Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.07.2017, Az. VI ZR 103/17

6. Zivilsenat | REWIS RS 2017, 7503

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Gegenstand

Berufungsverfahren: Pflicht zur nochmaligen Anhörung der Partei bei beabsichtigter anderer Würdigung der Aussage als die Vorinstanz


Leitsatz

Das Berufungsgericht muss eine in erster Instanz angehörte Partei nochmals anhören, wenn es deren Aussage anders würdigen will als die Vorinstanz. Trägt das Berufungsgericht dem nicht Rechnung, liegt darin ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG (Fortführung BGH, Beschluss vom 17. September 2013, XI ZR 394/12, NZG 2013, 1436).

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird das Urteil des 5. Zivilsenats des [X.] vom 8. Februar 2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: bis 700.000 €

Gründe

I.

1

Der Kläger nimmt die [X.] auf materiellen und immateriellen Schadensersatz nach ärztlicher Behandlung in Anspruch.

2

Der im Jahr 1938 geborene Kläger, der als Internist und Sportmediziner tätig war, litt bereits seit längerer Zeit an mehrfach operativ behandelten Wirbelsäulenbeschwerden. Im Februar 2009 unterzog er sich einer Erweiterung einer vorbestehenden Spondylodese (Wirbelkörperverblockung) nebst Einbringung zweier intervertebraler [X.] durch den [X.] zu 2, der Chefarzt der Klinik für Wirbelsäulenchirurgie der [X.] zu 1 ist. Am 15. März 2009 wurde der Kläger wegen akuter Schmerzen erneut stationär aufgenommen. Am 17. März 2009 erneuerte der Beklagte zu 2 im Rahmen einer Revisionsoperation ein schadhaftes Verbindungsstück und nahm einen Cage-Austausch vor. Drei Tage nach dem [X.] waren der Leukozytenwert des [X.] grenzwertig und der [X.] mit 224,9 mg/l deutlich erhöht, während die Körpertemperatur bei 37,4 Grad lag. Am 23. März 2009 zeigte der Kläger vom unteren Rückenbereich bis in das rechte Bein strahlende Schmerzen an; das daraufhin erstellte [X.] ergab keinen Befund. Der Beklagte zu 2 verordnete die Gabe von Schmerzmittel und Kortison. Am 24. März 2009 nässte die Wunde und zeigte eine Schwellung. Am Vormittag des 25. März 2009 gegen 11 Uhr endete der Krankenhausaufenthalt unter zwischen den [X.]en streitigen Umständen; zu diesem Zeitpunkt hatte die als Assistenzärztin bei der [X.] zu 1 tätige Beklagte zu 4 Dienst. Wenige Stunden nach seiner Entlassung meldete sich der Kläger mit einem spontan eröffneten Hämatom im Bereich der Operationswunde in einem anderen Krankenhaus. In der Folge musste der Kläger mehrfach langfristig stationär behandelt werden.

3

Der Kläger macht, soweit für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde noch von Interesse, grobe Behandlungsfehler im Rahmen seiner Entlassung geltend. Bei den bestehenden Anzeichen für eine Wundinfektion hätten die [X.] ihn nicht entlassen dürfen, ohne zuvor erneut den [X.] zu bestimmen.

4

Das [X.] hat die auf Zahlung von Schmerzensgeld, Schadensersatz wegen Verdienstausfalls, weiteren Schadensersatz, Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten und Feststellung gerichtete Klage nach informatorischer Anhörung des [X.] und der [X.] zu 2 und 4 sowie Vernehmung einer bei der Abschlussuntersuchung am 25. März 2009 anwesenden Krankenschwester als Zeugin auf der Grundlage eines orthopädischen Fachgutachtens samt Anhörung des Sachverständigen abgewiesen.

5

Zur Begründung hat es - soweit hier relevant - ausgeführt, der Kläger habe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die Klinik am 25. März 2009 entgegen dem ausdrücklichen Rat der behandelnden Ärzte und auf eigene Verantwortung verlassen. Sowohl der Beklagte zu 2 am 24. März 2009 als auch die am 25. März 2009 diensthabende Beklagte zu 4 hätten dem Kläger deutlich gemacht, dass sie ihn mit dieser Wunde nicht entlassen wollten. Der Kläger, selbst erfahrener Arzt, habe jedoch auf seiner Entlassung bestanden und am 25. März 2009 gegenüber der [X.] zu 4 den Eindruck vermittelt, seine Entlassung sei mit dem [X.] zu 2 abgesprochen und er werde sich [X.] lassen. Die Beklagte zu 4 habe diese Äußerung des [X.] so verstehen dürfen, dass der Kläger die weitere Behandlung in der Klinik der [X.] zu 1 insgesamt ablehne und alle weiteren Behandlungsmaßnahmen, also auch erforderliche ([X.], heimatnah erfolgen sollten. Die Beklagte zu 4 sei davon ausgegangen, dass sie mit dem Kläger auch über die Notwendigkeit der nochmaligen Kontrolle des [X.]es gesprochen habe, da sie dies üblicherweise tue.

6

Auf die Berufung des [X.] hat das [X.] ergänzend Beweis erhoben und ein weiteres fachorthopädisches Gutachten eingeholt sowie den neuen Sachverständigen ergänzend angehört. Mit der angegriffenen Entscheidung hat das Berufungsgericht das Urteil des [X.]s aufgehoben und die [X.] im Wege eines Grund- (Zahlungsansprüche) und [X.] (Feststellungsanspruch) zugesprochen. Es könne offen bleiben, ob bereits der Beklagte zu 2 einen groben Behandlungsfehler begangen habe, als er am 24. März 2009 nicht selbst den [X.] erhoben habe. Denn jedenfalls die Beklagte zu 4 habe es am 25. März 2009 grob fehlerhaft unterlassen, den [X.] des [X.] vor dessen Entlassung zu bestimmen. Die Beklagte zu 4 könne sich nicht darauf berufen, der Kläger hätte eine [X.]-Bestimmung verweigert. Es sei nicht ersichtlich, warum sich der Kläger dieser Maßnahme hätte verschließen sollen. Der grobe Behandlungsfehler der [X.] zu 4 sei den [X.] zu 1 und 2 gemäß § 278 BGB zuzurechnen.

7

Die Revision hat das Berufungsgericht nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der [X.].

II.

8

Die Nichtzulassungsbeschwerde der [X.] ist statthaft und auch im Übrigen zulässig (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 544 ZPO; § 26 Nr. 8 EGZPO). Sie hat auch in der Sache Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die Nichtzulassungsbeschwerde macht zu Recht geltend, dass das Berufungsgericht den Anspruch der [X.] auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat, indem es die Angaben des erstinstanzlich informatorisch angehörten [X.] und der [X.] zu 4 anders als das [X.] gewürdigt hat, ohne diese - wie nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO erforderlich - selbst erneut anzuhören.

9

1. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten [X.] gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist aber eine erneute Beweisaufnahme zwingend geboten (vgl. [X.], NJW 2005, 1487; [X.], Beschluss vom 14. Juli 2009 - [X.], NJW-RR 2009, 1291 Rn. 5). Insbesondere muss das Berufungsgericht einen bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es dessen Aussage anders würdigen will als die Vorinstanz ([X.], Urteile vom 9. Februar 2010 - [X.], [X.], 515; vom 8. Dezember 1999 - [X.], [X.], 1199, 1200; vom 28. November 1995 - [X.], [X.], 196, 198; [X.], Beschluss vom 1. August 2017 - 2 BvR 3068/14, Rn. 55 f. mwN). Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit der Aussage betreffen (Senatsurteil vom 10. März 1998 - [X.], NJW 1998, 2222, 2223; [X.], Urteil vom 19. Juni 1991 - [X.], NJW 1991, 3285, 3286). Diese Grundsätze gelten nach § 451 ZPO für die [X.]vernehmung entsprechend. Auch von der Würdigung der Aussage der [X.] darf das Rechtsmittelgericht nicht abweichen, ohne die [X.] erneut vernommen zu haben (vgl. [X.], Urteil vom 28. September 1981 - [X.], [X.], 1175, 1176; Urteil vom 16. Juli 1998 - [X.], NJW 1999, 363, 364). Trägt das Berufungsgericht dem nicht Rechnung, liegt darin ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ([X.], Beschluss vom 17. September 2013 - [X.], [X.] 2013, 1436 Rn. 10).

Nichts anderes kann gelten, wenn das Erstgericht die [X.] nicht förmlich vernommen, sondern lediglich nach § 141 ZPO informatorisch angehört hat. Jedenfalls soweit die Angaben der [X.]en in die Beweiswürdigung des Erstgerichts nach § 286 Abs. 1 ZPO Eingang gefunden haben (vgl. [X.], Urteil vom 16. Juli 1998 - [X.], NJW 1999, 363, 364) und dort in ihrer Glaubhaftigkeit bewertet wurden, kann das Berufungsgericht nicht ohne eigene Anhörung von dieser Würdigung abweichen ([X.], Beschluss vom 1. August 2017 - 2 BvR 3068/14, Rn. 58).

2. Nach diesen Maßgaben ist Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

Das [X.] hat gemäß seinem persönlichen Eindruck anlässlich der Anhörung des [X.] und der [X.] zu 4 und aufgrund der sonst von ihm gewürdigten Umstände die Überzeugung gewonnen, dem Kläger sei aufgrund seiner ärztlichen Erfahrung bewusst gewesen, dass der [X.] vor der Entlassung erneut zu kontrollieren sei. Unabhängig davon sei die Beklagte zu 4 davon ausgegangen, dass sie mit dem Kläger hierüber gesprochen habe. Der Kläger habe zum Ausdruck gebracht, dass er weitere Untersuchungen in der Klinik der [X.] zu 1 ablehne, dies habe die Beklagte zu 4 auch so verstehen dürfen. Die Angaben des [X.] zum Geschehensablauf hat das [X.] dabei als unglaubhaft, die der [X.] dagegen als glaubhaft eingestuft.

Dieses Beweisergebnis hat das Berufungsgericht mit der Erwägung in Zweifel gezogen, es sei nicht ersichtlich, warum der Kläger sich dem für eine Laborkontrolle erforderlichen, kaum belastenden Eingriff einer Blutentnahme hätte entziehen sollen. Die Bedeutung einer erneuten [X.] sei für den Kläger nicht erkennbar gewesen, die Beklagte zu 4 habe ihn hierauf nicht hingewiesen. Damit hat das Berufungsgericht die Angaben des [X.] und der [X.] zu 4 anders gewürdigt als das Erstgericht. Daran war es ohne erneute Anhörung des [X.] und der [X.] zu 4 gehindert.

3. Das Berufungsurteil beruht auf der Gehörsverletzung. Diese Voraussetzung ist schon dann erfüllt, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gericht nach erneuter Anhörung anders entschieden hätte (vgl. [X.]E 7, 95, 99; 60, 247, 250; 62, 392, 396; 65, 305, 308; 89, 381, 392 f.). Dies ist der Fall, weil die [X.] den Nachweis eines Hinweises auf die Notwendigkeit einer erneuten [X.]-Bestimmung und die Verweigerung dessen durch den Kläger möglicherweise auch in zweiter Instanz geführt hätten. Dann wäre ein Behandlungsfehler ausgeschlossen (vgl. Senat, Urteil vom 16. Juni 2009 - [X.], [X.], 1267 Rn. 14 sowie Beschluss vom 2. Juli 2013 - [X.]/13, [X.], 261 Rn. 15).

Die neue Verhandlung gibt dem Berufungsgericht im Übrigen Gelegenheit, sich gegebenenfalls mit dem weiteren Vorbringen der [X.]en im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zu befassen.

[X.]     

      

von [X.]     

      

[X.]

      

Klein     

      

Allgayer     

      

Meta

VI ZR 103/17

25.07.2017

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Koblenz, 8. Februar 2017, Az: 5 U 1236/15

Art 103 Abs 1 GG, § 141 Abs 1 ZPO, § 529 Abs 1 Nr 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.07.2017, Az. VI ZR 103/17 (REWIS RS 2017, 7503)

Papier­fundstellen: MDR 2018, 53 REWIS RS 2017, 7503

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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