Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14.06.2023, Az. IX S 4/23

9. Senat | REWIS RS 2023, 3568

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Gegenstand

Anhörungsrüge: Verletzung des rechtlichen Gehörs, Ablehnung eines Befangenheitsantrags wegen Rechtsmissbrauchs


Leitsatz

1. NV: Der Anspruch auf rechtliches Gehör i.S. von Art. 103 Abs. 1 GG und § 96 Abs. 2 FGO ist erst dann verletzt, wenn sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalls ergibt, dass das Gericht Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat.

2. NV: Eine pauschale Ablehnung aller Berufsrichter eines Spruchkörpers ohne Angabe ernstlicher Gründe in der Person des einzelnen Richters ist regelmäßig rechtsmissbräuchlich und daher unzulässig.

3. NV: Bei einem rechtsmissbräuchlichen Befangenheitsantrag kann der Spruchkörper in der geschäftsplanmäßigen Besetzung, d.h. unter Mitwirkung der abgelehnten Richter, über das Ablehnungsgesuch entscheiden.

Tenor

Die Anhörungsrüge der Kläger gegen den Beschluss des [X.] vom 12.01.2023 - [X.]/21 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens haben die Kläger zu tragen.

Gründe

1

Die Anhörungsrüge ist unbegründet und durch Beschluss zurückzuweisen (§ 133a Abs. 4 Satz 2 und 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

2

1. Nach § 133a Abs. 1 FGO ist das Verfahren auf die Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten fortzuführen, wenn ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist und das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.

3

a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne von Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) und § 96 Abs. 2 FGO verpflichtet das Gericht unter anderem, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und sich mit [X.] des Vorbringens auseinanderzusetzen. Dabei ist das Gericht naturgemäß nicht verpflichtet, der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen (vgl. Beschluss des [X.] vom 11.06.2008 - 2 BvR 2062/07, [X.], 1056). Das Gericht ist nach Art. 103 Abs. 1 GG auch nicht verpflichtet, sich mit jedwedem Vorbringen des Beteiligten in der Begründung seiner Entscheidung ausdrücklich zu befassen (Entscheidungen des [X.] vom 27.05.1970 - 2 BvR 578/69, [X.]E 28, 378; vom 10.06.1975 - 2 BvR 1086/74, [X.]E 40, 101; vom 05.10.1976 - 2 BvR 558/75, [X.]E 42, 364 und vom 15.04.1980 - 2 BvR 827/79, [X.]E 54, 86). Dies bedeutet, dass im Einzelfall eine Begründung ganz entfallen oder sich das Gericht lediglich mit den seiner Ansicht nach wesentlichen Gesichtspunkten der Begründungsschrift auseinandersetzen kann. Vor diesem Hintergrund ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen eines Beteiligten tatsächlich auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat ([X.]-Beschluss vom 15.04.1980 - 1 BvR 1365/78, [X.]E 54, 43); der Umstand allein, dass sich die Entscheidungsgründe mit einem bestimmten Gesichtspunkt nicht ausdrücklich auseinandersetzen, rechtfertigt --insbesondere mit Blick auf die Bestimmung des § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO-- deshalb auch nicht die Annahme, das Gericht habe den Gesichtspunkt unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör übergangen.

4

Nach diesen Maßstäben ist der Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne von Art. 103 Abs. 1 GG und § 96 Abs. 2 FGO erst dann verletzt, wenn sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalls ergibt, dass das Gericht Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat (vgl. Senatsbeschluss vom 27.10.2017 - IX S 21/17, [X.], 50, Rz 2).

5

b) Das ist vorliegend nicht der Fall. Der erkennende Senat hat den Vortrag der Kläger, Beschwerdeführer und Rügeführer (Kläger) in der Begründung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des [X.] vom 28.10.2021 - 8 K 178/21 E ersichtlich zur Kenntnis genommen und über das Vorbringen der Kläger entschieden. So hat der Senat zu den von den Klägern in ihrer Beschwerdebegründung vom 03.02.2022 vorgebrachten Gründen für die Zulassung der Revision vollständig Stellung genommen. Dies gilt sowohl hinsichtlich des Vorliegens eines qualifizierten Rechtsanwendungsfehlers als auch hinsichtlich der von den Klägern gerügten Verfahrensmängel wie der Verletzung des rechtlichen Gehörs und eines Verstoßes gegen die Sachaufklärungspflicht.

6

2. Das von den Klägern gestellte Ablehnungsgesuch ist unzulässig.

7

a) Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO in Verbindung mit § 42 der Zivilprozessordnung (ZPO) kann ein [X.] wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen dessen Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Gründe für ein solches Misstrauen sind gegeben, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit zu zweifeln. Es müssen Anhaltspunkte für eine unsachliche Einstellung oder Willkür des [X.]s vorliegen. In dem Ablehnungsgesuch ist der Ablehnungsgrund darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 51 Abs. 1 FGO i.V.m. § 44 Abs. 2 ZPO). Das Ablehnungsgesuch muss sich grundsätzlich auf bestimmte [X.] beziehen. Eine pauschale Ablehnung aller Berufsrichter eines Spruchkörpers ohne Angabe ernstlicher Gründe in der Person des einzelnen [X.]s ist regelmäßig rechtsmissbräuchlich und daher unzulässig (ständige Rechtsprechung des [X.] --BFH--, vgl. u.a. Senatsbeschluss vom 20.06.2013 - IX S 12/13, [X.], 1444, Rz 3, m.w.N.). Falsche Rechtsansichten und [X.] können allenfalls dann eine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen, wenn sie auf einer unsachlichen Einstellung des [X.]s gegenüber den Prozessbeteiligten oder auf Willkür beruhen. Die Fehlerhaftigkeit muss ohne weiteres feststellbar und schwerwiegend sein sowie auf unsachliche Erwägungen schließen lassen (vgl. [X.] vom 10.03.2015 - V B 108/14, [X.], 849, Rz 10 und Senatsbeschluss vom 20.06.2013 - IX S 12/13, [X.], 1444, Rz 3, m.w.N.).

8

b) Nach diesen Grundsätzen ist das Ablehnungsgesuch der Kläger rechtsmissbräuchlich, da mit ihm pauschal die für die Entscheidung des Rechtsstreits zuständigen [X.] abgelehnt werden. Konkrete Gründe, die eine Befangenheit einzelner [X.] befürchten ließen, werden nicht vorgebracht. Dem Vortrag ist auch nicht zu entnehmen, aus welchen Gründen die abgelehnten [X.] willkürlich eine Fehlentscheidung getroffen haben sollen.

9

Aus diesem Grund waren dienstliche Äußerungen der betroffenen [X.] zu dem missbräuchlichen Ablehnungsgesuch nicht einzuholen; ferner kann der Senat in der geschäftsplanmäßigen Besetzung, das heißt unter teilweiser Mitwirkung der abgelehnten [X.], über das Ablehnungsgesuch entscheiden (vgl. u.a. [X.] vom 29.12.2015 - IV B 68/14, [X.], 575, Rz 3; vom 04.05.2016 - V B 108/15, [X.], 1289, Rz 10; vom 28.10.2020 - XI B 26/20, [X.], 536, Rz 24; Senatsbeschluss vom 20.06.2013 - IX S 12/13, [X.], 1444, Rz 5, m.w.N.).

3. Von einer weiteren Begründung wird mit Blick auf § 133a Abs. 4 Satz 4 FGO abgesehen.

4. Für die Entscheidung über die Anhörungsrüge wird eine Gebühr in Höhe von 66 € erhoben (Nr. 6400 des [X.], Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes).

Meta

IX S 4/23

14.06.2023

Bundesfinanzhof 9. Senat

Beschluss

vorgehend BFH, 12. Januar 2023, Az: IX B 81/21, Beschluss

Art 103 Abs 1 GG, § 51 Abs 1 S 1 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 133a FGO, § 42 ZPO, § 44 Abs 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14.06.2023, Az. IX S 4/23 (REWIS RS 2023, 3568)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 3568


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. IX B 81/21

Bundesfinanzhof, IX B 81/21, 12.01.2023.


Az. IX S 4/23

Bundesfinanzhof, IX S 4/23, 14.06.2023.


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