Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.10.2022, Az. VI ZR 382/21

6. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 7084

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Gegenstand

Gehörsverletzung: Erforderlichkeit einer erneuten Parteianhörung durch das Berufungsgericht


Leitsatz

Eine erneute Parteianhörung durch das Berufungsgericht kann dann erforderlich werden, wenn sich das erstinstanzliche Gericht - etwa aufgrund von Zeugenaussagen - von dem Gegenteil dessen überzeugt hat, was eine Partei in einer persönlichen Anhörung erklärt hat, und in den Urteilsgründen von der Würdigung dieser Parteierklärung ganz abgesehen hat.

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten zu 2 wird der Beschluss des 4. Zivilsenats des [X.] vom 30. November 2021 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung der Beklagten zu 2 gegen das Urteil des [X.] vom 9. Oktober 2020 zurückgewiesen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten zu 1 gegen den vorbezeichneten Beschluss wird zurückgewiesen.

Streitwert: 120.000 €

Gründe

I.

1

Der Kläger nimmt die [X.] wegen behaupteter Fehler bei seiner Geburt in Anspruch. Der Beklagte zu 1 war als ärztlicher Geburtshelfer, die Beklagte zu 2 als Beleghebamme in die Geburt des [X.] eingebunden.

2

Am [X.] nahm der Beklagte zu 1 eine Vakuumextraktion mit einer sogenannten [X.] vor. Danach war die Schulter des [X.] im mütterlichen Becken verkeilt. Daraufhin wurde das [X.] durchgeführt. Die weiteren Einzelheiten des mangelhaft dokumentierten Geburtsvorgangs des [X.] sind zwischen den [X.]en streitig.

3

Bei dem Kläger wurde in der Folge eine "schwerste komplette kindliche Plexusparese rechts mit Abrissen der Wurzeln C5 bis [X.] und in situ Ausrissen C8 und Th1" festgestellt.

4

Das [X.] hat die [X.] gesamtschuldnerisch zur Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von 70.000 € verurteilt und ihre Einstandspflicht für materielle Schäden festgestellt. Die Berufung der [X.] hat das [X.] durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen.

5

Dagegen wenden sich die [X.] mit ihren Nichtzulassungsbeschwerden.

II.

6

Die Nichtzulassungsbeschwerde der [X.] zu 2 hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht, soweit ihre Berufung zurückgewiesen worden ist. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der [X.] zu 2 auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

7

1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung hinsichtlich der [X.] zu 2 ausgeführt, diese habe grob fehlerhaft gehandelt, weil sie, als der Kopf des [X.] bereits geboren worden, seine Schulter aber noch im mütterlichen Becken fixiert gewesen sei, ein Kristellermanöver durchgeführt habe. Die diesbezügliche Überzeugungsbildung des [X.]s sei nicht zu beanstanden. Dieses sei der Darstellung der Eltern des [X.] und der Aussage der Zeugin [X.] (Großmutter des [X.]) gefolgt. Zweifel an der Vollständigkeit und Richtigkeit der landgerichtlichen Feststellungen ergäben sich nicht daraus, dass der Beklagte zu 1 im Rahmen seiner Anhörung vor dem [X.] bekundet habe, dass kein [X.] stattgefunden habe, denn diese Aussage sei widerlegt durch die Aussagen der Eltern des [X.] und der Zeugin [X.]

8

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde der [X.] zu 2 rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht den [X.] zu 1 nicht erneut dazu angehört hat, ob seitens der [X.] zu 2 zu dem vom Berufungsgericht angenommenen Zeitpunkt ein Kristellermanöver erfolgt ist, und dass es dadurch den Anspruch des [X.] auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat.

9

a) Gemäß § 398 Abs. 1 ZPO steht die wiederholte Vernehmung eines Zeugen im Ermessen des Berufungsgerichts. Diesem Ermessen sind aber Grenzen gesetzt. So muss das Berufungsgericht einen bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es dessen Aussage anders würdigen will als die Vorinstanz. Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit der Aussage betreffen (Senatsurteile vom 23. Juni 2020 - [X.], [X.], 999 Rn. 18; vom 10. März 1998 - [X.], NJW 1998, 2222, 2223, juris Rn. 12; Senatsbeschluss vom 25. Juli 2017 - [X.], [X.], 249 Rn. 9 mwN). Trägt das Berufungsgericht dem nicht Rechnung, liegt darin ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG (Senatsbeschlüsse vom 27. April 2021 - [X.], [X.], 897 Rn. 8; vom 25. Juli 2017 - [X.], [X.], 249 Rn. 9; [X.], Beschlüsse vom 28. Juli 2020 - [X.], juris Rn. 11; vom 17. September 2013 - [X.], [X.] 2013, 1436 Rn. 10; [X.], NJW 2011, 49 Rn. 11 ff.).

Entsprechendes gilt, wenn die erste Instanz von der Würdigung der Aussagen der von ihr vernommenen Zeugen und der Erörterung der Glaubwürdigkeit der Zeugen ganz abgesehen hat (Senatsbeschluss vom 27. April 2021 - [X.], [X.], 897 Rn. 9; vgl. Senatsurteil vom 7. Juli 1981 - [X.], NJW 1982, 108, 109, juris Rn. 7-10; [X.], Urteil vom 16. Dezember 1999 - [X.], [X.], 432, 433, juris Rn. 23 mwN). In der Berufungsinstanz kann ein angetretener Zeugenbeweis durch die Verwertung der Niederschrift der erstinstanzlichen Zeugenvernehmung nur ersetzt werden, wenn der persönliche Eindruck, den der Zeuge bei seiner Vernehmung hinterließ oder bei einer erneuten Vernehmung hinterlassen würde, für die Würdigung seiner Aussage nicht entscheidend ist (vgl. Senatsurteil vom 13. Dezember 2005 - [X.], [X.], 369 Rn. 28; [X.], Urteil vom 23. November 2017 - [X.], [X.], 1279 Rn. 29). Anderenfalls hat eine Wiederholung der Beweisaufnahme zu erfolgen (Senatsbeschluss vom 27. April 2021 - [X.], [X.], 897 Rn. 9).

Die genannten Grundsätze gelten entsprechend für die formlose [X.]anhörung.

So ist höchstrichterlich bereits entschieden, dass jedenfalls, soweit die Angaben der [X.]en in die Beweiswürdigung des Erstgerichts nach § 286 Abs. 1 ZPO Eingang gefunden haben und dort in ihrer Glaubhaftigkeit bewertet wurden, das Berufungsgericht nicht ohne eigene Anhörung von dieser Würdigung abweichen kann (Senatsbeschluss vom 25. Juli 2017 - [X.], NJW 2018, 308 Rn. 10; [X.], Beschluss vom 28. Juli 2020 - [X.], juris Rn. 11; [X.], NJW 2017, 3218 Rn. 58).

Eine erneute [X.]anhörung durch das Berufungsgericht kann aber auch dann erforderlich werden, wenn sich das erstinstanzliche Gericht - etwa aufgrund von Zeugenaussagen - von dem Gegenteil dessen überzeugt hat, was eine [X.] in einer persönlichen Anhörung erklärt hat, und in den Urteilsgründen von der Würdigung dieser [X.]erklärung ganz abgesehen hat. Denn auch Erklärungen der persönlich angehörten [X.] sind als "Inhalt der Verhandlungen" gemäß § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO in die Beweiswürdigung einzubeziehen. Hat das erstinstanzliche Gericht dies verfahrensfehlerhaft unterlassen, ist dies durch das Berufungsgericht nachzuholen. Das setzt eine Wiederholung der persönlichen Anhörung der [X.] voraus, wenn der persönliche Eindruck der [X.] für die Beweiswürdigung entscheidend sein kann.

b) Vorliegend hat sich das [X.] bei seiner Beweiswürdigung zu der entscheidenden Frage, ob zum hier maßgeblichen Zeitpunkt seitens der [X.] zu 2 ein [X.] stattgefunden hat, nicht mit der Erklärung des [X.] zu 1 in seiner persönlichen Anhörung befasst, dass dies nicht der Fall war. Aus den Urteilsgründen ist nicht ersichtlich, ob das [X.] diese Erklärung, die es unerwähnt gelassen hat, überhaupt gesehen hat; jedenfalls hat es sie nicht gewürdigt. Einer ausdrücklichen Befassung mit dieser Äußerung in den Urteilsgründen hätte es vorliegend aber gemäß § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO insbesondere deshalb bedurft, weil die Erklärung des [X.] zu 1, dass ein [X.] nicht stattgefunden habe, nicht sein eigenes Verhalten betraf, sondern einen etwaigen Behandlungsfehler der [X.] zu 2, und weil er als Fachmann über die Expertise verfügen dürfte, ein [X.] von anderen Handgriffen zu unterscheiden. Die Beweiswürdigung des [X.]s war demnach unvollständig. Das Berufungsgericht hat die Beweiswürdigung in der angegriffenen Entscheidung vervollständigt, indem es die Erklärung des [X.] zu 1, es habe kein [X.] stattgefunden, als durch die Aussage der Eltern des [X.] und der Zeugin [X.] widerlegt angesehen hat. Ohne die Wiederholung der Anhörung des [X.] zu 1 durfte das Berufungsgericht diese Würdigung aber nicht vornehmen.

Die Anhörung ist auch nicht etwa deshalb entbehrlich geworden, weil der Prozessbevollmächtigte des [X.] zu 1 in der Berufungsinstanz dessen Vortrag schriftsätzlich dahingehend modifiziert hat, dass der Beklagte zu 1 das nach klägerischer Behauptung erfolgte [X.] der [X.] zu 2 nicht bemerkt habe. In der nachzuholenden Anhörung werden diesbezügliche Abweichungen im Vortrag des [X.] zu 1 anzusprechen und anschließend bei der Überzeugungsbildung zu würdigen sein.

III.

Die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] zu 1 wird zurückgewiesen, weil insoweit weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des [X.] erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von einer näheren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen.

[X.]     

      

[X.]     

      

Müller

      

[X.]     

      

Böhm     

      

Meta

VI ZR 382/21

25.10.2022

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, 30. November 2021, Az: 4 U 149/20

Art 103 Abs 1 GG, § 286 Abs 1 S 1 ZPO, § 398 Abs 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.10.2022, Az. VI ZR 382/21 (REWIS RS 2022, 7084)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 7084 MDR 2023, 216-217 REWIS RS 2022, 7084

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Zitiert

VI ZR 435/19

VI ZR 103/17

VI ZR 845/20

II ZR 20/20

XI ZR 394/12

I ZR 51/16

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