BT-Drucksache 17/6492

Die Bedeutung von Whistleblowing für die Gesellschaft anerkennen - Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber schützen

Vom 5. Juli 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6492
17. Wahlperiode 05. 07. 2011

Antrag
der Abgeordneten Karin Binder, Andrej Hunko, Dr. Dietmar Bartsch, Agnes Alpers,
Herbert Behrens, Matthias W. Birkwald, Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn,
Dr. Martina Bunge, Roland Claus, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Nicole Gohlke,
Diana Golze, Ulla Jelpke, Katja Kipping, Jan Korte, Jutta Krellmann, Katrin Kunert,
Caren Lay, Sabine Leidig, Michael Leutert, Dr. Gesine Lötzsch, Thomas Lutze,
Cornelia Möhring, Kornelia Möller, Petra Pau, Jens Petermann, Yvonne Ploetz,
Ingrid Remmers, Kathrin Senger-Schäfer, Raju Sharma, Dr. Petra Sitte, Kersten
Steinke, Sabine Stüber, Alexander Süßmair, Dr. Kirsten Tackmann, Frank Tempel,
Kathrin Vogler, Johanna Voß, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg, Jörn
Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Die Bedeutung von Whistleblowing für die Gesellschaft anerkennen – Hinweis-
geberinnen und Hinweisgeber schützen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag erkennt die Bedeutung der Tätigkeit von Hinweisgebe-
rinnen und Hinweisgebern, so genannten Whistleblowern, an. Sie leisten der
Gesellschaft mit ihrem Engagement und ihrer Zivilcourage wichtige Dienste,
denn sie enthüllen u. a. Korruption, Steuerhinterziehung oder Verstöße gegen
Gesetze und internationale Abkommen. Sie weisen in ihrem Betrieb, ihrer Be-
hörde oder Organisation bzw. nach außen gegenüber zuständigen Behörden,
Dritten oder auch der Presse auf Risiken und nicht tolerierbare Gefahren hin.
Whistleblower handeln zu einem Zeitpunkt, zu dem noch Schaden von Einzel-
nen und der Gesellschaft abgewandt werden kann, oder möchten aus Gewissens-
gründen auf Missstände hinweisen, um diese zu unterbinden. Der Bundestag
weist daher Aussagen zurück, die Whistleblowing mit Denunziantentum gleich-
setzen.

In Deutschland deckten Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber millionenfache
Steuerhinterziehung auf. Ohne den Hinweis eines LKW-Fahrers wären verdor-
bene Schlachtabfälle zu Lebensmitteln verarbeitet und an Verbraucherinnen und
Verbraucher verkauft worden. Durch das Einschreiten einer Tierärztin wurden
die ersten BSE-Fälle öffentlich. Altenpflegerinnen und Altenpfleger wiesen auf

Notstände in einzelnen Pflegeheimen und die unzureichende Pflege und Betreu-
ung der ihnen anvertrauten Menschen hin. Eine Berliner Ärztin thematisierte
den Versorgungsnotstand in Krankenhäusern. Trotz ihrer unbestrittenen Ver-
dienste für die Gesellschaft mussten alle Personen in den genannten Fällen
Repressalien bis hin zum Arbeitsplatzverlust sowohl in der privaten Wirtschaft
als auch im Öffentlichen Dienst erleiden.

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Potenzielle Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber verzichten oftmals aus Angst
vor Arbeitsplatzverlust oder Schadensersatzandrohung auf die Offenlegung
ihres Wissens. Häufig sehen sie keine Chance, etwas zu verändern, oder leben
in einem Umfeld, wo Whistleblowing als etwas Verwerfliches betrachtet wird.
Strafverfolgungsbehörden und andere Stellen sind jedoch zur wirksamen Durch-
setzung der Rechtsordnung auf die Zivilcourage interner Informantinnen und
Informanten angewiesen. Außerdem besteht insbesondere in einer demokra-
tischen Öffentlichkeit ein Anspruch auf Offenlegung und kritische Überprüfung
solcher Informationen.

Die internen Kontrollsysteme von deutschen Unternehmen sind mangelhaft.
Zwei Drittel aller Wirtschaftsstraftaten in Deutschland werden nur durch Zufall
statt durch betriebliche Kontrollsysteme aufgedeckt. Interne Hinweissysteme
gibt es nur in einem Viertel der Unternehmen (Studien der Unternehmensbera-
tung PricewaterhouseCoopers AG – PwC – 2005 und 2007).

Das Aufkommen von Internetplattformen wie WikiLeaks ist letztlich vor allem
eine Reaktion auf das Versagen klassischer Ansprechpartner im Umgang mit
Whistleblowern. Wo Organisationen nicht verantwortlich mit internen Whistle-
blowern umgehen, staatliche Stellen nicht hinreichend ermitteln, das Recht kei-
nen hinreichenden Schutz bietet und auch investigativer Journalismus vor allem
aufgrund ökonomischer Zwänge ein Schattendasein führt, suchen verzweifelte
Whistleblower nach anderen Möglichkeiten, mit ihrer Botschaft gehört zu wer-
den. Jene Enthüllungsplattformen sind zugleich eine legitime und zeitgemäße
Erscheinungsform der vierten Gewalt. Sie müssen auch rechtlich vor Übergrif-
fen und Verfolgungen, gleich ob durch öffentliche oder private Stellen, ge-
schützt werden.

In Großbritannien und den USA wurden nach mehreren Katastrophen, bei denen
Menschen starben, Gesetze zum Schutz von Whistleblowern erlassen. Die Un-
tersuchungen der Fälle hatten ergeben, dass es bereits im Vorfeld der Katastro-
phen interne Warnungen gegeben hatte, die jedoch nicht beachtet oder nicht
wahrgenommen wurden.

Auch auf internationaler Ebene wird die Bedeutung von Whistleblowing betont.
Der Deutsche Bundestag begrüßt die Entschließung der Parlamentarischen
Versammlung des Europarates vom 29. April 2010 (Resolution 1729 (2010))
zum Schutz von Whistleblowern sowie die im November 2009 unter Leitung
von Transparency International entwickelten Grundsätze für einen effektiven
Schutz von Whistleblowern (vgl. www.transparency.org/, Recommended draft
principles for whistleblowing legislation), die von 78 Nichtregierungsorganisa-
tionen unterstützt werden. Auf ihrer Tagung im November 2010 in Seoul haben
sich außerdem die G20-Staaten im Rahmen des Aktionsplans zur Korruptions-
bekämpfung darauf verständigt, bis Ende 2012 Regelungen für einen gesetz-
lichen Whistleblowerschutz zu erlassen und umzusetzen.

In Deutschland gibt es keine allgemeinen Regelungen für einen wirksamen
Schutz von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern. Sie müssen mit Benachteili-
gungen wie Kündigung, Zwangspensionierung, Karriereeinbußen oder Mobbing
rechnen. Der deutsche Whistleblowerschutz beschränkt sich auf vereinzelte Vor-
schriften, die in ihrer Anwendung stark beschränkt sind. Deshalb würdigt der
Deutsche Bundestag auch eine an ihn gerichtete öffentliche Petition, in der über
5 400 Bürgerinnen und Bürger gesetzliche Regelungen zum bestmöglichen
Schutz von Whistleblowern fordern (Petition 4-17-11-800-017861).

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

bis Ende 2011 einen Gesetzentwurf zum Schutz und zur Förderung der Tätigkeit

von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern vorzulegen, der folgende Schwer-
punkte beinhaltet:

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6492

1. Ziel des Gesetzes ist es, eine positive kulturelle Einstellung und gesellschaft-
liche Anerkennung gegenüber Whistleblowern zu befördern und deren Tätig-
keit von der Diffamierung als Denunziantentum zu befreien.

2. Das Gesetz soll vor allem jene schützen, die durch eigene Hinweise oder Un-
terstützungshandlungen Vergeltungsmaßnahmen befürchten müssen. Davon
können Personen sowohl aus dem öffentlichen als auch dem privaten Sektor
einschließlich der Angehörigen der Streitkräfte und der besonderen Dienste
betroffen sein. Geschützt werden müssen auch Personen außerhalb klassi-
scher Arbeitsverhältnisse wie z. B. unabhängige Beraterinnen und Berater,
Auftragnehmerinnen und Auftragnehmer, Praktikantinnen und Praktikanten,
Freiwillige, vorübergehend Beschäftigte, Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter,
ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Arbeitssuchende und andere.

3. Whistleblowing wird im Gesetz als gutgläubige Weitergabe von Informatio-
nen, insbesondere über widerrechtliche Handlungen, Fehlverhalten oder all-
gemeine Gefahren, die eine Bedrohung für Gesundheit, Leben, Freiheit, Um-
welt oder andere berechtigte Interessen des Einzelnen oder der Gesellschaft
darstellen, definiert. Für die Gutgläubigkeit ausreichend ist zum Zeitpunkt
der Offenbarung die Überzeugung, dass die Informationen wahr sind.

4. Das Gesetz muss insbesondere einschlägige Probleme in folgenden Geset-
zesbereichen lösen:

● im Arbeits- und Beamtenrecht – insbesondere der Schutz gegen unge-
rechtfertigte Entlassungen und andere Formen von arbeitsplatzbezogenen
Vergeltungsmaßnahmen (z. B. Strafversetzungen, Mobbing, Verlust von
Positionen, Funktionen oder Bezügen). Dem Arbeitgeber muss die Be-
weislast obliegen, dass alle Maßnahmen, die zum Nachteil eines Hinweis-
gebers bzw. einer Hinweisgeberin ergriffen wurden, aus anderen Gründen
als dem Whistleblowing erfolgten. Für Fälle, in denen arbeitsrechtliche
Ansprüche zum Beispiel durch Insolvenz des Arbeitgebers (infolge bzw.
im Anschluss an die Informationsweitergabe) ausfallen, muss ein staat-
licher Entschädigungsanspruch eingerichtet werden;

● im Strafrecht – insbesondere der Schutz vor Strafverfolgung wegen übler
Nachrede oder der Verletzung von Amts- oder Geschäftsgeheimnissen.
Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber, die in geregelten Verfahren An-
zeigen erstatten oder als Zeuginnen bzw. Zeugen auftreten, müssen hin-
reichenden Schutz einschließlich des Rechts auf Nichtweitergabe ihrer
personenbezogenen Daten haben;

● im Medienrecht – insbesondere der Schutz von Medien und anderen
Publizierenden wie z. B. WikiLeaks, anderen Leak-Plattformen und Blog-
gern sowie der Schutz von journalistischen Quellen. Journalistinnen und
Journalisten, Medienschaffende sowie sonstige Personen, die Verschluss-
sachen erhalten und verbreiten, dürfen dafür nicht haftbar gemacht werden
können.

5. Das Gesetz muss die Einrichtung verlässlicher Berichtswege garantieren

● Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber müssen frei zwischen interner und
behördlicher Offenlegung ihres Wissens wählen können. Sie haben weiter
das Recht, sich an die Öffentlichkeit oder eine Ombudsstelle zu wenden,
insbesondere wenn die Warnungen intern oder gegenüber der Behörde er-
folglos geblieben sind oder es sich um eine Notfallsituation handelt. Ihnen
steht es jederzeit frei, eine Petition bei den zuständigen Stellen einzurei-
chen. Die Petentinnen und Petenten sind vor Benachteiligungen durch
Dritte effektiv zu schützen.

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● Unternehmen, Behörden und Organisationen werden verpflichtet, ein in-
ternes Hinweissystem einzurichten. Whistleblowern muss es möglich
sein, eine angemessene Untersuchung einer Beschwerde und gegebenen-
falls Abhilfemaßnahmen erreichen zu können.

● Es wird eine unabhängige Ombudsstelle für Whistleblower eingerichtet.
Diese Einrichtung wird damit beauftragt, Beschwerden über Benachtei-
ligungen und/oder unsachgemäße Untersuchungen von Hinweisen ent-
gegenzunehmen und hierzu Ermittlungen vorzunehmen. Sie muss über
angemessene Durchsetzungs- und Weiterverfolgungsmechanismen ver-
fügen.

● Die Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber haben das Recht auf regel-
mäßige Information über den Fortgang, den Zeitraum und das Ergebnis
ihrer Offenlegung.

6. Anonymes Whistleblowing ist zu ermöglichen. Die Identität von Hinweis-
geberinnen und Hinweisgebern ist zu schützen und vertraulich zu behan-
deln. Sie darf nicht ohne Zustimmung der Betroffenen offenbart werden.

7. Das Gesetz muss einen Anspruch auf Ersatz von Schäden durch erlittene
Repressalien oder Vergeltungsmaßnahmen infolge des Whistleblowings
gegenüber den Verursachern beinhalten. Dieser sollte sich auch auf immate-
rielle Schäden und zu erwartende Folgeschäden einschließlich Rechtsver-
folgungskosten wie z. B. Mediation und Anwaltsleistungen erstrecken.
Whistleblower, die vor Inkrafttreten des Gesetzes davon betroffen waren,
sind adäquat zu berücksichtigen. Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern
muss es außerdem möglich sein, als rechtswidrig vermutete Tätigkeiten zu
verweigern.

8. Das Gesetz muss Handlungen, die Hinweise durch Whistleblower stören
oder bestrafen, wirksam sanktionieren. Dieses Verhalten soll selbst als Fehl-
verhalten angesehen werden und straf-, zivil- und arbeitsrechtliche Konse-
quenzen nach sich ziehen. Eine zum Nachteil des Whistleblowers von den
gesetzlichen Vorschriften abweichende Vereinbarung ist für unwirksam zu
erklären.

9. Durch das Gesetz ist eine unabhängige öffentliche Einrichtung für Whistle-
blowing zu schaffen, die zum Whistleblowing berät, die Funktionsfähigkeit
der Whistleblowing-Maßnahmen beobachtet und regelmäßig überprüft. Da-
bei sind Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände und zivilgesellschaftliche
Organisationen einzubeziehen. Zu ihren Aufgaben gehört es außerdem, die
Umsetzung und Auswirkung des Gesetzes auf das Whistleblowing zu prü-
fen und in regelmäßigen Abständen zu bewerten. Sie sollte ein öffentliches
Bewusstsein fördern, damit die Rechte umfassend genutzt werden und sich
eine breitere kulturelle Akzeptanz solcher Handlungen etabliert.

10. Das Gesetz ermächtigt öffentliche und private Einrichtungen, Whistle-
blower-Fälle öffentlich zu machen und regelmäßig über dadurch bekannt
gewordene oder vermiedene Schäden, Verfahren und deren Ergebnisse
einschließlich Schadensausgleich und Rückforderungen zu berichten.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die gesetzlichen Neuregelungen mit einem Maßnahmenpaket zu flankieren, das
mindestens folgende Aspekte beinhaltet:

● Förderung und Unterstützung von mehr Zivilcourage in Ausbildung,
Privatleben und Beruf. Unsere Gesellschaft braucht eine neue Kultur des
Hinschauens und des Sicheinmischens;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/6492

● Aufklärung, um verständlich zu machen, welchen Stellenwert das per-
sönliche Engagement des und der Einzelnen in einer Demokratie besitzt,
und dass der kritische Blick und der verantwortungsvolle Beitrag zur
Verhinderung und Aufklärung von Straftaten und anderen Missständen
ausdrücklich gewünscht sind. Klare Abgrenzung von der Unterstellung
der Denunziation;

● Erarbeitung von Grundsätzen für interne Hinweissysteme, die sicher und
leicht zugänglich sind und eine gründliche, rechtzeitige und unabhän-
gige Untersuchung von Hinweisen sicherstellen;

● Verankerung interner Whistleblower-Systeme als „best practice“ für
Unternehmensführungen im Rahmen des Deutschen Corporate-Gover-
nance-Kodex und in den Führungsleitlinien (Codes of Conduct) mög-
lichst aller Wirtschaftsunternehmen;

● Unterstützung von Informationskampagnen, Forschungstätigkeiten und
die Sammlung sowie Veröffentlichung von Daten zum Nutzen von
Whistleblowing für die Allgemeinheit;

● Einleitung von Maßnahmen, die die Kontrolle und Transparenz in der
Lieferkette von Erzeugnissen und Produkten stärken;

● Finanzielle Unterstützung nichtstaatlicher Organisationen, die zur posi-
tiven Entwicklung der allgemeinen Einstellung gegenüber der Tätigkeit
von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern beitragen, und ein Bera-
tungsangebot für Unternehmen, Behörden und Organisationen, die ein
internes Verfahren für Whistleblowing etablieren wollen.

Berlin, den 6. Juli 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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