Bundesfinanzhof, Beschluss vom 30.06.2023, Az. V B 13/22

5. Senat | REWIS RS 2023, 4185

JUSTIZ DIGITALISIERUNG VERFAHRENSGRUNDSÄTZE VERHANDLUNG IM WEGE DER BILD- UND TONÜBERTRAGUNG VIDEOVERHANDLUNG

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

"Videokonferenz" und gesetzlicher Richter


Leitsatz

1. Bei einer sogenannten "Videokonferenz" muss für die Beteiligten während der zeitgleichen Bild- und Tonübertragung nach § 91a Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung --ähnlich wie bei einer körperlichen Anwesenheit im Verhandlungssaal-- feststellbar sein, ob die beteiligten Richter in der Lage sind, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen. Dies erfordert, dass alle zur Entscheidung berufenen Richter während der "Videokonferenz" für die lediglich "zugeschalteten" Beteiligten sichtbar sind. Daran fehlt es jedenfalls dann, wenn für den überwiegenden Zeitraum der mündlichen Verhandlung nur der Vorsitzende Richter des Senats im Bild zu sehen ist.

2. Auf die Beachtung der Vorschriften über die Besetzung des Gerichts kann nicht wirksam verzichtet werden. Dies ist der Disposition der Beteiligten entzogen.

Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 06.01.2022 - 13 K 1195/18 K,[X.] aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

1

In der Hauptsache ist zwischen den Beteiligten streitig, ob Einkünfte, die der als gemeinnützig anerkannte Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) aus der entgeltlichen Überlassung von Räumlichkeiten an andere gemeinnützige Vereine erzielt, der Vermögensverwaltung, einem Zweckbetrieb oder einem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb zuzuordnen sind. Im hierüber geführten Klageverfahren gestattete das Finanzgericht ([X.]) den Beteiligten mit Beschluss vom 03.01.2022 gemäß § 91a Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O), sich während der mündlichen Verhandlung in eigenen Räumlichkeiten aufzuhalten und dort im Rahmen der sogenannten "Videokonferenz" Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung waren die Beteiligten zur mündlichen Verhandlung per sogenannter "Videokonferenz" zugeschaltet. Das [X.] gab der Klage teilweise statt und wies sie im Übrigen ab.

2

In seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision trägt der Kläger unter anderem vor, das [X.] habe bei der sogenannten "Videokonferenz" nur eine Kamera eingesetzt. Für die nicht im Gerichtssaal anwesenden Beteiligten sei --je nach manueller Steuerung durch den "regieführenden" [X.]-- entweder die Gesamtbesetzung des Senats oder nur ein Teil seiner Besetzung oder aber nur derjenige [X.], der aktuell das Wort geführt habe, zu sehen gewesen. Nach dem Vortrag des Sachverhalts durch die Berichterstatterin sei allein der Vorsitzende [X.] des Senats für etwa zwei Drittel der Dauer der mündlichen Verhandlung im Bild gewesen, das heißt während der insgesamt 90-minütigen Verhandlung für etwa 60 Minuten. Die [X.]bank mit den übrigen [X.]n und der aktuell sprechende [X.] seien nie gleichzeitig zu sehen gewesen. Da das Verhalten der übrigen [X.] wegen der fehlenden Beobachtungsmöglichkeit keiner finalen rechtlichen Analyse unterzogen werden könne, sei das Recht auf den gesetzlichen [X.] (§ 119 Nr. 1 [X.]O i.V.m. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes --GG--) verletzt.

3

Wegen der Rüge, dass die [X.]bank für die nicht im Gerichtssaal anwesenden Beteiligten nicht durchgängig zu sehen gewesen sei, hat der Senat dienstliche Äußerungen des Vorsitzenden [X.]s und des kameraführenden [X.]s des [X.] eingeholt. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, sich hierzu zu äußern.

Entscheidungsgründe

II.

4

Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Ur-teils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 [X.]O). Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O. Der Anspruch des [X.] auf die vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts (§ 119 Nr. 1 [X.]O i.V.m. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) ist verletzt. Bei einer sogenannten "Videokonferenz" muss für die Beteiligten während der zeitgleichen Bild- und Tonübertragung nach § 91a Abs. 1 [X.]O --wie bei einer körperlichen Anwesenheit im [X.] feststellbar sein, ob die beteiligten [X.] in der Lage sind, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen. Dies erfordert, dass alle zur Entscheidung berufenen [X.] während der "Videokonferenz" für die lediglich "zugeschalteten" Beteiligten sichtbar sind. Daran fehlt es jedenfalls dann, wenn für den überwiegenden Zeitraum der mündlichen Verhandlung nur der Vorsitzende [X.] des [X.]s im Bild zu sehen ist.

5

1. Ein Urteil ist gemäß § 119 Nr. 1 [X.]O stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war.

6

a) Der absolute Revisionsgrund des § 119 Nr. 1 [X.]O (vgl. auch § 547 Nr. 1 der Zivilprozessordnung --ZPO-- und § 138 Nr. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung) dient insbesondere dazu, das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Sachlichkeit der Gerichte zu sichern ([X.]sbeschluss vom 14.03.2019 - V B 34/17, [X.], 317, [X.] 2019, 489, Rz 13, m.w.N.).

7

Vorschriftsmäßig besetzt ist das erkennende Gericht, wenn jeder an der Verhandlung und Entscheidung beteiligte [X.] die zur Ausübung des [X.]amts erforderliche Fähigkeit besitzt, die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung wahrzunehmen und in sich aufzunehmen. Die beteiligten [X.] müssen körperlich und geistig in der Lage sein, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen. Nur wenn jeder [X.] die wesentlichen Vorgänge aufnimmt, ist er in der Lage, seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis der Verhandlung zu gewinnen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 [X.]O), selbständig zu urteilen und so an einer sachgerechten Entscheidung mitzuwirken. Ein [X.], der in der mündlichen Verhandlung für eine nicht nur unerhebliche Zeit einschläft, ist abwesend, wenn er dadurch wesentlichen Vorgängen nicht mehr folgen kann, so dass das erkennende Gericht dann nicht mehr im Sinne von § 119 Nr. 1 [X.]O vorschriftsmäßig besetzt ist ([X.]sbeschluss vom [X.] - V R 18/86, [X.], 402, [X.] 1986, 908, unter [X.]). Ebenso ist es, wenn einer der zur Entscheidung berufenen [X.] nach der Eröffnung der mündlichen Verhandlung eingetroffen ist und seinen Platz auf der [X.]bank erst eingenommen hat, nachdem der Berichterstatter bereits mit dem Vortrag des Sachverhalts begonnen hatte, so dass der erst später eintreffende [X.] wesentliche Vorgänge der Verhandlung nicht wahrgenommen hat (Beschluss des [X.] --[X.]-- vom 17.06.2011 - XI B 21-22/10, [X.], 46, Rz 8 und 10).

8

b) Das Erfordernis der vorschriftsmäßigen Besetzung im Sinne von § 119 Nr. 1 [X.]O ist auch bei sogenannten "Videokonferenzen" auf der Grundlage des § 91a [X.]O zu beachten.

9

aa) Nach § 91a Abs. 1 Satz 1 [X.]O kann das Gericht den Beteiligten, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird dann gemäß § 91a Abs. 1 Satz 2 [X.]O zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen.

bb) Die "[X.]" soll auf der Grundlage dieser Vorschrift "ohne Verlust an rechtsstaatlicher Qualität" genutzt werden (BTDrucks 17/1224, S. 10). Um einem derartigen Verlust entgegenzuwirken, muss es die gemäß § 91a Abs. 1 Satz 2 [X.]O vorgesehene Übertragung der "Verhandlung" in Bild und Ton an den in § 91a Abs. 1 Satz 1 [X.]O genannten anderen Ort ermöglichen, dass die dort anwesenden Beteiligten die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts und damit die Anwesenheit aller Mitglieder des [X.] feststellen können.

Dies erfordert, dass alle zur Entscheidung berufenen [X.] während der "Videokonferenz" für die lediglich "zugeschalteten" Beteiligten sichtbar sind. Nicht zulässig ist es daher, den alleinigen Bildausschnitt auf einzelne [X.] --etwa den [X.] zu beschränken ([X.]/Schütze/[X.], 5. Aufl., § 128a ZPO Rz 11). "[X.]" Prozessbeteiligte müssen vielmehr alle [X.] sehen und hören können (Anders/[X.], Zivilprozessordnung, 81. Aufl., § 128a Rz 17; [X.]/[X.], ZPO, 34. Aufl., § 128a Rz 6 und [X.], Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2020, 2753, 2754). Wie dies gewährleistet wird, ist Sache des Gerichts, das die Gestattung nach § 91a Abs. 1 Satz 1 [X.]O erteilt.

Bestätigt wird dies durch den Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den [X.] vom 26.05.2023 ([X.] 228/23, S. 49). Danach müssen jeder Verfahrensbeteiligte und das Gericht die Möglichkeit haben, alle anderen Verfahrensbeteiligten und die Mitglieder des Gerichts zu jedem Zeitpunkt der Verhandlung sowohl visuell als auch akustisch wahrzunehmen. Soweit dies dahingehend eingeschränkt wird, dass nicht alle Verfahrensbeteiligten und das Gericht ständig gleichzeitig "auf einem Bildschirm" zu sehen sein müssen und auf variierende Ansichtsmöglichkeiten verwiesen wird, sieht der [X.] hierin in Übereinstimmung mit dem Schrifttum (Anders/[X.], Zivilprozessordnung, 81. Aufl., § 128a Rz 17 und [X.]/[X.], ZPO, 34. Aufl., § 128a Rz 6) einen bloßen Hinweis auf die Möglichkeit, die Verhandlungen mit mehreren Kameras an den anderen Ort zu übertragen, so dass zum Beispiel neben der Bildübertragung des gesamten [X.] durch eine zusätzliche Bildübertragung der die Verhandlung leitende Vorsitzende [X.] oder andere [X.] des [X.] --wie etwa der Berichterstatter-- im Bild zu sehen sind, wenn sie sich zur Sache äußern, etwa in Form eines Sachberichts oder im Rahmen eines Rechtsgesprächs. Ebenso wenig ergeben sich geringere Anforderungen, soweit nach dem Gesetzentwurf bei einfach gelagerten Terminen ohne Beweisaufnahme und mit nur wenigen Verfahrensbeteiligten der Einsatz sogenannter "Ein-Kamera-Systeme" möglich sein soll, bei denen die Teilnehmenden nicht individuell angezeigt werden können. Auch in einem solchen Fall bleibt es bei dem Grundsatz, dass die Kameraeinstellung es ermöglichen muss, alle zur Entscheidung berufenen [X.] und die im Gerichtssaal anwesenden Verfahrensbeteiligten visuell wahrzunehmen. Die bildliche Übertragung nur einzelner Personen genügt bei Nutzung einer einzelnen Kamera danach nicht.

cc) Gestattet ein [X.] daher gemäß § 91a [X.]O den Beteiligten, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen, entbindet dies nicht von der Verpflichtung, die vorschriftsmäßige Gerichtsbesetzung in einer Weise zu gewährleisten, die dem Vertrauen der Rechtsuchenden in die Sachlichkeit der Gerichte (s. oben [X.]a) hinreichend Rechnung trägt. Daher muss für die Beteiligten im Fall einer sogenannten "Videokonferenz" im Rahmen der vom Gericht technisch veranlassten zeitgleichen Bild- und Tonübertragung nach § 91a Abs. 1 [X.]O --ähnlich wie bei einer körperlichen Anwesenheit im [X.] feststellbar sein, ob die beteiligten [X.] körperlich und geistig in der Lage sind, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen oder ob einer oder mehrere von ihnen während der Verhandlung eingeschlafen ist oder sind, erst verspätet auf der [X.]bank Platz genommen oder diese vorübergehend oder vorzeitig verlassen hat oder haben (s. oben [X.]a).

dd) Abweichendes folgt nicht daraus, dass § 91a [X.]O eine bloße Verfahrensvorschrift ist, die lediglich regelt, dass allein von der zur Vornahme von Verfahrenshandlungen grundsätzlich notwendigen Anwesenheit der Beteiligten und ihrer Prozessbevollmächtigten im Sitzungszimmer abgesehen und diese durch die Übertragung der Verhandlung an deren Aufenthaltsort ersetzt wird (vgl. z.B. zu dem § 91a [X.]O entsprechenden § 110a des Sozialgerichtsgesetzes Beschluss des [X.] --BSG-- vom 04.11.2021 - B 9 SB 76/20 B, NJW 2022, 1639, Rz 7 f.). Es ist im Hinblick auf die mit § 91a [X.]O verfolgten Zielsetzungen der Prozesswirtschaftlichkeit ([X.] in Tipke/[X.], § 91a [X.]O Rz 1) oder [X.] ([X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 91a [X.]O Rz 5) kein Sachgrund erkennbar, der die Annahme rechtfertigen könnte, die Beteiligten würden sich mit ihrem Einverständnis zur bloßen "Zuschaltung per Videokonferenz" der Möglichkeit begeben wollen, die Anwesenheit der [X.] und ihr Verhalten während der mündlichen Verhandlung wahrnehmen zu können.

2. Im Streitfall war das [X.] nicht im Sinne von § 119 Nr. 1 [X.]O vorschriftsmäßig besetzt.

a) Die Tatsachen, die zur Beurteilung erforderlich sind, ob ein Verfahrensmangel vorliegt, kann der [X.] im Wege des [X.] feststellen ([X.]surteil vom 18.04.1996 - V R 25/95, [X.]E 180, 512, [X.] 1996, 578, unter II.2.c und [X.]-Urteil vom 19.09.2012 - IV R 45/09, [X.]E 239, 66, [X.] 2013, 123, Rz 31). Ebenso können die für die Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde wegen eines [X.] (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O) erheblichen Tatsachen vom Beschwerdegericht im Wege des [X.] ermittelt und frei gewürdigt (§ 113 Abs. 1, § 96 Abs. 1 Satz 1 [X.]O) werden ([X.]sbeschluss vom 30.04.1987 - V B 86/86, [X.]E 149, 437, [X.] 1987, 502).

b) Im Streitfall macht der Kläger geltend, das [X.] habe bei der sogenannten "Videokonferenz" nur eine Kamera eingesetzt und es seien für die nicht im Gerichtssaal anwesenden Beteiligten --je nach manueller Steuerung durch den "regieführenden" [X.]-- entweder die Gesamtbesetzung des [X.]s oder nur ein Teil seiner Besetzung oder aber nur derjenige [X.], der aktuell das Wort geführt habe, zu sehen gewesen. Der Vorsitzende [X.] am [X.] sei für circa zwei Drittel der Dauer der insgesamt circa 90-minütigen mündlichen Verhandlung im Bild zu sehen gewesen. Die [X.]bank mit den übrigen [X.]n und der aktuell sprechende [X.] seien nie gleichzeitig zu sehen gewesen.

Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt --[X.]--) hat diese Verfahrenshandhabung bestätigt. Er führt aus, zur Eröffnung der Verhandlung sei die gesamte [X.]bank zu sehen gewesen, während es in der Folgezeit "zur Ausrichtung der Kamera auf den jeweils Sprechenden" gekommen sei. Die "Ausrichtung der Kamera auf den Sprechenden" habe der "Herstellung der Gesprächssituation" mit diesem [X.] gedient.

Der Vorsitzende [X.] am [X.] und der "regieführende" [X.] am [X.] B haben in ihren dienstlichen Äußerungen diesen übereinstimmenden Beteiligtenvortrag ebenfalls bestätigt. Es sei nur eine Kamera verwendet worden, deren Einstellung während der Verhandlung verändert wurde, damit die "zugeschalteten" Beteiligten nicht nur schemenhaft die Gesamtheit der [X.]smitglieder erkennen, sondern auch wahrnehmen konnten, welcher [X.] sich gerade äußerte und wie dessen Gestik und Mimik sei. Auf die Frage, ob es den "zugeschalteten" Beteiligten vom Beginn bis zum Ende der Verhandlung möglich war, die vollständige [X.]bank mit [X.] zur Entscheidung berufenen [X.]n zu sehen, hielt der Vorsitzende [X.] am [X.] es für wahrscheinlich, dass dies nicht der Fall gewesen sei. [X.] am [X.] B verneinte diese Frage.

c) Der [X.] würdigt den übereinstimmenden Beteiligtenvortrag und die dienstlichen Äußerungen des die Verhandlung leitenden Vorsitzenden [X.]s am [X.] und des "regieführenden" [X.]s am [X.] B zur Verfahrenshandhabung durch das [X.], den das [X.] lediglich in Bezug auf die sich hieraus ergebenden Rechtsfolgen anders als der Kläger bewertet, dahingehend, dass es im Rahmen der vom [X.] durchgeführten "Videokonferenz" beiden Beteiligten nicht möglich war, die [X.]bank für den überwiegenden Zeitraum der mündlichen Verhandlung in den Blick zu nehmen. Bei dieser Sachlage sieht der [X.] --im Rahmen der freien Beweiswürdigung-- von einer förmlichen Beweisaufnahme vor dem [X.] (vgl. z.B. Beschluss des [X.] --BVerwG-- vom 19.07.2007 - 5 B 84/06, [X.] --HFR-- 2008, 1291) ab (vgl. zum Beweisrisiko des [X.] auch [X.] vom 16.12.1980 - 6 [X.] 110/79, Zeitschrift für Beamtenrecht --[X.]-- 1982, 30).

3. Der Kläger kann die Rüge auch mit Erfolg geltend machen.

a) Auf die Beachtung der Vorschriften über die Besetzung des Gerichts kann nicht nach § 155 Satz 1 [X.]O i.V.m. § 295 ZPO wirksam verzichtet werden.

aa) Die Verletzung einer das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozesshandlung betreffenden Vorschrift kann gemäß § 295 Abs. 1 ZPO nicht mehr gerügt werden, wenn die [X.] auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet oder wenn sie bei der nächsten mündlichen Verhandlung, die aufgrund des betreffenden Verfahrens stattgefunden hat oder in der darauf Bezug genommen ist, den Mangel nicht gerügt hat, obgleich sie erschienen und ihr der Mangel bekannt war oder bekannt sein musste. Diese Regelung ist allerdings gemäß § 295 Abs. 2 ZPO nicht anzuwenden, wenn Vorschriften verletzt sind, auf deren Befolgung eine [X.] wirksam nicht verzichten kann.

bb) Danach sind die Vorschriften über die Besetzung des Gerichts der Disposition der Beteiligten entzogen ([X.]-Beschlüsse vom 05.03.2018 - X B 44/17, [X.]/NV 2018, 637, Rz 15; vom 17.06.2011 - XI B 21-22/10, [X.], 46, Rz 11 und vom 30.01.2004 - II B 111/02, [X.]/NV 2004, 661, unter II.).

So gilt dies für den Fall, dass das Gericht aufgrund eines schlafenden [X.]s nicht vorschriftsmäßig besetzt ist. Dieser Verfahrensfehler wird nicht deshalb unbeachtlich, weil der Kläger oder sein Prozessbevollmächtigter das fragliche Verhalten des [X.]s nicht während der Verhandlung zur Sprache gebracht und gerügt haben. Die Nichtrüge des [X.] in der mündlichen Verhandlung, in der ein [X.] schläft, führt nicht zum [X.]. § 295 Abs. 2 ZPO trägt in einem solchen Fall dem Rechtsstaatsprinzip Rechnung, nach dem bestimmte Garantien einer formell ordnungsgemäßen Rechtsprechung, das heißt zwingende Grundnormen des Verfahrensrechts, deren Einhaltung im öffentlichen Interesse liegt, gewährleistet sein müssen; das Risiko ihrer Verletzung darf nicht auf die [X.]en abgewälzt werden. Zu diesen Vorschriften gehört die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts ([X.] vom 16.12.1980 - 6 [X.] 110/79, [X.] 1982, 30). Der [X.] schließt sich dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung an. Dem steht nicht entgegen, dass im Einzelfall (vgl. hierzu z.B. [X.]-Urteile vom 04.08.1967 - VI R 198/66, [X.]E 89, 183, [X.]I 1967, 558 und vom 05.12.1985 - IV R 114/85, [X.]/NV 1986, 468; [X.]-Beschlüsse vom 17.02.2011 - IV B 108/09, [X.]/NV 2011, 996 und vom 27.04.2011 - III B 62/10, [X.]/NV 2011, 1379) aus dem Umstand, dass in der mündlichen Verhandlung das Schlafen eines [X.]s nicht beanstandet wurde, "indiziell" ([X.] vom [X.] 8 SO 66/21 B, juris) zu folgern sein kann, dass der [X.] nicht geschlafen habe (so ausdrücklich [X.] vom 16.12.1980 - 6 [X.] 110/79, [X.] 1982, 30). Dies betrifft nicht die Frage des Verlusts des Rügerechts, sondern die tatsächlichen Umstände, die zu einem Verstoß gegen die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts führen können.

Ist es nicht erforderlich, in der mündlichen Verhandlung das Schlafen eines [X.]s anzusprechen oder zu beanstanden, um hierzu in der [X.] einen Verfahrensfehler geltend zu machen (BVerwG-Beschluss vom 19.07.2007 - 5 B 84/06, [X.], 1291; vgl. im Übrigen auch [X.] vom [X.] - 3 [X.] 118/79, NJW 1981, 413), muss auch nicht zur Vermeidung eines [X.]s in der mündlichen Verhandlung in Form der sogenannten "Videokonferenz" nach § 91a [X.]O die fehlende Bildübertragung der [X.]bank zur Überprüfung des Verhaltens eines [X.]s gerügt werden.

cc) Ein [X.] tritt auch nicht dadurch ein, dass der Prozessbevollmächtigte des [X.] erstmalig im Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eine unzureichende Bildübertragung der gesamten [X.]bank gerügt hat (s. unter [X.]). Dieses Verhalten könnte [X.]falls im Rahmen der Beweiswürdigung zu der Frage, ob tatsächlich keine hinreichende Bildübertragung der gesamten [X.]bank erfolgte, eine Rolle spielen, falls der Prozessbevollmächtigte des [X.] unter Verletzung der gebotenen [X.] nur deshalb von einem solchen Hinweis an das Gericht während der mündlichen Verhandlung abgesehen hat, um sich treu- und pflichtwidrig einen absoluten Revisionsgrund für den Fall des Unterliegens zu sichern (vgl. [X.] vom 13.06.2001 - 5 B 105/00, NJW 2001, 2898, unter 3. und vom 19.07.2007 - 5 B 84/06, [X.], 1291, unter 2.). Hierfür bestehen im Streitfall indes keine Anhaltspunkte.

dd) Abweichendes folgt nicht aus dem Beschluss des [X.] 9 SB 76/20 B (NJW 2022, 1639, Rz 11). Danach setzt zwar die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bei einer sogenannten "Videokonferenz" voraus, dass vermeintliche Übertragungsmängel bereits während der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Gericht zu rügen sind. Die Beurteilung des BSG zum [X.] bei der Geltendmachung der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist aber auf die Rüge der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts (§ 119 Nr. 1 [X.]O), zu der sich das BSG in seiner Entscheidung nicht geäußert hat, nicht zu übertragen.

Im Übrigen wird auch ansonsten bei Durchführung einer Verhandlung im Wege der sogenannten "Videokonferenz" zwischen verzichtbaren und nicht verzichtbaren Verfahrensmängeln unterschieden (vgl. [X.] ZPO/von [X.], 48. [X.]. [01.03.2023], ZPO § 128a Rz 15.2; [X.]/Frenze, Neue Juristische Online-Zeitschrift 2022, 1185). Dementsprechend kommt es auch nicht auf die instanzgerichtliche Rechtsprechung und auf Beiträge im Schrifttum an, die sich nur zu verzichtbaren Verfahrensmängeln äußern (vgl. z.B. zum Verstoß gegen die Grundsätze der Mündlichkeit oder der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör Urteil des [X.] --OLG-- vom 15.07.2021 - 4 U 48/20, Recht Digital 2022, 185, Rz 53 f.; Sozialgericht [X.], Urteil vom 21.02.2022 - S 13 [X.] 200/18, juris, Rz 14; zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör [X.] [X.], Urteil vom 24.07.2014 - 8 K 1324/10, Entscheidungen der [X.]e 2014, 2061, Rz 10; vgl. auch [X.] in Tipke/[X.], § 91a [X.]O Rz 11 mit Bezugnahme auf den vorstehenden [X.]; zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör Gräber/[X.], [X.]sordnung, 9. Aufl., § 91a Rz 18; Anders/[X.], Zivilprozessordnung, 81. Aufl., § 128a Rz 17 mit Bezugnahme auf das vorstehende Urteil des [X.]; zur Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit und des Anspruchs auf rechtliches Gehör Musielak/[X.]/[X.], ZPO, 20. Aufl., § 128a Rz 3a; [X.] in [X.]/Schneider, Verwaltungsrecht, § 102a VwGO Rz 41 mit Bezugnahme auf das vorstehende Urteil des Hessischen [X.]; zum vorstehenden [X.] vgl. Müller, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2022, 277; zum Verstoß gegen die Grundsätze der Mündlichkeit oder der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör Klasen in [X.]/[X.], juris [X.] Elektronischer Rechtsverkehr, Bd. 2, 2. Aufl., § 128a ZPO [Stand: 12.05.2023] Rz 30; zur Vergleichbarkeit des § 91a Abs. 1 [X.]O mit der Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung nach § 91 Abs. 2 [X.]O [X.], [X.], 1359; vgl. auch ohne Äußerung zur vorschriftsmäßigen Gerichtsbesetzung [X.], [X.], 2753, 2754).

b) Weiter hat der Kläger mit seinem Vortrag, dass jeweils allein der Vorsitzende [X.] am [X.] und die Berichterstatterin während der Wortbeiträge dieser beiden [X.] zu sehen waren, auch hinreichend dargelegt, was während der mündlichen Verhandlung geschehen ist, als die [X.]bank nicht vollständig zu sehen war (vgl. zu diesem Erfordernis BVerwG-Beschluss vom 22.05.2006 - 10 B 9/06, [X.], 2648, unter 1.a).

c) Schließlich steht der Rüge des [X.] ebenso wie im Fall des schlafenden [X.]s (s. oben [X.] und [X.]) nicht entgegen, dass im Protokoll der mündlichen Verhandlung nicht festgehalten ist, ob die Beteiligten die Möglichkeit hatten, während der Verhandlung die vollständige [X.]bank zu sehen.

4. Im Streitfall hält der [X.] es für sachgerecht, die Vorentscheidung gemäß § 116 Abs. 6 [X.]O aufzuheben und die Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Die weiteren [X.] des [X.] sind danach nicht mehr zu prüfen.

5. Von einer weiteren Begründung wird nach § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 [X.]O abgesehen.

6. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

V B 13/22

30.06.2023

Bundesfinanzhof 5. Senat

Beschluss

vorgehend FG Münster, 6. Januar 2022, Az: 13 K 1195/18 K,G, Urteil

§ 91a Abs 1 FGO, § 119 Nr 1 FGO, Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 155 S 1 FGO, § 295 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 30.06.2023, Az. V B 13/22 (REWIS RS 2023, 4185)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 4185 NJW 2023, 2596 REWIS RS 2023, 4185

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

IX B 104/22 (Bundesfinanzhof)

Videoverhandlung


IX B 56/23 (Bundesfinanzhof)

Videoverhandlung


VII B 92/20 (Bundesfinanzhof)

Verlegungsantrag


I B 60/22 (Bundesfinanzhof)

Darlegungsanforderungen hinsichtlich Besetzungsrüge


VI B 128/15 (Bundesfinanzhof)

Gewährung rechtlichen Gehörs bei Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Videokonferenz - Videotechnik - Fahrtenbuch …


Referenzen
Wird zitiert von

1 BvR 1615/23

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Literatur & Presse BETA

Diese Funktion steht nur angemeldeten Nutzern zur Verfügung.

Anmelden
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.