Bundessozialgericht, Beschluss vom 08.03.2017, Az. B 8 SO 62/16 B

8. Senat | REWIS RS 2017, 14496

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren - Terminsaufhebungsantrag - erheblicher Grund - kurzfristige Beauftragung eines Rechtsanwalts


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 10. Februar 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Im Streit sind höhere Leistungen nach dem [X.] - ([X.]) für die [X.] von Juli 2011 bis November 2012.

2

Der Beklagte lehnte solche Ansprüche ab (Bescheide vom 15.8.2011 und 18.11.2011; Widerspruchsbescheide vom [X.]). Das Sozialgericht ([X.]) [X.] hat die Klagen abgewiesen (Gerichtsbescheide des [X.] vom [X.]). Das [X.] ([X.]) hat in beiden Verfahren für den [X.] Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt (Ladung vom 9.10.2015). Am [X.] hat sich für die Betreuerin der Klägerin ein Rechtsanwalt gemeldet, einen Antrag auf Prozesskostenhilfe (PKH) gestellt, Akteneinsicht und Vertagung beantragt. In der mündlichen Verhandlung ist für die Klägerin niemand erschienen. Das [X.] hat die zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen Berufungen zurückgewiesen (Urteil des [X.] vom [X.]). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das [X.] ua ausgeführt, der Senat sei nicht gehindert gewesen, am [X.] über die Sache zu entscheiden. Zwar könne die erstmalige Beauftragung eines Prozessbevollmächtigten einen erheblichen Grund für die Aufhebung eines Termins darstellen, ebenso die Stellung eines Antrags auf Gewährung von PKH. Dies gelte aber nicht, wenn ein Prozessbevollmächtigter ohne Grund so spät beauftragt werde, dass er keine Möglichkeit mehr habe, sich auf den Termin vorzubereiten. Dies sei hier der Fall, weil die Betreuerin der Klägerin, die während des gesamten Verfahrens auch nicht ansatzweise vorgetragen habe, weshalb die Leistungen zu niedrig seien, ausreichend [X.] gehabt habe, sich um die Vertretung durch einen Prozessbevollmächtigten zu kümmern. In der Sache seien keinerlei Ansatzpunkte für Rechtsfehler in den Entscheidungen des Beklagten bzw des [X.] erkennbar. Jedenfalls lägen die Voraussetzungen für einen Mehrbedarf wegen des Merkzeichens "G" selbst nach dem Vorbringen des inzwischen beauftragten Prozessbevollmächtigten nicht vor.

3

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin Verfahrensfehler geltend. Das [X.] habe gegen ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verstoßen, indem es dem Antrag auf Vertagung nicht nachgekommen sei. Ein Prozessbevollmächtigter, der im Sozialrecht kundig und bereit gewesen sei, sie - die Klägerin - zu vertreten, habe von ihrer Betreuerin erst kurzfristig vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung gefunden werden können. Es sei nicht auszuschließen, dass das Urteil bei ihrer Vertretung im Termin anders ausgefallen wäre. Auch hätte das [X.] erkennen können, dass sie, die Klägerin, krankheitsbedingt ggf prozessunfähig sei. Es sei für das [X.] hinreichend erkennbar gewesen, dass ihre Interessen auch durch die als Betreuerin bestellte Tochter, wenngleich aus gesundheitlichen Gründen in deren Person, nicht hinreichend wahrgenommen würden.

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Zudem macht sie eine Divergenz zu Entscheidungen des Bundessozialgerichts (B[X.]) bzw Bundesgerichtshofs geltend.

5

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig; sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers (Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, § 62 Sozialgerichtsgesetz <[X.]G>, Art 103 Grundgesetz ) den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]G. Nach ständiger Rechtsprechung des B[X.] (vgl nur B[X.] [X.] 4-1750 § 227 [X.] mwN; [X.] 3-1750 § 227 [X.] mwN; B[X.], Urteil vom 25.3.2003 - B 7 AL 76/02 R) erübrigen sich bei diesem Verfahrensmangel regelmäßig Ausführungen dazu, welches inhaltliche Vorbringen im Einzelnen infolge der Ablehnung des [X.] durch das [X.] verhindert worden ist, wenn ein Verfahrensbeteiligter gehindert war, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Gründe, die ausnahmsweise die Ursächlichkeit des gerügten [X.] der Verletzung des rechtlichen Gehörs für das angefochtene Urteil ausschließen könnten (dazu: B[X.] [X.] 3-1500 § 160 [X.]3 S 56; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 160a Rd[X.]6d mwN), sind nicht ersichtlich.

6

Der gerügte Verfahrensmangel liegt vor. Das [X.] ist dem Antrag des Bevollmächtigten der Klägerin auf Aufhebung des Termins am [X.] nicht nachgekommen, obwohl "erhebliche" Gründe iS des § 227 Abs 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) für die Aufhebung des Termins vorgelegen haben. Gemäß § 62 1. Halbsatz [X.]G, Art 103 Abs 1 GG ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren. Bei einer Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung und Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben oder nicht, Gelegenheit gegeben werden, sich zur Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung selbst zu äußern. Zu diesem Zweck können sich die Beteiligten in jeder Lage des Verfahrens durch prozessfähige Bevollmächtigte vertreten lassen (§ 73 Abs 2 [X.]G). Der von der Betreuerin der Klägerin am [X.] beauftragte Rechtsanwalt konnte sich aber aufgrund der Kurzfristigkeit seiner Beauftragung vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung nicht hinreichend mit dem Sachverhalt vertraut machen. Dies hat er gegenüber dem [X.] am [X.] im Einzelnen dargelegt und damit einen erheblichen Grund (§ 202 [X.]G iVm § 227 ZPO) für die Aufhebung des Termins geltend gemacht. Das [X.] war daher zur Terminsaufhebung verpflichtet (B[X.] [X.] 4-1750 § 227 [X.]).

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Etwas anderes folgt nicht aus dem Umstand, dass der Termin vom [X.] bereits im Oktober 2015 bestimmt worden war. Zwar ist unter Umständen eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dann nicht anzunehmen, wenn dem Beteiligten die rechtzeitige Bestellung eines Bevollmächtigten zugemutet werden konnte (B[X.], Beschluss vom 4.11.2014 - B 2 U 144/14 B - Rd[X.]1 mwN) oder die späte Bestellung verschuldet ist ([X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 110 Rd[X.] 5a). Zutreffend hat das [X.] insoweit darauf hingewiesen, dass die zunächst als Bevollmächtigte und später als Betreuerin der Klägerin handelnde Tochter der Klägerin keinerlei Ausführungen zur Sache gemacht, nicht auf gerichtliche Schreiben und trotz der frühzeitigen Terminierung erst zwei Tage vor dem Termin mit der Beauftragung eines Prozessbevollmächtigten reagiert hat.

8

Dies kann der Klägerin jedoch nicht entgegengehalten werden. Im Rahmen seiner den Beteiligten gegenüber bestehenden Fürsorgepflicht als Ausfluss des Anspruchs auf ein faires Verfahren (vgl dazu [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, vor § 60 Rd[X.]b; [X.], aaO, § 106 Rd[X.] 2 mwN) hat das Gericht darauf zu achten, ob sich die Maßnahmen eines rechtsunkundigen Bevollmächtigten im Rahmen der Pflichten halten, die diesem gegenüber der Beteiligten obliegen (so für das Verhalten des besonderen Vertreters für einen prozessunfähigen Beteiligten nach § 72 [X.]G B[X.] [X.] 4-1500 § 72 [X.] Rd[X.]0). Das [X.] hat zwar erkannt, dass die Betreuerin offenbar nicht in der Lage war, das Verfahren ordnungsgemäß zu betreiben; denn es hat diese schon im [X.] auf die Möglichkeit der Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten im Wege der PKH hingewiesen. Wird dann aber - wenn auch erst sehr kurz vor dem Termin - ein Anwalt beauftragt und meldet sich dieser bei Gericht, beantragt zugleich die Gewährung von PKH, die Verlegung des Termins und ua die Gewährung von Akteneinsicht zum weiteren Sachvortrag, hat das Gericht diesem Umstand durch die Aufhebung des Termins Rechnung zu tragen. Gerade weil die Bevollmächtigte der Klägerin bis dahin keinerlei Angaben zur Sache gemacht hatte, hätte dem Prozessbevollmächtigten Gelegenheit gegeben werden müssen, nach Akteneinsicht vorzutragen. Ein Fall der Präklusion (§ 106a [X.]G) lag nicht vor.

9

Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, das Urteil des [X.] gemäß § 160a Abs 5 [X.]G wegen des festgestellten [X.] aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen. Es kann daher offen bleiben, ob die von der Klägerin weiter gerügten Zulassungsgründe hinreichend dargelegt sind und auch tatsächlich vorliegen.

Das [X.] wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 8 SO 62/16 B

08.03.2017

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Lübeck, 22. Mai 2013, Az: S 46 SO 56/12, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 73 Abs 2 SGG, § 202 S 1 SGG, § 227 Abs 1 S 1 ZPO, Art 20 Abs 3 GG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 08.03.2017, Az. B 8 SO 62/16 B (REWIS RS 2017, 14496)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 14496

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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