Bundessozialgericht, Urteil vom 30.03.2017, Az. B 2 U 10/15 R

2. Senat | REWIS RS 2017, 13095

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Gegenstand

(Gesetzliche Unfallversicherung - Beitragsrecht - Rechtswidrigkeit des Beitragsbescheids - Ermessensfehler - Beitragspflichtiger - neu entstandene Beitragspflicht gem § 130 Abs 2 S 2 SGB 7 - gesamtschuldnerische Beitragshaftung - Entscheidung des Unfallversicherungsträgers - Begründung: Ermessensnichtgebrauch - Auswahl des Gesamtschuldners - Grundrechtsbindung - Willkürverbot - Bestimmung der Quantität - Abwägung der Interessen - Zweigniederlassung - britische Limited - unfallversicherungsrechtlicher Unternehmenssitz)


Leitsatz

Die Entscheidung des Unfallversicherungsträgers, ob und ggf welchen Gesamtschuldner er in welcher Höhe in Haftung nimmt, liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen.

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 23. April 2015 aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des [X.] (Oder) vom 4. März 2013 zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte den Kläger als bestellten Bevollmächtigten der Bau & Forstbetrieb L. Limited ([X.]) für deren Beitragsschulden in voller Höhe durch Beitragsbescheid in Anspruch nehmen durfte.

2

Der Kläger war ([X.] und alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer der [X.], einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach [X.] und walisischem Recht, die im [X.] ([X.]) eingetragen war. [X.] war [X.]; das [X.] betrug 100 [X.] Pfund. Unternehmensgegenstand waren [X.] Maurer-, Putz- und Betonarbeiten.

3

Mit identischem Unternehmensgegenstand meldete die [X.] am [X.] im Inland eine Zweigstelle als Gewerbe an. Diese wurde später in das Handelsregister beim [X.] (Oder) eingetragen. In der Gewerbeanmeldung wurde der Kläger als Bevollmächtigter der [X.] benannt. Die Zweigniederlassung nahm ihre Geschäftstätigkeit zum 1.1.2006 auf. Im Jahre 2007 stellte sie den Geschäftsbetrieb ein. Das Gewerbe wurde zum [X.] abgemeldet. Das [X.] (Oder) eröffnete durch Beschluss vom [X.] das Insolvenzverfahren über das Vermögen der [X.]. Die Beklagte forderte vom Kläger persönlich nach Anhörung Umlagen und [X.] iHv 8639,41 Euro für das Umlagejahr 2006 (Beitragsbescheid vom 7.6.2010, Widerspruchsbescheid vom 10.12.2010).

4

Das [X.] (Oder) hat die Bescheide auf die Klage aufgehoben (Urteil vom [X.]): Ein Rückgriff auf den Kläger nach § 130 Abs 2 [X.] sei nicht möglich, weil die Vorschrift nur Fälle erfasse, in denen ein ausländisches Unternehmen im Inland überhaupt keinen Sitz habe. Ein Inlandssitz bestehe, wenn im Inland eine Betriebsstätte unter verantwortlicher Leitung des Unternehmers existiere. Ein Zugriff auf einen Bevollmächtigten sei dann nicht erforderlich, weil mit der Zweigniederlassung ein für den Unfallversicherungsträger greifbarer Schuldner existiere.

5

Auf die Berufung der Beklagten hat das [X.] das Urteil des [X.] aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom [X.]): Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei nach § 150 Abs 2 S 2 iVm § 130 Abs 2 S 1 [X.] Schuldner der Beitragsforderung. Er sei als alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer unzweifelhaft Bevollmächtigter iS des § 130 Abs 2 S 1 [X.]. Auch habe die [X.] keinen Inlandssitz gehabt. Maßgeblich hierfür sei die sog Gründungstheorie des [X.]. Hiernach komme es auf den Staat an, in dem die Gesellschaft gegründet worden sei. Die [X.] habe ihren Gesellschaftssitz weiterhin in [X.]. Den Entscheidungen des [X.] zur Gründungstheorie sei der Grundgedanke zu entnehmen, dass, wenn ein EU-Staatsangehöriger in einem Mitgliedsstaat rechtmäßig eine Kapitalgesellschaft gründe, die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft dann aber ausschließlich in einem anderen Mitgliedsstaat entfalte, auf die Gesellschaft das Recht des Gründungsstaates Anwendung finde. Der Kläger könne nicht iS eines Rosinenpickens im Rahmen seiner Gestaltungsmöglichkeiten eine Gesellschaft nach ausländischem Recht gründen, mit dieser ausschließlich im Inland Geschäftsaktivitäten entfalten, um sich dann dennoch als inländische Gesellschaft behandeln lassen zu wollen. Zudem bestehe bei ausländischen Gesellschaften, die mangels Mindestkapitalisierung weniger solvent seien, ein Bedürfnis, einen gesamtschuldnerisch haftenden Bevollmächtigten nach § 130 Abs 2 [X.] zu bestellen. Insbesondere spreche auch § 130 Abs 2 S 3 [X.], der den Ort der inländischen Betriebsstätte als Sitz fingiere, für eine an rechtlichen Gesichtspunkten orientierte Begriffsbestimmung. Einer solchen Fiktion bedürfte es nicht, wenn allein die Existenz einer Zweigniederlassung ohne Weiteres einen Inlandssitz begründen würde. Schließlich würde nach §§ 13d ff HGB für ausländische Gesellschaften im Geltungsbereich des HGB eine Niederlassung eingetragen, ohne dass hierdurch eine Änderung des Unternehmenssitzes eintrete.

6

Der Kläger rügt mit seiner Revision eine Verletzung des § 150 Abs 2 iVm § 130 Abs 2 S 1 [X.]. Der Unternehmenssitz sei gemäß § 130 Abs 1 [X.] nicht rechtlich, sondern nach dem organisatorischen Mittelpunkt zu bestimmen. Soweit ein Unternehmen im Inland einen organisatorischen Mittelpunkt habe, habe es mit dieser selbständigen Niederlassung einen Inlandssitz.

7

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des [X.] vom 23. April 2015 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des [X.] (Oder) vom 4. März 2013 zurückzuweisen.

8

Die Beklagte, die dem angefochtenen Urteil beipflichtet, beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision des [X.] ist begründet. Zu Unrecht hat das [X.] das zusprechende Urteil des [X.] aufgehoben und die isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 Var 1 [X.]G) des [X.] abgewiesen. Die Entscheidung der Beklagten in dem Beitragsbescheid vom [X.] dem Widerspruchsbescheid vom 10.12.2010, ihn als Gesamtschuldner allein in voller Höhe für die Beiträge der [X.] im Umlagejahr 2006 heranzuziehen, ist rechtswidrig. Zwar lagen im hier maßgebenden Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung im Jahre 2010 die Tatbestandsvoraussetzungen der herangezogenen § 168 Abs 1, § 130 Abs 2 S 2, § 150 Abs 1 S 1, Abs 2 S 2 [X.]B VII zu Lasten des [X.] vor. Die neu entstandene Beitragspflicht des [X.] änderte jedoch nichts daran, dass die [X.] weiterhin ebenfalls [X.] war (nachfolgend 1.). Die Beklagte hat es aber versäumt, von der ihr in § 150 Abs 2 S 2 [X.]B VII eingeräumten gesetzlichen Ermächtigung Gebrauch zu machen und zu begründen, wieso sie die Beiträge von dem Kläger persönlich in voller Höhe als Gesamtschuldner fordert. Insofern liegt ein Ermessensfehler in Form des [X.] vor (§ 54 Abs 2 S 2 [X.]G; nachfolgend 2.).

1. Nach § 168 Abs 1 [X.]B VII teilt der Unfallversicherungsträger den [X.]en den von ihnen zu zahlenden Beitrag schriftlich mit. [X.] sind nach § 150 Abs 1 S 1 [X.]B VII die Unternehmer (§ 136 Abs 3 Nr 1 [X.]B VII), für deren Unternehmen (§ 121 Abs 1 [X.]B VII) Versicherte (§§ 2, 3 und 6 [X.]B VII) tätig sind oder zu denen Versicherte in einer besonderen, die Versicherung begründenden Beziehung stehen. Die (örtliche) Zuständigkeit des [X.] und dessen Gläubigerstellung im Beitragsschuldverhältnis richtet sich gemäß § 130 Abs 1 S 1 [X.]B VII nach dem Sitz des Unternehmens. Diese Vorschrift regelt indes nur Fälle, in denen Unternehmen einen Inlandssitz haben, wie sich im Umkehrschluss aus § 130 Abs 2 S 1 [X.]B VII ergibt ("Hat ein Unternehmen keinen Sitz im Inland …"). Für Unternehmen mit Sitz im Ausland greift § 130 Abs 1 S 1 [X.]B VII demnach nicht. Vielmehr gilt dann § 130 Abs 2 S 1 [X.]B VII, der die Bestellung eines Bevollmächtigten vorsieht. Beide Absätze des § 130 [X.]B VII stehen also in einem Stufenverhältnis, sodass § 130 Abs 2 [X.]B VII nur zur Anwendung kommt, wenn § 130 Abs 1 [X.]B VII nicht einschlägig ist. Hat das Unternehmen einen Inlandssitz, steht dem Unfallversicherungsträger als Gläubiger der Beitragsforderung allein der Unternehmer als Schuldner gegenüber (s auch Ricke in [X.], [X.]B VII, Stand 12/2012, § 130 RdNr 4). Wenn und sobald sein Unternehmen keinen Sitz im Inland (mehr) hat, muss er gemäß § 130 Abs 2 S 1 [X.]B VII einen Bevollmächtigten mit Sitz im Inland bestellen, der kraft Gesetzes (§ 130 Abs 2 S 2 [X.]B VII) die Pflichten des Unternehmers hat. Nach § 150 Abs 2 S 2 [X.]B VII haften "die in § 130 Abs 2 S 1 … genannten Bevollmächtigten … mit den Unternehmern als Gesamtschuldner".

a) Zuständiger Unfallversicherungsträger und damit Gläubigerin der geltend gemachten Beitragsforderung ist die Beklagte, weil die [X.] ihren unfallversicherungsrechtlichen Unternehmenssitz am Ort ihrer Zweigniederlassung im inländischen [X.] hatte, als die [X.] im Kalenderjahr 2006 kraft Gesetzes dem Grunde nach entstanden sind (§ 152 Abs 1 S 1 [X.]B VII). Die Zweigniederlassung der [X.] war ein "Unternehmen" iS des § 121 Abs 1 [X.]B VII. Nach dessen Klammerzusatz erfasst der unfallversicherungsrechtliche Unternehmensbegriff neben Betrieben und Einrichtungen auch bloße Tätigkeiten (Senatsurteil vom 18.1.2011 - B 2 U 16/10 R - [X.] 4-2700 § 123 [X.] RdNr 13) und ist mithin denkbar weit. Da die [X.] ihre Geschäftstätigkeit in [X.] tatsächlich ausübte, war ihre dortige Zweigniederlassung ein "Unternehmen" iS des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung. Der "Sitz" des Unternehmens ist sein organisatorischer Mittelpunkt, von dem es kaufmännisch und technisch geleitet wird (so bereits [X.], 182; [X.] in [X.]/[X.], [X.]B VII, 4/2014, § 130 RdNr 10; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]B VII, 4. Aufl 2014, § 130 Rd[X.]; [X.] in Kater/[X.], 1997, [X.]B VII, § 130 RdNr 3; [X.], [X.], juris-PK [X.]B VII, 2. Aufl 2014, § 130 RdNr 17; Ricke in [X.], [X.]B VII, Stand 12/2012, § 130 RdNr 4). Dies war bei der im [X.] gegründeten, aber ausschließlich in [X.] tätigen [X.] nicht ihr satzungsrechtlicher Sitz in [X.], sondern der Ort der Zweigniederlassung in [X.] Dagegen ist ein an rechtlichen Gesichtspunkten orientiertes Begriffsverständnis des Unternehmenssitzes - wie vom [X.] angenommen - mit dem auf die tatsächliche Tätigkeitsausübung bezogenen Unternehmensbegriff des [X.]B VII unvereinbar. Auch ist nicht erkennbar, inwieweit die vom [X.] in anderem Zusammenhang entwickelte sog "Gründungstheorie" dem insofern eindeutigen Wortlaut und [X.] der §§ 121,130 [X.]B VII vorgehen sollte. Dass europarechtlich eine Gründung des Unternehmens in einem anderen Land zulässig ist, ändert nichts am Anknüpfen der § 121 [X.]B VII und § 130 [X.]B VII an der faktischen Organisation eines Unternehmens im Inland (anders offenbar [X.] Sachsen-Anhalt Urteil vom 4.12.2014 - L 6 U 99/12 - [X.] 2014, [X.], 54 ff = Juris Rd[X.] ff).

b) [X.] und damit Schuldnerin der im Kalenderjahr 2006 kraft Gesetzes dem Grunde nach (§ 152 Abs 1 S 1 [X.]B VII) entstandenen Beitragsforderung war zunächst ausschließlich die [X.] als Unternehmerin (§ 150 Abs 1 S 1 [X.]B VII), der das Ergebnis des Unternehmens (Zweigniederlassung) unmittelbar zum Vor- oder Nachteil gereichte (§ 136 Abs 3 Nr 1 [X.]B VII). Diese Beitragspflicht blieb bestehen, als der bevollmächtigte Kläger am [X.] als weiterer Beitragsschuldner gemäß § 130 Abs 2 S 2 [X.]B VII kraft gesetzlichen Schuldbeitritts neben die [X.] trat. Diese Vorschrift erstreckt "die Pflichten des Unternehmers", zu denen auch die Beitragspflicht nach § 150 Abs 1 S 1 [X.]B VII zählt, auf dessen Bevollmächtigten. Einen Bevollmächtigten mit Sitz im Inland hat der Unternehmer gemäß § 130 Abs 2 S 1 [X.]B VII zu bestellen, wenn und sobald sein Unternehmen keinen Sitz im Inland hat. Die damit verbundene Rechtspflicht, einen Bevollmächtigten mit Sitz im Inland zu bestellen, entstand für die [X.] erstmals am [X.] um 0.00 Uhr, nachdem sie nach den nicht angegriffenen und damit bindenden Feststellungen des [X.] (§ 163 [X.]G) als Unternehmerin mit Sitz im [X.] den Geschäftsbetrieb in ihrer inländischen Zweigniederlassung am [X.] um 24.00 Uhr eingestellt und das Gewerbe abgemeldet hatte. Damit hatte sie am [X.] ab 0.00 Uhr keinen Sitz im Inland mehr. Gleichzeitig war dieser Rechtspflicht Genüge getan, weil die Unternehmerin den Kläger, der seinen Wohnsitz im Inland hatte, nach den ebenfalls bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts bereits in der Gewerbeanmeldung vom 29.12.2005 ausdrücklich als ihren "Bevollmächtigten" bezeichnet und in der Handelsregisteranmeldung als alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführer benannt und damit zu ihrem Bevollmächtigten im Inland bestellt hatte.

Nach § 150 Abs 2 S 2 [X.]B VII hat der Kläger als Gesamtschuldner für die (Beitrags-)Pflicht der [X.] einzustehen und konnte gemäß § 168 Abs 1 [X.]B VII - im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung am 10.12.2010 - als solcher durch Beitragsbescheid in Haftung genommen werden. Entscheidend ist deshalb im vorliegenden Fall, dass der Beklagten bei Erlass der angefochtenen Bescheide nach der zu diesem Zeitpunkt maßgebenden Rechts- und bestehenden Sachlage zwei Schuldner für die Beitragsforderung zur Verfügung standen, nämlich nach wie vor die [X.] und nach der Aufgabe deren Produktionsstätte im Inland der Kläger persönlich. Insofern ist es auch wenig nachvollziehbar, inwiefern das Abstellen auf das [X.] Beitragsrecht der §§ 130, 150 [X.]B VII dem Kläger hier eine "Rosinenpickerei" ermöglichen könnte.

2. Die Beklagte hat es jedoch versäumt, ihr durch § 150 Abs 2 S 2 [X.]B VII eingeräumtes Ermessen, ob und ggf welchen der beiden Gesamtschuldner sie in welcher Höhe in Haftung nimmt, zu betätigen (zu der von § 150 Abs 2 S 2 [X.]B VII generell geforderten Ermessensausübung vgl bereits Ricke in [X.], [X.]B VII, Stand 3/2013, § 150 RdNr 10). Damit war der an den Kläger persönlich gerichtete Beitragsbescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.12.2010 wegen [X.] rechtswidrig und schon deshalb aufzuheben.

Die Möglichkeit eines Gläubigers, "die Leistung nach ... Belieben von jedem" der (Gesamt-)Schuldner "ganz oder zu einem Teil" zu "fordern" (vgl § 421 S 1 BGB), ist im Beitragsrecht der gesetzlichen Unfallversicherung als Teil des öffentlichen Rechts verfassungsrechtlich in der Weise überformt, dass bei der Auswahl des Gesamtschuldners und der Bestimmung der Quantität ("ganz oder zu einem Teil") eine Abwägung der öffentlichen und privaten Interessen vorzunehmen ist. An die Stelle des zivilrechtlichen Beliebens tritt - schon wegen des verfassungsrechtlichen Willkürverbots (Art 3 Abs 1 GG) - im öffentlichen Recht die ermessensgebundene Entscheidung. Mit der gesetzlichen Anordnung in § 150 Abs 2 S 2 [X.]B VII, dass Unternehmer und Bevollmächtigter als Gesamtschuldner haften, wird der ausführenden Behörde damit gleichzeitig Ermessen eingeräumt; der Gesamtschuldnerschaft im öffentlichen Recht ist - mit anderen Worten - die Ermessenseinräumung begrifflich immanent.

Der Unfallversicherungsträger ist als Träger öffentlicher Gewalt grundrechtsgebunden, sodass die belastende Entscheidung, welchen von mehreren Grundrechtsträgern (= Schuldnern) er in welcher Höhe in Anspruch nehmen möchte (Grundrechtseingriff), nicht im freien Belieben, sondern im pflichtgemäßen (Auswahl-)Ermessen der Behörde steht, für das die allgemeinen Grundsätze des § 39 [X.]B I gelten. Im Fall der Gesamtschuldnerschaft kann der einzelne [X.]e deshalb nur aufgrund einer Ermessensentscheidung unter Beachtung seiner Freiheitsgrundrechte, des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Willkürverbots in Anspruch genommen werden. Jeder Gesamtschuldner hat ein subjektiv-öffentliches Recht, dass der Unfallversicherungsträger die belastende Entscheidung über seine Inanspruchnahme ermessensfehlerfrei trifft. In diesem Sinne liegt es auch nach ständiger Rechtsprechung des [X.] im Ermessen der Finanzbehörde, welchen Gesamtschuldner iS des § 44 [X.] sie in welcher Höhe in Anspruch nimmt (vgl zB [X.] Urteil vom 2.12.2003 - [X.]/03 - [X.]E 204, 380 sowie Beschlüsse vom 12.7.1999 - [X.]/99 - Juris RdNr 15 und vom 7.10.2004 - [X.]/04 - BeckRS 2004, 25007513; Ratschow in [X.], [X.], 13. Aufl 2016, § 44 RdNr 13). Gleiches gilt für den Erlass von Haftungsbescheiden nach § 191 [X.] (vgl [X.] Urteile vom 24.10.1979 - [X.]/77 - [X.]E 129, 13 = Juris RdNr 10 mwN und vom 23.10.1985 - [X.] - [X.]E 145, 175 = Juris Rd[X.]7; [X.] in [X.], [X.], 3. Aufl 2014, § 191 RdNr 35 f). Im Beitragsrecht der gesetzlichen Unfallversicherung kann nichts anderes gelten, weshalb § 150 Abs 2 S 2 [X.]B VII insofern als Ausdruck eines allgemeinen das Beitragsrecht beherrschenden Grundsatzes anzusehen ist (ebenso Ricke in [X.], [X.]B VII, Stand 3/2013, § 150 RdNr 10). Denn immer dort, wo die Behörde die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten hat (hier: Auswahl zwischen mehreren Gesamtschuldnern und Festsetzung der [X.] "ganz oder zum Teil"), ist sie iS von § 39 Abs 1 S 1 [X.]B I ermächtigt, "nach ihrem Ermessen" zu handeln und hat gleichzeitig "ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten". Dass sich die Vorschrift ihrem Wortlaut nach nur auf die "Entscheidung über Sozialleistungen" erstreckt, ist bedeutungslos, weil die [X.] für das Sozialrecht generell gelten (vgl statt aller Mrozynski, [X.]B I, 5. Aufl 2014, § 39 RdNr 1).

Ob eine Behörde das Ermessen zutreffend ausgeübt hat, unterliegt im gerichtlichen Verfahren nur eingeschränkter Überprüfung. Eine Ermessensentscheidung ist als solche nur rechtswidrig und auf Anfechtung hin nur dann aufzuheben, wenn der Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung fehlerfreien Ermessens (§ 39 Abs 1 S 2 [X.]B I) verletzt ist (s auch § 54 Abs 2 S 2 [X.]G). Das Gericht darf nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltung setzen, sondern nur prüfen, ob ein Ermessensfehler vorliegt. Ermessensfehlerhaft ist es, wenn die Behörde ihrer Pflicht zur Ermessensbetätigung überhaupt nicht nachgekommen ist (sog Ermessensnichtgebrauch) oder wenn ihr bei Ausübung des Ermessens Rechtsfehler unterlaufen sind (sog Ermessensfehlgebrauch). Dies ist zu beurteilen anhand der in den angefochtenen Bescheiden angegebenen Ermessensgründe (§ 35 Abs 1 S 3 [X.]B X). Weder der Beitragsbescheid vom [X.] noch der Widerspruchsbescheid vom 10.12.2010 enthalten Ermessenserwägungen, sodass beide Verwaltungsakte wegen [X.] rechtswidrig und deshalb aufzuheben sind. Dass die Heranziehung des [X.] als Gesamtschuldner in voller Höhe für die von der Unternehmerin im Umlagejahr 2006 ebenfalls geschuldeten Beiträge die einzige rechtmäßige Entscheidung gewesen wäre (Ermessensschrumpfung auf Null), ist angesichts der Möglichkeit, unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände eine höhenmäßig differenzierte Haftungsquote festzusetzen, von vornherein auszuschließen.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 197a, 183 [X.]G iVm § 154 Abs 1 VwGO.

Meta

B 2 U 10/15 R

30.03.2017

Bundessozialgericht 2. Senat

Urteil

Sachgebiet: U

vorgehend SG Frankfurt (Oder), 4. März 2013, Az: S 18 U 4/11, Urteil

§ 54 Abs 2 S 2 SGG, § 35 Abs 1 S 3 SGB 1, § 39 Abs 1 S 1 SGB 1, § 39 Abs 1 S 2 SGB 1, § 130 Abs 1 S 1 SGB 7, § 130 Abs 2 S 1 SGB 7, § 130 Abs 2 S 2 SGB 7, § 121 Abs 1 SGB 7, § 136 Abs 3 Nr 1 SGB 7, § 150 Abs 1 S 1 SGB 7, § 150 Abs 2 S 2 SGB 7, § 152 Abs 1 S 1 SGB 7, § 168 Abs 1 SGB 7, § 421 S 1 BGB, Art 3 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 30.03.2017, Az. B 2 U 10/15 R (REWIS RS 2017, 13095)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 13095

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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