Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 10.01.2023, Az. 1 BvR 1346/22, 1 BvR 1349/22

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2023, 583

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Erfolglose Verfassungsbeschwerde bzgl der Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens (Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II ) - Erkrankung eines Richters kann überlange Verfahrensdauer nicht rechtfertigen - hier: unzureichende Darlegungen der Beschwerdeführerin zur subjektiven Bedeutung der Sache und den konkreten Auswirkungen der außerordentlich langen Verfahrensdauer (fünf Jahre)


Tenor

Die [X.] werden nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

1

Die [X.] betreffen die Dauer zweier sozialgerichtlicher Berufungsverfahren.

2

1. Die Beschwerdeführerin begehrt die Gewährung höherer Leistungen nach dem [X.] ([X.]) für vergangene Leistungszeiträume (Juni bis November 2014 und Dezember 2015 bis Mai 2016) unter Berücksichtigung einer Instandhaltungszulage als Miteigentümerin einer Haushälfte. Ihre im Jahr 2015 und 2016 erhobenen Klagen wurden mit Urteilen vom 18. Mai 2017 erstinstanzlich abgewiesen. Am 7. Juni 2017 legte die Beschwerdeführerin Berufung gegen die zwei sozialgerichtlichen Urteile ein.

3

Auf Anforderungen des [X.] wurden Berufungserwiderungen, weitere Verwaltungsakten und Vollmachten des Vertreters der Beschwerdeführerin bis zum 16. Oktober 2017 übersandt. Die Beschwerdeführerin rügte am 31. Januar 2020 und 17. Mai 2020 die Verzögerung der Verfahren. Am 16. Februar 2020 beantragte sie die Gewährung von Prozesskostenhilfe und trug erneut zu ihren Berufungen vor.

4

Aufgrund zweier von der Beschwerdeführerin erhobener [X.] nach § 198 Abs. 1, 3 [X.] forderte ein anderer Senat des [X.] am 23. März 2020 die Akten der Verfahren an. Mit Beschluss vom 16. November 2020 setze das [X.] die [X.] bis zum rechtskräftigen Abschluss der verzögerten Verfahren aus.

5

Mit Schreiben vom 13. Juli 2021 teilte das [X.] mit, dass über die [X.] im September 2021 und über die [X.] im vierten Quartal 2021 entschieden werden solle. Der Berichterstatter sei krankheitsbedingt ausgefallen und wegen der zwischenzeitlich aufgelaufenen Rückstände seien Entscheidungen noch nicht möglich gewesen. In der Folgezeit wurden die Verfahren nicht weiter betrieben.

6

2. Mit ihren am 13. Juli 2022 erhobenen [X.] rügt die Beschwerdeführerin unter anderem eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG. Wirksam sei nur ein zeitgerechter Rechtsschutz. Ein Streit über Leistungen nach dem [X.] betreffe das menschenwürdige Existenzminimum und sei deshalb nicht unbedeutend. Dies gebiete eine Verfahrensbeschleunigung. Die Sachverhalte seien nicht schwierig und es seien keine zeitaufwendigen Sachverständigengutachten einzuholen. Folglich bestehe bereits im Ansatz kein Grund für eine Verfahrensdauer von mehr als fünf Jahren ohne verfahrensfördernde Tätigkeit.

7

3. Die Beschwerdeführerin beantragt, dass das [X.] eine Verfahrensbeschleunigung durch Zwangsgeldandrohung oder Zusprechen einer Entschädigung herbeiführe.

8

4. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem [X.] vorgelegen. Das [X.], [X.] und Gleichstellung hat von einer Stellungnahme abgesehen.

9

1. Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 [X.] liegen nicht vor. Die [X.] sind unzulässig, da sie nicht in einer den Anforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] genügenden Weise begründet wurden.

a) Nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] ist der Sachverhalt, aus dem sich die Grundrechtsverletzung ergeben soll, substantiiert und schlüssig darzulegen. Ferner muss sich die Verfassungsbeschwerde mit dem zugrundeliegenden einfachen Recht, soweit dies für die verfassungsrechtliche Beurteilung von Belang ist, sowie und insbesondere mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des vorgetragenen Sachverhalts auseinandersetzen. Aus dem Vortrag der Beschwerdeführenden muss sich mit hinreichender Deutlichkeit die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ergeben (vgl. [X.] 78, 320 <329>).

b) Ausgehend davon hat die Beschwerdeführerin eine Verletzung in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG wegen einer überlangen Verfahrensdauer nicht hinreichend substantiiert dargelegt.

aa) Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Wirksam ist nur ein zeitgerechter Rechtsschutz. Art. 19 Abs. 4 GG fordert daher auch, dass Rechtsschutz innerhalb angemessener [X.] gewährt wird (vgl. [X.] 55, 349 <369>; 93, 1 <13>). Welche Verfahrensdauer noch angemessen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. [X.] 55, 349 <369>; s. auch 93, 1 <13>). Entscheidend sind vor allem die Bedeutung der Sache, die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, die Schwierigkeit des Falles und das Verhalten der Beteiligten, insbesondere etwaige den Beteiligten selbst zuzurechnende Verzögerungen, sowie eine gerichtlich nicht zu beeinflussende Verzögerung durch die Tätigkeit von Sachverständigen oder sonstigen [X.] (vgl. [X.] 46, 17 <29>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 14. Oktober 2003 - 1 BvR 901/03 -; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 26. April 1999 - 1 BvR 467/99 -; vgl. auch [X.], Urteil vom 8. Januar 2004, Nr. 47169/99 - [X.]/[X.]). Dem Gericht steht für die Bearbeitung anhängiger Verfahren grundsätzlich ein Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen es aufgrund eigener Gewichtung dieser Faktoren Prioritäten in Abweichung von der Reihenfolge des Eingangs setzen kann (vgl. [X.] 55, 349 <369>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 29. März 2005 - 2 BvR 1610/03 -, Rn. 12; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2003 - 2 BvR 940/01 -, Rn. 4). Allerdings haben die Gerichte im Rahmen ihrer Verfahrensführung auch die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen. Mit zunehmender Dauer des Verfahrens insgesamt oder in der jeweiligen Instanz verdichtet sich die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 20. Juli 2000 - 1 BvR 352/00 -, Rn. 11).

bb) Danach hat die Beschwerdeführerin zwar dargelegt, dass die Dauer der Verfahren vor dem [X.] sehr lang ist. Die Beschwerdeführerin klagt seit 2015 beziehungsweise 2016 auf existenzsichernde Leistungen nach dem [X.], konkret auf höhere Unterkunftskosten unter Berücksichtigung einer Instandhaltungsrücklage im [X.]raum Juni bis November 2014 und Dezember 2015 bis Mai 2016. Die Verfahren dauern damit jetzt schon außerordentlich lange [X.]. Verfahren, in denen es um Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts geht, sind für die Betroffenen von besonderer Bedeutung und durch die Gerichte besonders zu fördern (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 14. Oktober 2003 - 1 BvR 901/03 -, Rn. 11). Sachverständigengutachten oder eine sonstige Tätigkeit Dritter sind für die Beantwortung der Rechtsfrage, ob die Instandhaltungsrücklagen der Beschwerdeführerin als Kosten der Unterkunft im Sinne des § 22 [X.] anerkannt werden können, nicht erforderlich. Dass das Verfahren besondere Schwierigkeiten aufgeworfen hätte, geht aus den Akten nicht hervor.

Aus den beigezogenen Verfahrensakten ist ersichtlich, dass das [X.] die Verfahren seit Oktober 2017 in der Sache inhaltlich nicht gefördert hat. Es finden sich - mit Ausnahme der Weiterleitung eines Schriftsatzes - lediglich Wiedervorlageverfügungen. Die Beschwerdeführerin hat das Verfahren nicht verzögert, sondern auf die Aufforderungen des [X.] stets zügig reagiert. Zwar lagen dem [X.] die Akten zwischenzeitlich nicht vor, weil diese anforderungsgemäß an einen anderen Senat wegen der erhobenen [X.] übersandt worden waren. Angesichts der zum damaligen [X.]punkt bereits erheblichen Dauer der Verfahren hätten jedoch nötigenfalls Kopien der Akten angelegt werden können.

Gründe, die es rechtfertigen könnten, dass in den Berufungsverfahren seit über fünf Jahren nicht entschieden wurde, sind nicht ersichtlich. Auf Umstände, die innerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs liegen, wie etwa eine allgemein angespannte Personalsituation, kann sich der Staat zur Rechtfertigung der überlangen Dauer eines Verfahrens nicht berufen. Der Staat muss alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener [X.] beendet werden können (vgl. [X.] 36, 264 <274 f.>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 2. Juli 2003 - 2 BvR 273/03 -, Rn. 13; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 14. Oktober 2003 - 1 BvR 901/03 -, Rn. 10; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 29. März 2005 - 2 BvR 1610/03 -, Rn. 13; [X.], in: [X.]/[X.], Grundgesetz, 17. Auflage 2022, Art. 19 Rn. 79). Dies gilt auch für die Auswirkungen auf das gerichtliche Verfahren im Falle der Erkrankung des zuständigen Richters. Es obliegt dem Gericht und damit dem Staat, die erforderliche Vertretung des erkrankten Richters sicherzustellen oder andere geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Verzögerungen durch den krankheitsbedingten Ausfall auf ein Maß zu reduzieren, das dem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener [X.] Rechnung trägt. Erkrankungen von Richtern gehören ebenso wie die sonstigen üblichen Ausfallzeiten etwa durch den gesetzlichen Jahresurlaub oder durch Fortbildung zum Alltag der Gerichte. Solche Ausfallzeiten haben die Justizbehörden und Gerichte zu verantworten, denn diese Umstände sind grundlegender Bestandteil der ihnen obliegenden Personal- und Ressourcenplanung (vgl. BSG, Urteil vom 24. März 2022 - [X.] ÜG 2/20 R, Rn. 43). Der Staat muss dabei gegebenenfalls auch auf längere Arbeitsunfähigkeitszeiten beim richterlichen Personal durch geeignete Maßnahmen reagieren (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 13. August 2012 - 1 BvR 1098/11 -, Rn. 19). Er kann sich nicht darauf berufen, dass er seine Gerichte nicht so ausstattet, wie es erforderlich ist, um die anstehenden Verfahren ohne vermeidbare Verzögerung abzuschließen. Es ist seine Aufgabe, im Rahmen des Zumutbaren alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet und nötig sind, einer Überlastung der Gerichte vorzubeugen und ihr dort, wo sie eintritt, rechtzeitig abzuhelfen. Der Staat hat die dafür erforderlichen - personellen wie sächlichen - Mittel aufzubringen, bereitzustellen und einzusetzen. Diese Aufgabe folgt aus der staatlichen Pflicht zur Justizgewährung, die Bestandteil des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips ist (vgl. [X.] 36, 264 <274 f.>).

cc) Die Beschwerdeführerin hat jedoch zu der Bedeutung der Sache und zu den konkreten Auswirkungen, die die lange Verfahrensdauer hier für sie hat, nichts Genaueres ausgeführt. Dies wäre aber Voraussetzung für die abschließende Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer. Das gilt erst recht angesichts der vom Sozialgericht erstinstanzlich getroffenen Feststellungen und Wertungen, dass die Beschwerdeführerin die Voraussetzungen für einen weitergehenden Bezug von Grundsicherungsleistungen durch eine vom Sozialgericht als sittenwidrig gemeldete Vereinbarung mit ihrem [X.] habe schaffen wollen. Die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ist daher nicht hinreichend dargelegt.

2. Hinsichtlich der weiteren von der Beschwerdeführerin gerügten Rechte wird von einer Begründung nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

3. Für den Erlass einer von der Beschwerdeführerin beantragten Entscheidung nach § 35 [X.] des [X.]s, dass entweder eine Zwangsgeldandrohung oder eine Entschädigung auszusprechen sei, gibt es keine Veranlassung.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1346/22, 1 BvR 1349/22

10.01.2023

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Sächsisches Landessozialgericht, kein Datum verfügbar, Az: L 3 AS 572/17

Art 19 Abs 4 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 198 Abs 1 GVG, § 198 Abs 3 GVG, §§ 19ff SGB 2, § 20 SGB 2, § 202 S 2 SGG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 10.01.2023, Az. 1 BvR 1346/22, 1 BvR 1349/22 (REWIS RS 2023, 583)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 583

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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1 BvR 1098/11

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