Bundessozialgericht, Beschluss vom 04.11.2014, Az. B 2 U 144/14 B

2. Senat | REWIS RS 2014, 1688

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Verletzung des rechtlichen Gehörs - Terminverlegung - erheblicher Grund: zuvor nicht anwaltlich vertretener Betroffener ohne juristische Vorbildung - kurzfristige Mandatierung - Beschleunigung des Verfahrens - effektiver Rechtsschutz


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 14. Mai 2014 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig ist die Anerkennung einer Lungenkrebserkrankung des verstorbenen Ehemannes der Klägerin als Berufskrankheit ([X.]) nach [X.] der Anlage 1 der [X.] (Lungenkrebs in Verbindung mit [X.]lungenerkrankung oder durch [X.] verursachte Erkrankungen der Pleura oder bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaubdosis von mindestens 25 Faserjahren). Das [X.] hat die Klage gegen die ablehnenden Bescheide der Beklagten durch Urteil vom [X.] abgewiesen. Auf die Berufung, die die Klägerin mit diversen ärztlichen Stellungnahmen sowie [X.] begründet hat, hat das L[X.] ein weiteres Sachverständigengutachten vom [X.] eingeholt. Am [X.] hat das L[X.] die mündliche Verhandlung auf den [X.] anberaumt. Die Ladung ist der Klägerin am [X.] durch [X.] zugestellt worden. Die Klägerin erteilte am 5.5.2014 dem Rechtsanwalt [X.]. Am 6.5.2014 beantragte Rechtsanwalt [X.] wegen der "notwendigen Einarbeitung in den recht komplizierten Sach- und Streitstoff", den Termin zur mündlichen Verhandlung zum [X.] aufzuheben und auf einen mindestens zehn Wochen späteren Termin neu zu terminieren. Ferner hat der Rechtsanwalt beantragt, ihm Einsicht in die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten zu gewähren und diese Akten in sein Büro zur Einsichtnahme für zwei Wochen zu übersenden.

2

Der Berichterstatter hat daraufhin am 8.5.2014 schriftlich mitgeteilt, dass gegenwärtig eine Terminverlegung nicht in Betracht gezogen werde. In dem seit Oktober 2010 beim L[X.] anhängigen Verfahren sei umfassend vorgetragen worden. Die Klägerin habe ausreichend Zeit gehabt, einen Prozessbevollmächtigten zu beauftragen. Eine "Vertagung" sei nur bei wichtigem Grund möglich. Die Beauftragung eines Prozessbevollmächtigten kurz vor dem Termin ohne Darlegung der Gründe für eine verspätete Beauftragung stelle keinen wichtigen Grund dar.

3

Hierauf hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin unter dem 12.5.2014 per Fax dem L[X.] mitgeteilt, dass die Anträge vom 6.5.2014 in keinerlei Hinsicht eine Prozessverschleppung beinhalteten. Die Beauftragung eines Rechtsanwalts erst Anfang Mai habe sachlich nachvollziehbare Gründe gehabt. Vorliegend sei vom L[X.] erst drei Jahre nach der Berufungseinlegung ein Gutachten veranlasst worden, welches der Klägerin im September 2013 bekannt gegeben worden sei. Auch nach der Ladung des L[X.] vom [X.] habe die Klägerin, die von einer "Beratungsstelle für ehemals Beschäftigte der [X.]" juristisch beraten worden sei, kein Erfordernis für eine Mandatierung eines Prozessbevollmächtigten gesehen. Erst durch einen zufälligen Kontakt mit ihm in der zweiten Hälfte des April 2014 sei sie durch ihn darüber informiert worden, dass die Ladung zur Beweisaufnahme stark vermuten lasse, das L[X.] werde das Klagebegehren ablehnen.

4

Die Senatsvorsitzende am L[X.] hat dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin durch Faxschreiben vom 12.5.2014 mitgeteilt, dass dem Antrag auf Terminverlegung auch im Hinblick auf die Ausführungen dieses Schriftsatzes nicht stattgegeben werde. Hinsichtlich der beantragten Akteneinsicht werde ausdrücklich auf die Möglichkeit hingewiesen, noch vor dem für 14:30 Uhr am [X.] anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung auf der Geschäftsstelle des Senats Akteneinsicht zu nehmen.

5

Durch in der mündlichen Verhandlung vom [X.] überreichten Schriftsatz hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin erneut beantragt, rechtliches Gehör zu erhalten sowie die Verhandlung vom [X.] zu vertagen und seinem Antrag auf Akteneinsicht vom 6.5.2014 stattzugeben. Nach Durchführung einer Zwischenberatung hat das L[X.] die Anträge durch Beschluss abgelehnt.

6

Im [X.] hat das L[X.] die Anträge aufgenommen und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des [X.] Lübeck vom [X.] sodann zurückgewiesen.

7

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin das Vorliegen von [X.] iS des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G geltend. Sie rügt insbesondere, dass der Termin zur mündlichen Verhandlung am [X.] nicht verlegt worden sei. Das L[X.] begründe an keiner Stelle, unter welchen Voraussetzungen es einen "wichtigen Grund" zur Terminverlegung iS des § 227 ZPO anerkennen wolle. Das L[X.] habe gegen das Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs verstoßen. Ihr, der Klägerin, könne nicht angelastet werden, dass sie sich erst zu einem sehr späten Zeitpunkt Klarheit darüber verschafft habe, dass die Notwendigkeit einer juristischen Vertretung bestehe.

8

II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Schleswig-Holsteinischen L[X.] vom [X.] hat die Klägerin form- und fristgerecht Beschwerde eingelegt sowie diese begründet. Das angefochtene Urteil des L[X.] vom [X.] ist unter Verstoß gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs ergangen, weil das L[X.] den Antrag auf Terminverlegung gemäß § 227 ZPO zu Unrecht abgelehnt hat. Dieser von der Klägerin auch schlüssig gerügte Verfahrensmangel führt gemäß § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]G zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das L[X.].

9

Gemäß § 62 Halbs 1 [X.]G, der das durch Art 103 Abs 1 GG garantierte prozessuale Grundrecht wiederholt, ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren; dieses gilt insbesondere für eine Instanz abschließende Entscheidung wie das am [X.] verkündete Urteil. Entsprechend durfte dieses Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 [X.]G). Zu diesem Zweck können sich die Beteiligten in jeder Lage des Verfahrens durch prozessfähige Bevollmächtigte vertreten lassen (§ 73 Abs 2 Satz 1 [X.]G).

Der von der Klägerin am 5.5.2014 beauftragte Prozessbevollmächtigte Rechtsanwalt [X.] konnte aufgrund der Kurzfristigkeit seiner Beauftragung mit dem Sachverhalt noch nicht hinreichend vertraut sein. Damit hat der Prozessbevollmächtigte in seinem Schriftsatz vom 6.5.2014 einen erheblichen Grund iS des § 227 ZPO geltend gemacht. Das L[X.] war deshalb zur Terminverlegung verpflichtet (vgl B[X.] vom 26.6.2007 - B 2 U 55/07 B - [X.] 4-1750 § 227 [X.] 1). Denn das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs hat insbesondere zum Inhalt, dass die Beteiligten ausreichend Gelegenheit zur Abgabe sachgemäßer Erklärungen haben und ihnen dazu eine angemessene Zeit eingeräumt wird; dies gilt auch und gerade für die mündliche Verhandlung, in der das Sach- und Streitverhältnis mit den Beteiligten zu erörtern ist (§ 112 Abs 2 [X.]G; vgl B[X.] vom [X.] KA 8/02 R - USK 2002-149 mwN; vgl B[X.] vom [X.] - B 2 U 15/00 R - [X.] 3-1500 § 128 [X.] 14 S 28, [X.] 3-1500 § 62 [X.] 25; B[X.] vom 3.4.1958 - 2 RU 44/54 - [X.] [X.] 6 zu § 62 [X.]G).

Zwar ist unter bestimmten Voraussetzungen eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht anzunehmen, wenn dem Beteiligten die rechtzeitige Bestellung des Bevollmächtigten zugemutet werden konnte (so B[X.] vom 27.10.1955 - 4 RJ 6/54 - B[X.]E 1, 280, 282 f = [X.] [X.]G § 119 [X.] 2, [X.] ZPO § 227 [X.] 2, [X.] GG Art 103 [X.] 2, [X.] [X.]G § 62 [X.] 2, [X.] [X.]G § 162 [X.] 16, [X.] GG Art 103 [X.] 2). Dasselbe gilt, wenn den Beteiligten hierbei ein Verschulden anzulasten ist (vgl Meyer-Ladewig/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 110 Rd[X.] 5a) oder wenn der Beteiligte kurzfristig einen [X.] vorgenommen hat, obwohl ihm zuzumuten war, sich durch den von ihm bislang bestellten Bevollmächtigten weiterhin vertreten zu lassen (vgl BVerwG vom 22.12.1986 - 7 [X.]/86 - [X.] 310 § 132 VwGO [X.] 245; BVerwG vom [X.] - NJW 1986, 339 mwN).

Allerdings gebietet es der Grundsatz rechtlichen Gehörs, hier keine allzu strengen Maßstäbe anzulegen. Dies gilt bereits bei einem Wechsel des Anwalts (B[X.] vom [X.] KA 8/02 R - juris), und muss daher erst recht bei einem zuvor nicht anwaltlich vertretenen Betroffenen ohne juristische Vorbildung gelten. Die Klägerin war bislang lediglich von einer Beratungsstelle beraten worden, so dass von einem erheblichen Grund für eine Terminverlegung iS des § 227 ZPO ausgegangen werden muss, wenn sie nach zufälligem Kontakt zu einem Anwalt diesen zehn Tage vor der mündlichen Verhandlung mandatiert, weil sie eine professionelle Prozessvertretung nunmehr für erforderlich hält. Zwar wäre es der Klägerin möglich gewesen, bereits zu einem früheren Zeitpunkt einen Rechtsanwalt zu beauftragen, jedoch würde eine Berücksichtigung dieses Umstands zu ihrem Nachteil dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 GG) zuwiderlaufen. Der Grundsatz, dass Verlegungen oder Vertagungen von Terminen mit der vom Gesetz geforderten Beschleunigung des Verfahrens in Einklang zu bringen sind, darf nämlich nicht zu einer Verkümmerung des rechtlichen Gehörs führen (B[X.] vom 26.10.1955 - 3 RJ 34/54 - B[X.]E 1, 277 = [X.] GG Art 103 [X.] 1, [X.] GG Art 102 [X.] 1, [X.] [X.]G § 62 [X.] 1, [X.] [X.]G § 110 [X.] 1, [X.] [X.]G § 162 [X.] 15, [X.] ZPO § 227 [X.] 1). Dies gilt umso mehr, als bei einer Verlegung im Gegensatz zur Vertagung keine Kollision mit dem in § 106 Abs 2 [X.]G verankerten Gebot, den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen (s B[X.] vom 23.8.1960 - 9 RV 1042/57 - [X.] [X.] 13 zu § 106 [X.]G; B[X.] vom [X.] - B 2 U 15/00 R - [X.] 3-1500 § 128 [X.] 14 S 28; B[X.] vom 19.3.1991 - 2 RU 28/90 - [X.] 3-1500 § 62 [X.] 5 S 8), zu erwarten ist. Abgesehen von einer erneuten Ladung entsteht für das Gericht und die Beteiligten hierdurch kein zusätzlicher Kostenaufwand.

Im Hinblick auf die Gesamtumstände war die Verlegung der mündlichen Verhandlung vom [X.] daher rechtlich geboten, um dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin die Möglichkeit zu geben, sich in den umfangreichen Sach- und Streitstand des zwei Bände Gerichtsakten und zwei Bände Verwaltungsakten umfassenden Rechtsstreits einzuarbeiten, der zudem eine komplizierte Frage der Anerkennung einer Berufskrankheit betrifft. Dementsprechend bedarf es keiner weiteren Vertiefung, ob die Ablehnung des zu Beginn der mündlichen Verhandlung gestellten [X.] einen zusätzlichen Verfahrensmangel darstellt (B[X.] vom [X.] - B 11 [X.] 113/09 B - juris) sowie ob die Möglichkeit zur Einsichtnahme der Akten am Tag der mündlichen Verhandlung dem ebenfalls dem Anspruch auf rechtliches Gehör dienenden Akteneinsichtsrecht (§ 120 [X.]G) genügte.

Der Senat hat von der durch § 160a Abs 5 [X.]G eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückzuverweisen.

Das L[X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 2 U 144/14 B

04.11.2014

Bundessozialgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: U

vorgehend SG Lübeck, 27. April 2010, Az: S 20 U 120/08

§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 Halbs 1 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG, § 106 Abs 2 SGG, § 128 Abs 2 SGG, § 73 Abs 2 S 1 SGG, § 227 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 04.11.2014, Az. B 2 U 144/14 B (REWIS RS 2014, 1688)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 1688

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