Bundesfinanzhof, Beschluss vom 09.11.2023, Az. IX B 56/23

9. Senat | REWIS RS 2023, 9282

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Gegenstand

Videoverhandlung


Leitsatz

1. NV: Der Anspruch auf die vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts ist verletzt, wenn nicht alle zur Entscheidung berufenen Richter während der "Videokonferenz" für die lediglich "zugeschalteten" Beteiligten sichtbar sind (Anschluss an Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 30.06.2023 - V B 13/22, BFHE 280, 425).

2. NV: Die gerichtsseitige Verantwortlichkeit für die Durchführung der Videoverhandlung betrifft nicht die technische Ausstattung der Beteiligten.

3. NV: Die Beteiligten müssen selbst dafür sorgen, dass sie technisch in der Lage sind, der Verhandlung in Bild und Ton zu folgen und Verfahrenshandlungen vorzunehmen.

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des [X.] vom 29.06.2023 - 12 K 12110/22 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Gründe

1

Die Beschwerde ist --soweit sie im Hinblick auf die gesetzlichen [X.] des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) zulässig ist-- unbegründet.

2

1. Das angefochtene Urteil beruht nicht auf einem Verfahrensmangel nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O.

3

a) Soweit die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) eine Besetzungsrüge nach § 119 Nr. 1 [X.]O i.V.m. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes erhebt, weil sie wegen der technischen Gestaltung der Videoverhandlung nach § 91a [X.]O die Gesichter der beteiligten [X.] nicht habe erkennen können, entsprechen ihre Ausführungen nicht den [X.].

4

aa) Der Anspruch auf die vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts ist verletzt, wenn nicht alle zur Entscheidung berufenen [X.] während der "Videokonferenz" für die lediglich "zugeschalteten" Beteiligten sichtbar sind. Nicht zulässig ist es daher, den alleinigen Bildausschnitt auf einzelne [X.] --etwa den [X.] zu beschränken (Beschluss des [X.] --BFH-- vom 30.06.2023 - V B 13/22, [X.], 425, Rz 11). "[X.]" Prozessbeteiligte müssen vielmehr alle [X.] sehen und hören können. Sie müssen feststellen können, ob die beteiligten [X.] körperlich und geistig in der Lage sind, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen oder ob einer oder mehrere von ihnen während der Verhandlung eingeschlafen ist oder sind, erst verspätet auf der [X.]bank Platz genommen oder diese vorübergehend oder vorzeitig verlassen hat oder haben ([X.] vom 30.06.2023 - V B 13/22, [X.], 425, Rz 13). Wie dies gewährleistet wird, ist Sache des Gerichts, das die Gestattung nach § 91a Abs. 1 Satz 1 [X.]O erteilt ([X.] vom 30.06.2023 - V B 13/22, [X.], 425, Rz 11).

5

Die gerichtsseitige Verantwortlichkeit betrifft jedoch nicht die technische Ausstattung der Beteiligten. Der Beteiligte, der eine Videoverhandlung beantragt, muss selbst dafür sorgen, dass er technisch in der Lage ist, der Verhandlung in Bild und Ton zu folgen und Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Dazu gehört unter anderem, dass er auf seinem Endgerät für eine hinreichende Ausgabequalität und auch über die für eine Bild- und Tonübertragung notwendige Bandbreite seines Internetanschlusses zu sorgen hat. Ebenfalls muss er seine Verfahrenshandlungen in ausreichender Qualität in Bild und Ton an das Gericht übermitteln können; dazu gehören unter anderem dem Stand der Technik entsprechende und eine hinreichende Übertragungsqualität gewährleistende Kameras und Mikrofone.

6

bb) Unter Anwendung dieser Grundsätze genügen die Ausführungen der Beschwerde den [X.] nicht, weil für den Senat nicht ersichtlich ist, wer für die Einschränkungen --so sie vorgelegen haben sollten-- verantwortlich ist.

7

Die Klägerin behauptet ("augenscheinlich"), dass die Kamera an der Rückwand des Gerichtssaals angebracht gewesen sei und ihr Prozessbevollmächtigter wegen der "großen Entfernung zwischen Kamera und [X.]bank" die Gesichter der [X.] nicht habe erkennen können. Ungeachtet dessen, dass es sich um eine bloße Behauptung handelt und der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt --[X.]--) nach seinen Angaben im Schriftsatz vom 10.10.2023 alle [X.] habe klar erkennen und verstehen können, fehlen sämtliche Angaben zur technischen Ausstattung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin. Die Ursache der behaupteten schlechten Sichtbarkeit könnte zum Beispiel eine langsame Internetverbindung und die dadurch möglicherweise entstehende Verpixelung oder ein zu kleiner Bildschirm sein. Da die Übertragung allerdings über einen [X.] funktioniert, hätte der Prozessbevollmächtigte unter anderem durch das Aktivieren der [X.] oder die Zoomfunktion des [X.]s das Bild vergrößern können.

8

b) Mit ihrem Vortrag, das [X.] habe ihr den Schriftsatz des Steuerberaters vom [X.] und weitere Unterlagen vorenthalten, macht die Klägerin keinen Verfahrensmangel im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O geltend. Darunter fallen nur solche Fehler, die dem Finanzgericht ([X.]) bei der Handhabung des Verfahrens unterlaufen sind, nicht aber --wie vorliegend-- etwaige Fehler der Behörde im Verwaltungsverfahren ([X.] vom 25.10.2018 - V B 37/18, Rz 7, m.w.N.).

9

Soweit die Klägerin auch [X.] möchte, das [X.] habe ihr diese Unterlagen vorenthalten, kommt es nach dem insoweit maßgeblichen rechtlichen Standpunkt des [X.] darauf nicht an. Das [X.] hat sich auf § 127 der Abgabenordnung ([X.]) berufen, wonach die Aufhebung eines Verwaltungsaktes nicht allein deshalb beansprucht werden kann, weil er unter Verletzung formeller Vorschriften zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Die Norm gilt auch für eine Verletzung des rechtlichen Gehörs [X.]/Ratschow, [X.], 16. Aufl., § 127 Rz 6).

Im Übrigen hatte das [X.] die Steuerakte beigezogen. Die Klägerin hätte Einsicht nehmen und die aus ihrer Sicht relevanten Unterlagen zur Kenntnis nehmen können.

c) Auch soweit die Klägerin einen Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten rügt, weil das [X.] ihre Ausführungen zum Vergleichsinhalt nicht zutreffend berücksichtigt habe, liegt kein Verfahrensfehler nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O vor.

aa) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 [X.]O entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten. Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten liegt unter anderem dann vor, wenn das [X.] eine nach Aktenlage feststehende Tatsache, die richtigerweise in die Beweiswürdigung hätte einfließen müssen, unberücksichtigt lässt oder seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsbeschluss vom 14.10.2020 - IX B 33/20, Rz 3).

bb) Nach diesen Grundsätzen kann die Beschwerde nicht durchdringen. Denn im [X.] rügt die Klägerin mit ihrem Vortrag eine fehlerhafte Auslegung des gerichtlichen Vergleichs vom 03.07.2020 durch das [X.]. Fehler bei der Vertragsauslegung stellen indes grundsätzlich Mängel bei der Anwendung des sachlichen Rechts dar und können die Zulassung der Revision nicht begründen (Senatsbeschlüsse vom 04.03.2016 - IX B 146/15 und vom 15.09.2020 - IX B 14/20, Rz 12; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 115 Rz 82 und 220).

Im Übrigen hat das [X.] die gesetzlichen Auslegungsregeln beachtet. Insbesondere aus der Formulierung in Ziffer 7 des Vergleichs ergibt sich, dass die Beteiligten nicht von einer steuerlich relevanten Regelung ausgegangen sind. Denn danach sollte die Klägerin den Beigeladenen von sämtlichen steuerlichen Verbindlichkeiten in Zusammenhang mit der Vermietung und Verpachtung in dem unter Ziffer 6 genannten Zeitraum (2019 bis 2023) freistellen. Eine solche Klausel wäre entbehrlich gewesen, wenn die Beteiligten von einer steuerlich relevanten abweichenden Gewinnverteilung ausgegangen wären. Schließlich hat das [X.] unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BFH-Urteil vom 18.01.1990 - IV R 97/88, [X.] 1991, 21) zutreffend darauf abgestellt, dass die Klägerin und der Beigeladene vor Abschluss des Vergleichs nicht über die Gewinnverteilung in der GbR gestritten haben.

d) Es liegt auch kein Verfahrensmangel vor, soweit die Klägerin sinngemäß die unterlassene Beiziehung der Akten des Landgerichts … rügt.

aa) Das Gericht verstößt gegen seine Verpflichtung zur Ermittlung des Sachverhalts, wenn es die Beiziehung von entscheidungserheblichen Akten unterlässt (vgl. [X.] vom 21.06.2016 - III B 29/16). Die Aktenbeiziehung ist nur dann entbehrlich, wenn die Akten oder Aktenteile aus Sicht des Gerichts aufgrund seiner materiell-rechtlichen Auffassung unerheblich sind ([X.] vom 21.06.2016 - III B 29/16). Regelmäßig entscheidungserheblich sind diejenigen Akten, deren Gegenstand mit demjenigen der Klage identisch ist ([X.] vom [X.], Rz 11).

bb) Nach den Ausführungen des [X.] kam es allein auf den Wortlaut des gerichtlichen Vergleichs vom 03.07.2020 an, der im [X.] in Kopie vorlag. Das ist nicht zu beanstanden. Die von der Klägerin zitierten Ausführungen des Beigeladenen im zivilrechtlichen Verfahren … sind insoweit nicht relevant.

2. Soweit schließlich die Klägerin die materielle Richtigkeit der Entscheidung des [X.] rügt, kann dies nicht zur Zulassung der Revision führen, weil damit kein Zulassungsgrund gemäß § 115 Abs. 2 [X.]O dargetan wird (Senatsbeschluss vom 04.07.2002 - IX B 169/01, [X.] 2002, 1476). Das betrifft insbesondere ihre Ausführungen dazu, dass die Vorsetzungen des § 127 [X.] vorliegend nicht gegeben seien.

3. Von einer Darstellung des Sachverhalts und einer weitergehenden Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 [X.]O abgesehen.

4. [X.] beruht auf § 135 Abs. 2 [X.]O.

Meta

IX B 56/23

09.11.2023

Bundesfinanzhof 9. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 29. Juni 2023, Az: 12 K 12110/22, Urteil

§ 91a FGO, § 119 Nr 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 09.11.2023, Az. IX B 56/23 (REWIS RS 2023, 9282)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 9282

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