Kläger hat dagegen Berufung eingelegt. Der Vorsitzende des [X.] hat in einer Anzeige gemäß § 48 ZPO mitgeteilt, er sei seit Jahren Halter eines [X.] C 220 [X.], eines Dieselfahrzeugs der Abgasnorm [X.]. Ihm sei vom [X.] ein Informationsschreiben seines Kfz-Herstellers übersandt worden, in dem es heiße: "In Abstimmung mit den Behörden werden wir im Rahmen einer freiwilligen Kundendienstmaßnahme die Software des Motorsteuergerätes von Dieselfahrzeugen der Abgasnorm [X.] aktualisieren. Dieses Software-Update für Ihr Fahrzeug liegt nun vor und kann aufgespielt werden." Nach Rücksprache mit der technischen Beratung des [X.] habe er entschieden, das angebotene Update nicht durchführen zu lassen, weil man ihm nicht habe sagen können, ob die Maßnahme unter Umständen negative Folgen haben könne. Derzeit prüfe er, ob er den Händler oder den Hersteller in Anspruch nehmen werde. Hierzu habe er einen Vertragsanwalt des [X.] um Rat gebeten. Die Antwort stehe noch aus.

2

Gestützt auf diese Erklärungen hat die Beklagte den Senatsvorsitzenden wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Berufungsgericht die Selbstablehnung des Vorsitzenden [X.]s für unbegründet erklärt und das Ablehnungsgesuch der Beklagten zurückgewiesen. Dagegen wendet sich die Beklagte mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde.

II.

3

Die statthafte (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 ZPO) und auch im Übrigen zulässige (§ 575 ZPO) Rechtsbeschwerde ist begründet.

4

1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:

5

Ein Ablehnungsgrund liege nicht vor. Es bestehe kein - auch nur [X.] - Eigeninteresse des [X.]s am Ausgang des hiesigen Rechtsstreits. Der Gedanke, die Stellung des [X.]s als nur möglicher Kläger in einem "Abgasfall" könne verbessert werden, wenn er als Mitglied des Spruchkörpers dabei mitwirke, eine "käuferfreundliche" Rechtsprechung zu entwickeln, erscheine fernliegend. Richtungsweisende Entscheidungen seien einzig durch höchstrichterliche Entscheide zu erwarten. Von einem [X.] sei zu erwarten, dass er sich bei Entscheidungen von aus einer bloßen Sozialbefangenheit folgenden Einflüssen freihalte. Angesichts der außerordentlichen Belastung der Justiz mit den Verfahren im sogenannten Abgasskandal dürfte ein Genügenlassen bloßer Gruppenbetroffenheit zu einer ernsthaften Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Zivilgerichte führen. Eine atypische Vor- oder Parallelbefassung in eigener Sache liege hier lediglich bezüglich des massenhaft auftretenden Phänomens vor, dass der [X.] Autokäufer unter tausenden Autokäufern sei. Dann bedürfe es aber einer nachvollziehbar persönlich fühlbaren Bedeutung der eigenen Sache für den [X.], um die Besorgnis der [X.]lichkeit zu rechtfertigen. Bereits die persönliche Betroffenheit des [X.]s sei, da es nur um ein Update und dessen technische Auswirkungen gehe, eine solche am unteren Rande, denn eine Betriebsuntersagung drohe danach gerade nicht. Auch wolle der [X.] weniger aus eigenen Entschließungen als gemäß den Maßgaben des [X.] und der Beratung eines dortigen [X.] vorgehen. Es komme nicht darauf an, ob sich der [X.] tatsächlich zu einer Klage entschließen werde und in welchem Maß dann der vorliegende Rechtsstreit mit dem des [X.]s Ähnlichkeiten aufweisen werde.

6

2. Das hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Das Berufungsgericht hat den Umstand, dass der Vorsitzende [X.] des [X.] unter Einschaltung eines [X.] des [X.] prüft, ob er den Händler oder den Hersteller seines [X.] (die Beklagte) in Anspruch nimmt, zu Unrecht nicht als Ablehnungsgrund gemäß § 42 ZPO angesehen.

7

a) Nach § 42 Abs. 2 ZPO findet die Ablehnung eines [X.]s wegen der Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Dies ist dann der Fall, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte [X.] eine Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann. Maßgeblich ist, ob aus der Sicht der ablehnenden [X.] bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass gegeben ist, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des [X.]s zu zweifeln (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Beschlüsse vom 10. Dezember 2019 - [X.], [X.], 303 Rn. 9; vom 7. November 2018 - [X.] 16/17, [X.], 2503 Rn. 1 mwN). Tatsächliche Befangenheit oder Voreingenommenheit ist nicht erforderlich; es genügt bereits der "böse Schein", d.h. der mögliche Eindruck mangelnder Objektivität (vgl. [X.], NJW 2012, 3228 Rn. 13 mwN). Misstrauen gegen die Unvoreingenommenheit eines [X.]s ist u.a. dann gerechtfertigt, wenn objektive Gründe dafür sprechen, dass er auf Grund eines eigenen - sei es auch nur mittelbaren - wirtschaftlichen Interesses am Ausgang des Rechtsstreits der Sache nicht unvoreingenommen und unparteiisch gegenübersteht ([X.], Beschlüsse vom 10. Dezember 2019 - [X.], [X.], 303 Rn. 9; vom 24. November 2014 - [X.], [X.], 608 Rn. 3).

8

Eine Ablehnung wegen Befangenheit gemäß § 42 Abs. 2 ZPO kann begründet sein, wenn ein [X.] in einem Verfahren zwar nicht selbst [X.] ist, aber über den gleichen Sachverhalt zu entscheiden hat, aus dem er selbst Ansprüche gegen eine [X.] geltend macht. Aus der Sicht einer [X.], gegen die ein [X.] Ansprüche geltend macht, kann Anlass zu der Befürchtung bestehen, dass dieser [X.] die Würdigung des Sachverhalts, wie er sie dem von ihm verfolgten Anspruch gegen die [X.] zugrunde gelegt hat, auf das Verfahren gegen eine andere [X.], dem der gleiche Sachverhalt zugrunde liegt, überträgt und wie in der eigenen Sache urteilt (vgl. [X.], Beschluss vom 10. Dezember 2019 - [X.], [X.], 303 Rn. 10). Entsprechendes gilt, wenn der [X.] Ansprüche gegen die [X.] bislang nicht geltend gemacht hat, dies aber ernsthaft in Erwägung zieht. Zwar hat er den Sachverhalt in eigener Sache dann noch nicht abschließend gewürdigt. Aus Sicht der [X.] besteht aber Anlass zu der Befürchtung, dass der [X.] etwaige Erwägungen und Beweggründe, die bei seiner vorläufigen Betrachtung des Sachverhalts für eine Geltendmachung von Ansprüchen gegen die [X.] in eigener Sache sprechen, auf das Verfahren überträgt.

9

b) Nach diesen Maßstäben liegt hier ein Ablehnungsgrund vor.

Seiner dienstlichen Äußerung zufolge prüft der Vorsitzende [X.], nachdem er sich gegen das Software-Update entschieden hat, ob er den Händler oder den Hersteller seines [X.] - also die Beklagte - in Anspruch nimmt. Die Ernsthaftigkeit dieser Prüfung ergibt sich daraus, dass er einen Vertragsanwalt des [X.] um Rat gebeten hat. Schon im Rahmen der Beratung zum Software-Update hat sich der [X.] zu möglichen Ansprüchen von Betroffenen gegen den Fahrzeughersteller geäußert, erklärt, ein rechtliches Vorgehen empfehle sich dann, wenn eine eintrittspflichtige Rechtsschutzversicherung bestehe, und auf die Möglichkeit hingewiesen, sich zur Klärung des weiteren Vorgehens von einem [X.]-Vertragsanwalt kostenlos beraten zu lassen. Von dieser Möglichkeit hat der Vorsitzende [X.] Gebrauch gemacht. Es geht ihm damit entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht mehr nur um ein Update und dessen technische Auswirkungen. Auch geht sein Interesse über bloße Sozialbefangenheit oder Gruppenbetroffenheit hinaus. Es besteht die Möglichkeit, dass er im vorliegenden Rechtsstreit den gleichen Sachverhalt und die gleichen Rechtsfragen wie in eigener Sache (dort mit anwaltlicher Hilfe) zu beurteilen hat, ob nämlich Käufern von Fahrzeugen der Marke [X.], die vom sogenannten Abgasskandal betroffen sind, gegen die Beklagte als Herstellerin Schadensersatzansprüche zustehen. Dies ist geeignet, vom Standpunkt der Beklagten aus bei vernünftiger Betrachtung Zweifel an der Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des Vorsitzenden [X.]s aufkommen zu lassen. Von welchen Erwägungen er sich bei seiner Entscheidung in eigener Sache leiten lassen wird und ob die diesbezüglichen Vermutungen des Berufungsgerichts zutreffen, ist dabei unerheblich. Denn es genügt bereits der "böse Schein", die tatsächliche Einstellung des [X.]s ist nicht ausschlaggebend.

[X.]     

      

Offenloch     

      

[X.]

      

Müller     

      

Allgayer     

      

Meta

VI ZB 94/19

28.07.2020

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend OLG Düsseldorf, 3. Dezember 2019, Az: I-3 U 48/19

§ 42 Abs 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 28.07.2020, Az. VI ZB 94/19 (REWIS RS 2020, 781)

Papier­fundstellen: WM2020,1892 REWIS RS 2020, 781


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. VI ZB 94/19

Bundesgerichtshof, VI ZB 94/19, 28.07.2020.


Az. 3 U 48/19

Oberlandesgericht Düsseldorf, 3 U 48/19, 03.12.2019.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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