BT-Drucksache 17/5191

Für die Umsetzung der Gleichstellung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa

Vom 21. März 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5191
17. Wahlperiode 21. 03. 2011

Antrag
der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Renate Künast, Jürgen Trittin, Volker
Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, Tom Koenigs, Claudia Roth (Augsburg),
Josef Philip Winkler, Marieluise Beck (Bremen), Britta Haßelmann, Ulrike Höfken,
Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Kajta Keul, Memet Kilic, Ute Koczy, Monika Lazar,
Agnes Malczak, Jerzy Montag, Kerstin Müller (Köln), Dr. Konstantin von Notz,
Omid Nouripour, Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele,
Wolfgang Wieland und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für die Umsetzung der Gleichstellung von Sinti und Roma
in Deutschland und Europa

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Beim Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2011
hat mit Zoni Weisz erstmalig ein Vertreter der Sinti und Roma vor dem Deut-
schen Bundestag gesprochen. Es war eine beeindruckende und berührende
Rede. Zoni Weisz ging darin auf die heutige Situation der Sinti und Roma ein.
Er sagte: „Es ist menschenunwürdig, wie Sinti und Roma, insbesondere in vielen
osteuropäischen Ländern wie zum Beispiel Rumänien und Bulgarien, behandelt
werden. (…) In manchen Ländern Westeuropas wie Italien und Frankreich wird
man dann wieder diskriminiert, ausgegrenzt und lebt unter menschenunwür-
digen Umständen in Ghettos. Man wird wieder des Landes verwiesen und in das
Herkunftsland abgeschoben. (…) Wir sind doch Europäer und müssen dieselben
Rechte wie jeder andere Einwohner haben, mit gleichen Chancen, wie sie für
jeden Europäer gelten. Es kann und darf nicht sein, dass ein Volk, das durch
die Jahrhunderte hindurch diskriminiert und verfolgt worden ist, heute, im ein-
undzwanzigsten Jahrhundert, immer noch ausgeschlossen und jeder ehrlichen
Chance auf eine bessere Zukunft beraubt wird.“

Sowohl der Bericht der Europäischen Kommission „The Situation of Roma
in an Enlarged European Union“ als auch zahlreiche Berichte der Organisation
für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarates
sowie Analysen der Weltbank und von Nichtregierungsorganisationen haben
deutlich gemacht, dass in den europäischen Staaten die Situation der Sinti und
Roma menschenrechtlich höchst problematisch ist. Trotz des Rahmenüberein-

kommens des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1. Februar
1995, das in Deutschland am 1. Februar 1998 in Kraft getreten ist, hat sich in den
letzten Jahren die Situation in einigen Ländern weiter verschlechtert – Sinti und
Roma sind von sozialer Ausgrenzung, Armut und Diskriminierung besonders
bedroht. Das jüngste Beispiel hierfür sind die Massenausweisungen von Roma
aus Frankreich nach Rumänien und Bulgarien.

Drucksache 17/5191 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Handlungsbedarf besteht aber auch in Deutschland. Noch immer sind Sinti und
Roma in den verschiedensten Lebensbereichen von faktischer Ausgrenzung und
Stigmatisierung betroffen. Besonders die Kinder aus Roma-Familien verfügen
über schlechte Integrationschancen und auch der ungesicherte Aufenthaltsstatus
vieler in Deutschland lebender Roma trägt erheblich zu ihrer Marginalisierung
bei.

Die Bundesregierung hat im April 2010 ein Rücknahmeabkommen mit dem
Kosovo abgeschlossen, obwohl es im Kosovo nach wie vor keine ausreichenden
Aufnahme- und Integrationskapazitäten für Minderheiten, Kranke oder Rück-
kehrer gibt. Abgeschobene Flüchtlinge sind völlig auf sich selbst gestellt. Das
Abkommen sieht die Ausreise beziehungsweise Rückführung von etwa 12 000
kosovarischen Roma in den kommenden Jahren vor. Etwa die Hälfte der Roma-
Flüchtlinge sind Kinder. Fast zwei Drittel von ihnen sind in Deutschland gebo-
ren und aufgewachsen. Studien haben ergeben, dass drei von vier Kindern, deren
Familien bereits in den vergangenen Jahren in den Kosovo abgeschoben wur-
den, im Kosovo nicht mehr zur Schule gehen. Ein beträchtlicher Anteil hat keine
Geburtsurkunde und kann damit auch das Recht auf Bildung, medizinische Ver-
sorgung oder soziale Unterstützung nicht durchsetzen.

Ziel muss die vollständige Gleichstellung der Sinti und Roma in allen Bereichen
des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens sein. In den
europäischen Staaten muss insbesondere der Zugang zu Bildung, Gesundheits-
versorgung und der politischen Willensbildung deutlich verbessert werden. Das
2005 ausgerufene „Jahrzehnt der Integration der Roma“ bietet zahlreiche Mög-
lichkeiten, in partnerschaftlicher Zusammenarbeit die Lebensbedingungen der
Sinti und Roma konkret und dauerhaft zu verbessern. Auch die beiden euro-
päischen Gipfeltreffen zur Lage der Roma 2008 in Brüssel und 2010 in Córdoba
haben wichtige Impulse gegeben. Der Deutsche Bundestag begrüßt den Plan der
EU-Kommission, demnächst einen EU-Rahmen für nationale Strategien zur
Integration von Roma vorzulegen, an dem sich die Mitgliedstaaten bei der
Erstellung ihrer eigenen Integrationsstrategien orientieren können, sowie die
Absicht der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft, die Integration von Roma zu
einem Schwerpunkt ihrer Arbeit zu machen.

Deutschland hat aufgrund seiner Geschichte eine besondere historische und
moralische Verantwortung, aktiv zur Integration der Sinti und Roma beizutragen
und der Diskriminierung von Minderheiten entgegenzutreten.

II. Der Deutsche Bundestag nimmt den eindringlichen Appell von Zoni Weisz
zum Anlass, die Bundesregierung aufzufordern,

– sich in den europäischen Staaten für eine Umsetzung der Gleichstelllung der
Sinti und Roma einzusetzen,

– gemeinsam mit Ländern, Kommunen und der Zivilgesellschaft Intoleranz
und Alltagsdiskriminierung von Sinti und Roma auch in Deutschland mit
allen Mitteln und in enger Zusammenarbeit mit den Bundesländern auf allen
Entscheidungsebenen entgegenzutreten,

– darauf hinzuwirken, dass das Rahmenübereinkommen des Europarates zum
Schutz nationaler Minderheiten in allen Ländern, die diesem Übereinkom-
men beigetreten sind, konsequent umgesetzt wird,

– sich dafür einzusetzen, dass der neue EU-Rahmen für nationale Strategien
zur Integration von Roma rasch entwickelt wird und klare Ziele für National-
staaten und die EU vorsieht, Mechanismen zur Überwachung und Auswer-
tung der Umsetzung dieser Zielvorgaben beinhaltet und noch innerhalb der
ungarischen Ratspräsidentschaft verabschiedet wird,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5191

– im Nationalen Reformprogramm entsprechend der integrierten Leitlinie der
Strategie Europa 2020 zur „Bekämpfung gesellschaftlicher Ausgrenzung und
Armut“ Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der in Deutschland
lebenden Roma aufzuzeigen,

– sich auf EU-Ebene grundsätzlich gegen Abschiebungen von Sinti und Roma
einzusetzen,

– sich gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung der Abschiebungen
von Roma aus dem Kosovo einzusetzen, die Regierungen anderer EU-Mit-
gliedstaaten aufzufordern, ebenso zu verfahren, und Roma aus dem Kosovo
eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zu gewähren,

– niemanden ohne gültige Papiere in den Kosovo zurückzuführen und das
deutsch-kosovarische Rücknahmeabkommen für Roma aus dem Kosovo
auszusetzen.

Berlin, den 15. März 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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