Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.12.2017, Az. AK 63/17

3. Strafsenat | REWIS RS 2017, 1184

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Gegenstand

Überprüfung der Fortdauer von Untersuchungshaft: Gegenstand der Prüfung; Berücksichtigung nachträglich gewonnener Ermittlungsergebnisse zum Sichbereiterklären zur mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer außereuropäischen terroristischen Vereinigung und zur Mitgliedschaft in einer anderen Vereinigung als ursprünglich angenommen


Tenor

Der Haftbefehl des Ermittlungsrichters des [X.] vom 22. Dezember 2016 (2 [X.] 972/16) wird aufgehoben.

Der Angeschuldigte ist in dieser Sache aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Gründe

I.

1

Der Angeschuldigte ist am 24. Januar 2017 festgenommen worden und befindet sich seither auf Grund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des [X.] vom 22. Dezember 2016 (2 [X.] 972/16) ununterbrochen in Untersuchungshaft.

2

Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe im [X.]raum von Anfang April bis mindestens Ende 2013 in [X.], [X.] und [X.] durch zwei selbständige Handlungen sich bereit erklärt, ein Verbrechen (§§ 129a, 129b StGB) zu begehen, und sich als Mitglied an einer außereuropäischen terroristischen [X.] beteiligt, deren Zwecke und deren Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) oder Straftaten nach dem [X.] zu begehen, strafbar gemäß § 30 Abs. 2 Variante 1, § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2, § 53 StGB.

3

Der Angeschuldigte habe sich ab April 2013 über den [X.]n [X.], seinen Bruder, der Mitglied der terroristischen [X.] "[X.]" gewesen sei, gegenüber deren Verantwortlichen bereit erklärt, nach [X.] auszureisen, sich der [X.] anzuschließen und sich am terroristischen [X.] zu beteiligen. Er sei im Juli 2013 tatsächlich nach [X.] gelangt, sodann aber dort, nachdem der [X.] zur terroristischen [X.] "Islamischer Staat im [X.] und Großsyrien" ([X.]) gewechselt gewesen sei, dieser Organisation beigetreten und habe sich seitdem für sie durch das Ableisten von Wachdiensten und die Teilnahme an Kampfhandlungen gegen Truppen des [X.] bis mindestens Ende 2013 betätigt.

4

Der [X.] hat das gegen den Angeschuldigten sowie den [X.]n geführte Ermittlungsverfahren am 10. August 2017 wegen minderer Bedeutung gemäß § 142a Abs. 2 Nr. 2 GVG an die Generalstaatsanwaltschaft [X.] abgegeben.

5

Der Senat hat mit Beschluss vom selben Tag (AK 35 u. 36/17) die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Den Angeschuldigten hat er zumindest der Mitgliedschaft im [X.] für dringend verdächtig erachtet. Ob die Ermittlungsergebnisse auch den dringenden Tatverdacht hinsichtlich des [X.] zur mitgliedschaftlichen Beteiligung an der [X.] begründeten, hat er offen gelassen.

6

Während des [X.] hat die Generalstaatsanwaltschaft [X.] am 22. November 2017 Anklage gegen den Angeschuldigten und den [X.]n erhoben. Mit Anklageschrift vom 20. November 2017 legt sie dem Angeschuldigten zur Last, in der [X.] von Juli 2013 bis mindestens November 2014 in [X.] durch zwei selbständige Handlungen sich als Mitglied an einer [X.] im Ausland beteiligt zu haben, deren Zwecke und deren Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB), Völkermord (§ 6 [X.]), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 [X.]) "und" Kriegsverbrechen (§ 8, 9, 10, 11 und 12 [X.]) zu begehen, davon in einem Fall durch dieselbe Handlung über Kriegswaffen die tatsächliche Gewalt ausgeübt zu haben, ohne dass der Erwerb der tatsächlichen Gewalt auf einer Genehmigung nach dem [X.] beruhe oder eine Anzeige nach § 12 Abs. 6 Nr. 1 oder § 26a [X.] erstattet worden sei.

7

Der Angeschuldigte sei in der [X.] zwischen dem 28. Juni und dem 7. Juli 2013 nach [X.] ausgereist und habe sich dort nach seiner Ankunft - auf Vermittlung des [X.]n - der terroristischen [X.] "[X.]" angeschlossen sowie für diese nach dem Durchlaufen einer Ausbildung zum Kämpfer regelmäßig Wachdienste wahrgenommen und sich jedenfalls in der [X.] vor dem 29. September, im Oktober und im November 2013 an Kampfhandlungen auf Seiten der [X.] beteiligt. Spätestens im Rahmen des ersten [X.] habe er ein zur Standardausrüstung der [X.] gehörendes vollautomatisches Sturmgewehr besessen, das er auch bei den weiteren Wachdiensten und Kampfeinsätzen mit sich geführt habe. Er habe die [X.] erst nach dem 27. Juli 2014 verlassen.

II.

8

Die Prüfung, ob die Untersuchungshaft des Angeschuldigten über neun Monate hinaus fortdauern darf (§§ 121, 122 [X.]), führt zur Aufhebung des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des [X.] vom 22. Dezember 2016 (2 [X.] 972/16), weil die Generalstaatsanwaltschaft [X.] den haftbefehlsgegenständlichen Vorwurf nicht mehr weiterverfolgt und die angeklagten Taten für die Entscheidung über die [X.] unberücksichtigt bleiben müssen.

9

1. Nach § 122 Abs. 1 [X.] ist Gegenstand der Haftprüfung allein der vorgelegte vollzogene Haftbefehl und damit grundsätzlich auch ausschließlich der darin gegenüber dem Beschuldigten erhobene Vorwurf. Diese Beschränkung bezieht sich auf den geschilderten Lebenssachverhalt, aus dem sich die dem Beschuldigten angelastete prozessuale Tat ergibt (vgl. [X.], Beschlüsse vom 28. Juli 2016 - AK 41/16, juris Rn. 8 f.; vom 20. Oktober 2016 - AK 53/16, juris Rn. 8; vom 11. Januar 2017 - AK 67/16, juris Rn. 22). Das [X.] ist zu einer abweichenden rechtlichen Würdigung des Sachverhalts befugt. Es darf aber nicht anhand der Ermittlungsergebnisse die im Haftbefehl umschriebene prozessuale Tat austauschen oder den Haftbefehl über diese hinaus in tatsächlicher Hinsicht erweitern (vgl. [X.], Beschluss vom 28. Juli 2016 - AK 41/16, aaO Rn. 9; [X.], Beschluss vom 1. Juni 2005 - 22 [X.], [X.], 513 f.; [X.], Beschluss vom 12. November 2007 - (1) 4420 [X.] III - 29/17, juris Rn. 18).

Ausweislich der Anklageschrift vom 20. November 2017 bezieht sich der Verfolgungswille der Generalstaatsanwaltschaft nicht mehr auf die beiden prozessualen Taten, die Gegenstand des vorgelegten Haftbefehls sind. Da sich dieser auf eine Tatsachengrundlage stützt, die die Generalstaatsanwaltschaft als von den Ermittlungsergebnissen nicht mehr gedeckt ansieht, kann er seiner Funktion nicht weiter gerecht werden, in tatsächlicher Hinsicht verlässlich Auskunft über den Grund der Untersuchungshaft zu geben (s. § 114 Abs. 2 Nr. 2 [X.]). Für den [X.] fehlt es indes an einer Haftentscheidung (vgl. [X.], Beschluss vom 12. November 2007 - (1) 4420 [X.] III - 29/17, aaO, Rn. 19; [X.] [X.]/[X.], § 122 Rn. 6; [X.], [X.], 7. Aufl., § 121 Rn. 24a).

2. Die beiden dem Angeschuldigten im Haftbefehl angelasteten Taten sind nicht von der Anklage umfasst, weder die Mitgliedschaft im [X.] (nachfolgend a) noch das Sichbereiterklären zur Mitgliedschaft in der [X.] (unten b).

a) Die mitgliedschaftliche Beteiligung am [X.] und diejenige an der [X.] sind nicht nur materiellrechtlich, sondern auch prozessual verschiedene Taten. Für eine Strafbarkeit gemäß § 129a Abs. 1 StGB ist die konkrete terroristische [X.] ein das [X.] entscheidend prägendes Merkmal. Stellt sich nach [X.] heraus, dass sich der Beschuldigte mitgliedschaftlich für eine andere Organisation als die zunächst angenommene betätigte, so wird die [X.] der ihm zur Last liegenden Tat in aller Regel nicht gewahrt sein. Denn andere, gleichgebliebene Umstände werden das Geschehen kaum hinreichend individualisieren können, um Zweifel an der Tatidentität und eine Verwechslungsgefahr mit anderen ähnlichen Taten auszuschließen (zu diesem Kriterium s. LR/Stuckenberg, [X.], 26. Aufl., § 264 Rn. 96 mN). So liegt es auch hier.

Zwar hat es der Senat in einem Fall, in dem dem Angeschuldigten zunächst im Haftbefehl konkret umschriebene Beteiligungshandlungen am [X.] vorgeworfen wurden, der [X.] die Anklage dann aber darauf stützte, der Angeschuldigte habe diese für die terroristische [X.] "Junud ash-Sham" vorgenommen, "aufgrund der Besonderheiten des ... Falls ... ausnahmsweise" unbeanstandet gelassen, dass der Haftbefehl nicht angepasst wurde. Er hat dies unter anderem auch damit begründet, dass die in Frage stehenden [X.]en im Tatzeitraum in demselben geografischen Raum operierten, gleichartige Zwecke und Ziele verfolgten und in diesem Raum eine Gemengelage diverser Organisationen bestand, die einerseits durch personelle Annäherungen bis zu Zusammenschlüssen oder völligen Verschmelzungen, andererseits durch Abspaltungen und neue Koalitionen gekennzeichnet war (vgl. Beschluss vom 16. Oktober 2014 - AK 31/14, juris Rn. 17 f.).

Jedoch lässt sich diese einzelfallbezogene Entscheidung, auch wenn sie dieselbe Bürgerkriegsregion und einen annähernd gleichen Tatzeitraum betrifft, auf den hiesigen Fall nicht übertragen. Denn es handelte sich im dortigen Fall um wesentlich stärker individualisierte Beteiligungshandlungen (Zur-Verfügung-Stellen einzelner Geldbeträge, Transfer von bestimmten Ausrüstungsgegenständen), während sie vorliegend nur vergleichsweise allgemein beschrieben werden können (paramilitärisches Training, Wachdienste, Kampfeinsätze). Hinzu kommt, dass nach den Ermittlungsergebnissen gerade das Verhältnis der [X.] zum [X.] in dem hier relevanten [X.]raum geprägt ist von wechselseitiger Abgrenzung und Konfrontation bis hin zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen beiden [X.]en (vgl. - betreffend die [X.] in dieser Sache - Senatsbeschluss vom 10. August 2017 - AK 35 u. 36/17, juris Rn. 11; s. etwa auch [X.], Beschluss vom 30. März 2017 - AK 18/17, juris Rn. 13).

b) Das Sichbereiterklären zur Mitgliedschaft in der [X.] und die Mitgliedschaft selbst sind ebenfalls als zwei Taten im verfahrensrechtlichen Sinne zu beurteilen.

aa) Das vom Angeschuldigten ernsthaft bekundete Ansinnen, nach [X.] auszureisen und sich dort der [X.] als Kämpfer anzuschließen, ist von einer solchen mitgliedschaftlichen Beteiligung nach [X.], [X.] und Tatzeit bei natürlicher Betrachtung derart abgrenzbar, dass beide Vorgänge sich nicht als einheitliches geschichtliches Geschehen darstellen (zum prozessualen Tatbegriff s. [X.]/[X.], [X.], 60. Aufl., § 264 Rn. 2; [X.], [X.], 7. Aufl., § 264 Rn. 3, [X.]. [X.]). Während der Angeschuldigte die tatbestandsrelevante Bekundung seiner Bereitschaft am 4. Mai 2013 von [X.] aus - vermittelt vom [X.]n - vorgenommen haben soll, datiert nach der Anklageschrift der in [X.] unter Beteiligung von Verantwortlichen der [X.] vollzogene [X.] (fast) zwei Monate später auf einen [X.]raum zwischen dem 28. Juni und dem 7. Juli 2013.

bb) Auch unter normativen Gesichtspunkten ist nicht die Annahme einer einheitlichen Tat im verfahrensrechtlichen Sinne geboten:

Es bedingt keine prozessuale Tatidentität, dass die versuchte Beteiligung nach § 30 Abs. 2 StGB gegenüber dem Versuch oder der Vollendung des geplanten Verbrechens - als im Wege der [X.] zurücktretende mitbestrafte Vortat - materiellrechtlich unselbständig ist (so [X.], Urteil vom 5. Februar 1986 - 2 StR 578/85, NJW 1986, 1820, 1821; Beschluss vom 17. November 1999 - 1 StR 290/99, [X.]R [X.] § 264 Abs. 1 Tatidentität 31; LR/Stuckenberg, [X.], 26. Aufl., § 264 Rn. 114 [X.]).

Auch entspricht das Verhältnis von Tatvorbereitung und -ausführung nicht demjenigen von Versuch und Vollendung. Deren sachliche Nähe ergibt sich aus der Vorschrift des § 22 StGB, die ein unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung des Straftatbestandes voraussetzt; bei § 30 StGB fehlt demgegenüber ein derartiges Unmittelbarkeitserfordernis.

cc) Entscheidungen des [X.], denen zufolge von prozessualer Tatidentität auszugehen wäre, liegen nicht vor; zu der hier zu beurteilenden Fallkonstellation hat er sich bislang nicht verhalten.

Zum Beteiligungsversuch nach § 30 Abs. 1 StGB hat er freilich darauf erkannt, dass, wenn die eigenhändige Begehung eines [X.] den Gegenstand der von der Anklage umgrenzten Untersuchung bildet (§ 264 Abs. 1 [X.]), die vorausgegangene versuchte Bestimmung eines anderen hierzu nicht der Kognitionspflicht des Tatgerichts unterliegt (vgl. Beschluss vom 17. November 1999 - 1 StR 290/99, aaO). In gleicher Weise hat er den fehlgeschlagenen Versuch der Anstiftung zu einem Tötungsverbrechen einerseits sowie die nachfolgende, auf einem neuen Tatentschluss beruhende Anstiftung zum Versuch des [X.] an demselben Opfer andererseits behandelt (vgl. Urteil vom 5. Mai 1998 - 1 [X.], [X.]St 44, 91). Soweit der 4. Strafsenat in einer späteren Entscheidung darauf erkannt hat, eine Anstiftung und eine davor versuchte Kettenanstiftung eines anderen [X.] seien prozessual dieselbe Tat, hat er auf die besonderen tatsächlichen Umstände des dortigen Einzelfalls abgestellt (vgl. Urteil vom 30. April 2009 - 4 StR 60/09, [X.]R [X.] § 264 Abs. 1 Tatidentität 48).

3. Nach alledem sind die angeklagten Taten nicht Gegenstand des Haftbefehls. Der im Haftbefehl geschilderte Lebenssachverhalt unterliegt - nach Anklageerhebung - nicht mehr dem Verfolgungswillen der Staatsanwaltschaft, die insoweit - jedenfalls konkludent - einen hinreichenden Tatverdacht im Sinne von § 170 Abs. 1, § 203 [X.] verneint hat. Der Haftbefehl war daher aufzuheben.

[X.]

Meta

AK 63/17

06.12.2017

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

§ 122 Abs 1 StPO, § 264 StPO, § 30 Abs 2 Alt 1 StGB, § 129a Abs 1 Nr 1 StGB, § 129b Abs 1 S 1 StGB, § 129b Abs 1 S 2 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.12.2017, Az. AK 63/17 (REWIS RS 2017, 1184)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 1184

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Haftprüfung: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland; Abgrenzung zwischen mitgliedschaftlichen und nichtmitgliedschaftlichen Tathandlungen; Konkurrenzen


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