Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 27.07.2023, Az. 2 BvR 917/20

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2023, 5436

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Zur Gewährung der Möglichkeit von Telefonaten im Strafvollzug sowie zu den Grenzen einer Überwachung solcher Telefonate durch die JVA - hier: Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde aufgrund Änderungen von Gesetzeslage und Vollzugspraxis sowie infolge Verlegung des Beschwerdeführers in eine andere JVA - Anordnung der Auslagenerstattung aus Billigkeitsgründen


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Der [X.] hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Entscheidungsgründe

1

[X.]ie Verfassungsbeschwerde betrifft die Gewährung von monatlichen Telefongesprächen des zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilten, in einer [X.] Strafvollzugsanstalt inhaftierten Beschwerdeführers mit seiner Mutter.

I.

2

1. Am 21. August 2019 beantragte der zu diesem Zeitpunkt in der Justizvollzugsanstalt (…) inhaftierte Beschwerdeführer, einmal monatlich mit seiner Mutter telefonieren zu dürfen, da diese ihn nicht in der Justizvollzugsanstalt besuchen könne.

3

2. [X.]ie Justizvollzugsanstalt (…) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 17. September 2019 mit der Begründung ab, Ferngespräche könnten den Gefangenen nach dem seinerzeit geltenden Art. 35 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der Jugendstrafe ([X.] Strafvollzugsgesetz - Bay[X.]) in der Fassung vom 10. [X.]ezember 2007 (GVBl S. 866) nur in dringenden Fällen gestattet werden. Ein dringender Fall sei anzunehmen, wenn eine den Gefangenen betreffende Angelegenheit durch Absenden eines Schreibens oder ein Zuwarten bis zum nächsten Besuchstermin nur mit erheblicher Verzögerung erörtert und deshalb nicht mehr adäquat geregelt werden könne sowie die Verzögerung mit ernsten Nachteilen für den Gefangenen verbunden sei (unter Bezugnahme auf [X.]/Krä, [X.], 4. Aufl. 2017, Art. 35 Bay[X.] Rn. 1). Es bestehe kein Anspruch auf die Gestattung eines Telefonats, sondern lediglich auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Nach der gängigen Verwaltungspraxis werde Gefangenen, die keinen Besuch erhielten, ein Telefonat im Abstand von zwei Monaten genehmigt. Ein solches Telefonat sei dem Beschwerdeführer, obwohl er Besuch erhalte, für Gespräche mit seiner Mutter genehmigt worden. [X.]ie Überwachung der Unterhaltung sei bei Telefonaten mit einem erheblichen Personalaufwand verbunden. Es müsse berücksichtigt werden, dass die Kommunikationsart über Telefon spontane und schwer kontrollierbare Äußerungen ermögliche und daher die Gefahr berge, dass Kontakte gepflegt würden, die mit dem Behandlungsauftrag oder dem Sicherheitsinteresse der Justizvollzugsanstalt nicht zu vereinbaren seien. Es bestehe die Möglichkeit, dass eine andere Person als die angemeldete mit dem Gefangenen spreche oder das Gespräch an einen [X.] weitergereicht werde, so dass eine intensivere Überwachung erforderlich sei. Es sei auch verfassungsrechtlich zulässig, Gesichtspunkte des personellen Aufwands für die Gewährleistung der notwendigen Sicherheit zu berücksichtigen (unter Bezugnahme auf [X.] 98, 169 <210>). [X.]em [X.] des Beschwerdeführers und dem [X.], schädlichen Folgen des [X.] vorzubeugen, werde durch Besuche von Bekannten und seines Bruders ausreichend Genüge getan. Ferner hätten bereits Überstellungen in die Justizvollzugsanstalt (…) für Besuche seiner Mutter stattgefunden, und es bestehe ein guter und stabiler Kontakt zu ihr.

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3. Mit Schreiben vom 23. September 2019 beantragte der Beschwerdeführer eine gerichtliche Entscheidung mit der Begründung, sein Resozialisierungsrecht sowie § 3 Strafvollzugsgesetz ([X.]) seien verletzt. [X.]arauf erwiderte die Justizvollzugsanstalt am 17. Oktober 2019, dass der Landesgesetzgeber bewusst höhere Anforderungen als der damals zuständige Bundesgesetzgeber an die Gewährung von Telefonaten gestellt und diese auf Ausnahmen beschränkt habe.

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4. [X.]as [X.] wies am 18. Oktober 2019 darauf hin, dass das [X.] einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Telefongespräche bereits abgelehnt habe (unter Bezugnahme auf [X.], Beschluss des [X.] vom 11. Februar 1984 - 2 BvR 1608/83 -). [X.]er Beschwerdeführer entgegnete am 25. Oktober 2019, eine allgemein unzureichende Personalausstattung könne ihm nicht entgegengehalten werden. Seit August 2016 habe er nur insgesamt 320 Minuten mit seiner Mutter telefonieren können, dies ermögliche keine zureichende Kommunikation mit ihr als seiner nächsten Angehörigen und sei für die Sicherstellung eines menschenwürdig gestalteten Strafvollzugs nicht ausreichend. Am 12. November 2019 wies das [X.] darauf hin, dass der Beschwerdeführer zur Aufrechterhaltung des [X.] beantragen und Besuch empfangen könne. Art. 35 Bay[X.] alte Fassung sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. [X.]araufhin erwiderte der Beschwerdeführer, die Lebensverhältnisse hätten sich seit der Entscheidung des [X.]s aus dem [X.] geändert. [X.]er [X.] erfordere, die gewandelten Verhältnisse zu berücksichtigen. In jedem anderen Bundesland außer [X.] hätten Gefangene freien Zugang zu Telefonapparaten.

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5. Mit angegriffenem Beschluss vom 9. [X.]ezember 2019 wies das [X.] den Antrag als unbegründet zurück. [X.]er Beschluss des [X.] des [X.]s vom 11. Februar 1984 sei weiterhin aktuell, und es gebe kein verfassungsrechtliches Gebot, Gefangenen unbeschränkt Telefonkommunikation zu ermöglichen. Ein solches folge auch nicht aus der [X.] ([X.]) oder aus der Rechtsprechung des [X.] ([X.]) zur Bedeutung "neuer Medien", weil danach keine grundsätzliche Verpflichtung der Vertragsstaaten bestehe, den Zugang von Gefangenen zu diesen zu ermöglichen (unter Bezugnahme auf [X.], Urteile vom 19. Januar 2016, [X.], Nr. 17429/10, § 45, und vom 17. Januar 2017, [X.], Nr. 21575/08, § 55). Auch aus Gleichbehandlungsgründen folge nichts anderes, weil die Justizvollzugsanstalt dem Beschwerdeführer ebenso wie anderen Strafgefangenen, die keinen Besuch erhielten, alle zwei Monate ein Telefonat gewähre. [X.]ie ungleiche Gesetzeslage in anderen Bundesländern sei Folge des Föderalismus. [X.]ie gewährte [X.] sei in Verbindung mit der Möglichkeit des [X.] ausreichend, um die [X.] zu erreichen. [X.]em Bedürfnis der Strafgefangenen auf möglichst spontanen telefonischen Kontakt stehe das legitime Bedürfnis an der Überwachung der Telekommunikation entgegen, die mit einem hohen personellen Aufwand verbunden sei. [X.]er Gesetzgeber habe diese Abwägung zugunsten der Sicherheit entschieden. [X.]ie Überwachung von telefonischem Kontakt sei offenkundig aufwendiger als die Überwachung von Besuchen.

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6. Am 15. Januar 2020 erhob der Beschwerdeführer Rechtsbeschwerde. [X.]as [X.] habe das rechtliche Gehör verletzt, da er zu der Erkenntnis des [X.]s, dass [X.] Kontakte durch Besuchsüberstellungen aufrechterhalten werden könnten, im Einzelnen keine Stellung habe nehmen können. [X.]as Gericht habe ferner nicht aufgeklärt, mit welchem personellen Aufwand das Überwachen der Telefonate tatsächlich verbunden sei, sondern pauschal mangelnde personelle Ressourcen unterstellt. [X.]ie Überwachung von Telefonanrufen sei personell nicht aufwendiger als die Überwachung der Besuche, und es könne bei Besuchen ebenso wie bei Telefonaten zu spontanen und unkontrollierten Äußerungen kommen. Art. 6 GG und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG seien verletzt, da das [X.] fehlerhaft das [X.] der Justizvollzugsanstalt höher gewichtet habe als seine grundrechtlich geschützten Interessen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht beachtet habe. Mit Schreiben vom 21. Januar 2020 entgegnete die [X.], dass eine Zulassung von monatlichen Telefonaten auch unter Berücksichtigung des Resozialisierungsrechts nicht geboten sei.

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7. Mit angegriffenem Beschluss vom 30. April 2020 wies das [X.] Oberste Landesgericht die Rechtsbeschwerde als offensichtlich unbegründet zurück. [X.]ie Justizvollzugsanstalt habe ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt und Gesichtspunkte des personellen Aufwandes berücksichtigt, die auch den Gesetzgeber dazu bewogen hätten, Telefonate auf dringende Fälle zu beschränken (unter Bezugnahme auf [X.] [X.], [X.]). Unter Berücksichtigung des [X.] zwischen den im Rahmen der Resozialisierung wichtigen Außenkontakten einerseits und der bei Telefongesprächen andererseits bestehenden Gefahr, dass Kontakte gepflegt werden, die mit dem Behandlungsauftrag oder den Sicherheitsinteressen der Justizvollzugsanstalt oder der Allgemeinheit nicht zu vereinbaren seien, sei eine intensive Überwachung erforderlich. Es sei nicht zu beanstanden, wenn Telefonate deshalb nur in dringenden Fällen gestattet würden mit dem Argument, eine Kontrolle in größerem Umfang sei personell nicht zu leisten (unter Bezugnahme auf [X.], Beschluss vom 12. Mai 2009 - [X.]. 4-VII-08 -, juris, Rn. 56). [X.]er Gesetzgeber habe Gesichtspunkte des personellen Aufwandes einbeziehen sowie dem Schutz der Allgemeinheit und dem Sicherheitsaspekt den Vorrang einräumen dürfen. [X.]ie Justizvollzugsanstalt habe zutreffend darauf abgestellt, dass bereits drei Überstellungen in die Justizvollzugsanstalt (…) zum Zwecke des Besuchs der Mutter stattgefunden hätten, die Möglichkeit des Briefkontakts zur Mutter bestehe und der Beschwerdeführer auch Besuch von Bekannten erhalten habe. [X.]amit werde allgemein der Verkümmerung von Kommunikationsmöglichkeiten vorgebeugt.

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8. Am 9. Mai 2020 erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge. [X.]as Gericht habe die Auflistung der konkreten Gesprächs- und Besuchszeiten, das Ausbleiben von Besuchen seiner Mutter seit August 2016 (statt Mai 2017) sowie den Umstand, dass er keine unbegrenzte Telefonmöglichkeit beantragt habe, nicht beachtet. Ferner sei seine Rüge, das [X.] habe ihm keine Gelegenheit zur Stellungnahme zu der Möglichkeit von Besuchsüberstellungen gegeben, nicht berücksichtigt worden.

9. Mit Beschluss vom 14. Mai 2020 wies das [X.] Oberste Landesgericht die Anhörungsrüge als unbegründet zurück. [X.]as gesamte Vorbringen des Beschwerdeführers sei gewürdigt worden, und es begründe keine Gehörsverletzung, dass der Senat dessen Rechtsauffassung nicht gefolgt sei.

II.

1. Mit der am 29. Mai 2020 fristgemäß eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 1, Art. 2, Art. 3, Art. 6, Art. 19 Abs. 4, Art. 33 und Art. 103 GG.

Zur Begründung trägt er vor, dass ihm eine ausreichende Kommunikationsmöglichkeit mit seiner Mutter verwehrt werde, obwohl eine solche auch ohne "dringenden Fall" für Inhaftierte mit einem vergleichbaren Strafmaß in den anderen Bundesländern bestehe. Ihm würden deshalb "signifikant schlechtere Resozialisierungsmöglichkeiten" gewährt. Zudem werde ihm keine ausreichende Telefonzeit mit seiner Mutter, die ihm einen für seine Resozialisierung maßgeblichen stabilen [X.]n Empfangsraum bieten könne, ermöglicht, so dass das Vollzugsziel der Wiedereingliederung nicht erreicht werden könne. [X.]as Sicherheitsinteresse der Justizvollzugsanstalt dürfe den [X.] nicht "unterhöhlen". Fehlende personelle Ressourcen dürften nicht unterstellt werden, denn in allen anderen Bundesländern seien ausreichende Ressourcen vorhanden, um den Gefangenen Telefonate mit ihren Angehörigen zu ermöglichen.

2. [X.]as [X.] Staatsministerium der Justiz hat mit Schreiben vom 9. Februar 2021 Stellung genommen. Im Wesentlichen hat es vorgetragen, dass Gefangene der Justizvollzugsanstalt (…) als Ausgleich für pandemiebedingte Einschränkungen des Besuchsrechts seit März 2020 die Möglichkeit erhielten, mehrere Telefonate monatlich mit einer Gesamtdauer von mindestens 40 Minuten zu führen. [X.]er Beschwerdeführer habe zwischen September 2019 und Januar 2021 elf Telefonate mit seiner Mutter sowie 16 weitere mit anderen Angehörigen und Bekannten geführt. [X.]ie angegriffenen Entscheidungen ließen keinen Auslegungsfehler erkennen, der vom [X.] im Wege der [X.] überprüft werden könne. Art. 35 Abs. 1 Satz 1 Bay[X.] alte Fassung begegne weder im Hinblick auf die bestehende verfassungsgerichtliche Rechtsprechung noch hinsichtlich der Priorisierung von Sicherheitsinteressen gegenüber dem verfassungsrechtlich verbürgten [X.] des Beschwerdeführers verfassungsrechtlichen Bedenken. Auch im konkreten Einzelfall verletze die Anwendung des Art. 35 Abs. 1 Satz 1 Bay[X.] alte Fassung keine Grundrechte des Beschwerdeführers, weil weder eine willkürliche Verneinung eines "dringenden Falls" noch eine fehlerhafte Ermessensausübung der Justizvollzugsanstalt (…) vorgelegen habe. Inwieweit die vom Beschwerdeführer behauptete Schlechterstellung im Vergleich zu Gefangenen in anderen Bundesländern zutreffe, könne dahinstehen. [X.]enn die Existenz unterschiedlicher Regelungen sei dem föderalen System immanent und könne keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG begründen.

3. [X.]ie Länder [X.], [X.], [X.], [X.], [X.], [X.], [X.], [X.], [X.], [X.] und [X.] haben Stellungnahmen abgegeben. Als sachkundige [X.]ritte gemäß § 27a [X.]G haben die Kriminologische Zentralstelle, die [X.] der Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter im Justizvollzug e.V., der [X.], die [X.], die [X.], das [X.] zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht sowie das Kriminologische Forschungsinstitut [X.] e.V. Stellung genommen.

4. Mit Schreiben vom 24. Oktober 2021 hat der Beschwerdeführer seine Verlegung in die Justizvollzugsanstalt (…) ([X.]) mitgeteilt. Am 10. Januar 2022 hat er weiter ausgeführt, dass entgegen der [X.]arstellung der [X.] Behörden, die impliziere, dass in den Justizvollzugsanstalten in [X.] seit März 2020 eine "gewisse freie Zugänglichkeit" zu Telekommunikationsmedien bestehe, weiterhin jedes Telefonat gesondert beantragt und die Gefangenen von einem Bediensteten zu einem [X.]ienstapparat gebracht werden müssten. [X.] und [X.] gebe es in [X.] nicht. [X.]er hohe Personalaufwand, den die [X.] Gesetzgebung zur Ablehnung einer Liberalisierung der Gefangenentelefonie anführe, entstehe erst aufgrund der restriktiven Handhabung, jedes Telefonat von Bediensteten überwachen zu lassen. Es gebe zahlreiche technische Möglichkeiten, welche die Sicherheitsinteressen effizienter gewährleisten könnten als die personalintensive Überwachung jedes Telefonats eines Gefangenen. Auch die Einrichtung von [X.]n durch einen externen Anbieter könne den Personalaufwand signifikant reduzieren, ohne die Gefahr für die Sicherheit der Anstalt zu erhöhen.

5. Am 1. November 2022 ist das Gesetz zur Änderung des [X.]n Strafvollzugsgesetzes und weiterer Rechtsvorschriften vom 21. Oktober 2022 in [X.] getreten (vgl. § 1 und § 4 des Gesetzes zur Änderung des [X.]n Strafvollzugsgesetzes und weiterer Rechtsvorschriften vom 21. Oktober 2022, [X.]). Art. 35 Abs. 1 Satz 1 Bay[X.] ist dabei wie folgt neu gefasst worden:

Gefangenen kann nach pflichtgemäßem Ermessen, insbesondere unter Berücksichtigung der Sicherheit und Ordnung, der räumlichen, personellen und organisatorischen Verhältnisse der Anstalt sowie der Belange des Opferschutzes, gestattet werden, Telefongespräche zu führen.

6. Am 25. [X.]ezember 2022 hat der Beschwerdeführer auf Anfrage des Gerichts mitgeteilt, dass er trotz der Gesetzesänderung an seiner Verfassungsbeschwerde festhalten wolle. Auch künftig könnten "dieselben restriktiven [X.]" wiedereingeführt werden, wie sie vor der Gesetzesänderung gegolten hätten. Soweit das [X.] nicht die Mindestanforderungen an die Gefangenentelefonie klarstelle und insbesondere auf die Überwachung eines jeden Telefonats eines jeden Gefangenen durch hierfür abgestellte Bedienstete eingehe, müsste ein umfangreiches Verfassungsbeschwerdeverfahren erneut durchgeführt werden. Mit Schreiben vom 16. April 2023 hat der Beschwerdeführer über seine Verlegung in die Justizvollzugsanstalt (…) ([X.]) informiert.

7. [X.]em [X.] haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.

III.

[X.]ie Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Es liegen keine Annahmegründe gemäß § 93a Abs. 2 [X.]G vor. [X.]ie Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.

1. Soweit der Beschwerdeführer erstmals im Verfassungsbeschwerdeverfahren rügt, dass in den [X.] Justizvollzugsanstalten jedes Telefonat eines Gefangenen unmittelbar von einem dafür abgestellten Bediensteten überwacht werde, wahrt die Verfassungsbeschwerde nicht den Grundsatz der Subsidiarität.

a) [X.]er aus § 90 Abs. 2 Satz 1 [X.]G abgeleitete Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde fordert, dass ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. [X.] 68, 384 <388 f.>). [X.]eswegen ist dem Subsidiaritätsgrundsatz nicht genügt, wenn im Instanzenzug ein Mangel nicht nachgeprüft werden konnte, weil er nicht oder nicht in ordnungsgemäßer Form gerügt worden ist (vgl. [X.] 16, 124 <127>; 54, 53 <65>; 74, 102 <114>; 140, 229 <233 Rn. 10>).

b) So liegt der Fall hier. [X.]er Beschwerdeführer hat beantragt, monatlich mit seiner Mutter telefonieren zu dürfen. [X.]a die Justizvollzugsanstalt die Ablehnung seines Antrags maßgeblich damit begründet hat, dass die dafür aus ihrer Sicht zwingend notwendige Überwachung nicht geleistet werden könne, hätte der Beschwerdeführer bereits bei der Justizvollzugsanstalt (…) beantragen müssen, ohne Überwachung telefonieren zu dürfen. Im Falle einer Ablehnung durch die Vollzugsbehörde hätte er die verdachtsunabhängige lückenlose Überwachungspraxis der Justizvollzugsanstalt (…) bei Telefonaten von Gefangenen bereits im fachgerichtlichen Verfahren rügen können und müssen. In diesem Fall hätten sich die Fachgerichte damit auseinandersetzen müssen, dass bereits die einfachrechtliche Landesregelung des Art. 35 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 30 Abs. 2 Satz 1 Bay[X.] eine Überwachung von Telefongesprächen nur vorsieht, soweit dies im Einzelfall aus Gründen der Behandlung oder der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt notwendig ist (vgl. BayObLG, Beschluss vom 10. [X.]ezember 2020 - 203 [X.] 462/20 -, juris, Rn. 6; [X.], in: [X.] Strafvollzugsrecht [X.], Art. 35 Bay[X.] Rn. 3 ; [X.]/[X.], in: [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 7. Aufl. 2020, [X.]. [X.], Rn. 15). [X.]ie Fachgerichte hätten dementsprechend zu prüfen gehabt, ob im auf den Beschwerdeführer bezogenen Einzelfall konkrete Anhaltspunkte für einen Missbrauch, der eine Gefährdung des Behandlungszwecks oder der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt mit sich brächte, vorliegen (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 31. August 1993 - 2 BvR 1479/93 -, juris, Rn. 12; sowie vom 20. Juni 1996 - 2 BvR 634/96 -, juris, Rn. 8; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 15. November 2022 - 2 BvR 1139/22 -, Rn. 23). Allein der Umstand, dass ein möglicher Missbrauch eines Freiheitsrechts nicht völlig auszuschließen ist, reicht bei einer den Grundrechten Rechnung tragenden Auslegung einer Norm, welche die akustische Überwachung eines Gesprächs eines Gefangenen zulässt, grundsätzlich nicht aus, um dem Gefangenen Beschränkungen aufzuerlegen (vgl. zu § 119 Abs. 3 StPO; [X.] 35, 5 <10>; vgl. auch BayObLG, Beschluss vom 10. [X.]ezember 2020 - 203 [X.] 462/20 -, juris, Rn. 8 f.).

c) Vor diesem Hintergrund ist darauf hinzuweisen, dass eine verdachtsunabhängige Überwachung sämtlicher Telefongespräche aller Gefangenen vor dem Hintergrund grundrechtlicher Gewährleistungen erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt ist. Insbesondere Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG garantiert jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung zur Entwicklung seiner Individualität (vgl. bereits [X.] 35, 202 <220>; 79, 256 <268>; 146, 1 <46 Rn. 102>) und erkennt einen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung an (vgl. [X.] 80, 367 <373>; 109, 279 <313>). So stellt es einen erheblichen Eingriff in dieses allgemeine Persönlichkeitsrecht dar, wenn inhaftierte Personen verdachtsunabhängig ausschließlich überwachte Telefongespräche führen können (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 20. Juni 1996 - 2 BvR 634/96 -, juris, Rn. 8; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 15. November 2022 - 2 BvR 1139/22 -, Rn. 23; siehe auch [X.], Resozialisierung und Außenkontakte im geschlossenen Vollzug, 2019, S. 235).

2. Im Übrigen fehlt der Verfassungsbeschwerde hinsichtlich des Begehrens des Beschwerdeführers für ein monatliches Telefonat mit seiner Mutter das Rechtsschutzbedürfnis.

a) [X.]ie Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass im Zeitpunkt der Entscheidung des [X.]s ein Rechtsschutzbedürfnis für die Aufhebung des angegriffenen Hoheitsaktes oder - in bestimmten Fällen - jedenfalls für die Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit besteht (vgl. [X.] 33, 247 <253>; 50, 244 <247 f.>; stRspr). Hat sich wie hier das mit der Verfassungsbeschwerde ursprünglich verfolgte Begehren erledigt, so besteht ein Rechtsschutzbedürfnis nur dann, wenn anderenfalls die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders schwer wiegt; ferner besteht das Rechtsschutzbedürfnis fort, wenn eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder wenn die gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer weiterhin beeinträchtigt (vgl. [X.] 33, 247 <257 f.>; 50, 244 <247>; 81, 138 <140>; 91, 125 <133>; 99, 129 <138>). Ein bloßes [X.] kann für die Fortdauer des [X.] nicht ausreichend sein (vgl. [X.] 50, 244 <248>; 75, 318 <325>).

b) An der Aufhebung der unmittelbar angegriffenen Beschlüsse besteht kein Rechtsschutzbedürfnis mehr.

aa) Zum einen gibt es nach dem vom Beschwerdeführer nicht in Frage gestellten Vorbringen des [X.]n Staatsministeriums der Justiz in der Justizvollzugsanstalt (…) seit März 2020 die verwaltungsrechtliche Praxis, jedem Strafgefangenen auch ohne die Angabe von Gründen mehrere Telefonate monatlich mit einer Gesamtdauer von mindestens 40 Minuten zu gewähren. [X.]amit hat der Beschwerdeführer das Ziel seines ursprünglichen Antrags bei der Justizvollzugsanstalt (…), monatlich mit seiner Mutter telefonieren zu können, erreicht.

bb) Ferner ist zu berücksichtigen, dass sich der Beschwerdeführer gegen die gerichtlich bestätigte Versagung eines monatlichen Telefonats mit seiner Mutter durch die Justizvollzugsanstalt (…) wendet. [X.]iese Beschwer ist indes durch die Verlegung des Beschwerdeführers in die Justizvollzugsanstalt (…) im Jahr 2021 entfallen. [X.]ie Gewährung von Telefonaten setzt eine Ermessensentscheidung der jeweiligen Justizvollzugsanstalt voraus.

cc) Überdies ist nach der Neuregelung die Gestattung von Telefonaten nicht mehr vom Vorliegen eines "dringenden Falles" abhängig (vgl. Begründung zu dem Gesetzentwurf der Staatsregierung zur Änderung des [X.]n Strafvollzugsgesetzes und weiterer Rechtsvorschriften, [X.] [X.], [X.]). Folglich ist nunmehr die Beantragung und - nach ermessensfehlerfreier Entscheidung der Justizvollzugsanstalt - Gewährung von monatlichen Telefonaten auch allein zur Aufrechterhaltung [X.]r Kontakte möglich.

c) Ein Rechtsschutzbedürfnis für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte besteht nicht deshalb fort, weil ansonsten die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint (vgl. [X.] 81, 138 <140>; 91, 125 <133>; 97, 298 <308>; 119, 309 <317>). [X.]er Verfassungsbeschwerde kommt grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung nicht zu (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a [X.]G), da es sich bei Art. 35 Abs. 1 Satz 1 Bay[X.] alte Fassung um außer [X.] getretenes Recht handelt. Für das nicht mehr geltende Recht besteht regelmäßig kein über den Einzelfall hinausgehendes Interesse, seine Verfassungsmäßigkeit auch noch nach seinem Außerkrafttreten zu klären (vgl. [X.] 91, 186 <200>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 1. März 2010 - 1 BvR 2380/09 -, Rn. 6; Beschluss der [X.] des [X.] vom 4. November 2010 - 1 BvR 661/06 -, Rn. 4; Beschluss der [X.] des [X.] vom 21. August 2018 - 1 BvR 2674/17 -, Rn. 4; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 10. Mai 2023 - 2 BvR 390/21 -, Rn. 27).

Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers sind auch keine Anhaltspunkte für eine Wiedereinführung der alten Rechtslage beziehungsweise einer Handhabung der neuen Vorschrift nach der alten Rechtslage ersichtlich. Insbesondere ergibt sich aus den Ausführungen im Gesetzgebungsverfahren, dass die Notwendigkeit einer deutlichen und dauerhaften Ausweitung der [X.] erkannt wurde (vgl. Begründung zum Gesetzentwurf der [X.]n Staatsregierung zur Änderung des [X.]n Strafvollzugsgesetzes und weiterer Rechtsvorschriften, [X.] [X.], [X.]).

IV.

Trotz der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung entspricht es allerdings der Billigkeit, die Erstattung der Auslagen des Beschwerdeführers im Verfassungsbeschwerdeverfahren nach § 34a Abs. 3 [X.]G anzuordnen.

Für die Entscheidung nach § 34a Abs. 3 [X.]G kommt dem Grund, der zur Erledigung der Verfassungsbeschwerde geführt hat, wesentliche Bedeutung zu. Beseitigt die öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Hoheitsakt, so kann, falls keine anderweitigen Gründe ersichtlich sind, davon ausgegangen werden, dass sie das Begehren des Beschwerdeführers selbst für berechtigt erachtet hat (vgl. [X.] 85, 109 <114 ff.>; 87, 394 <397 f.>; 91, 146 <147>; 133, 37 <38 Rn. 2>). In einem solchen Fall ist es billig, die öffentliche Hand an ihrer Auffassung festzuhalten und dem Beschwerdeführer die Erstattung seiner Auslagen in gleicher Weise zuzubilligen, wie wenn seiner Verfassungsbeschwerde stattgegeben worden wäre.

Nach diesen Grundsätzen entspricht es der Billigkeit, dem Beschwerdeführer seine Auslagen zu erstatten. [X.]er [X.] Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur Änderung des [X.]n Strafvollzugsgesetzes und weiterer Rechtsvorschriften vom 21. Oktober 2022 ([X.]), das am 1. November 2022 in [X.] getreten ist, die Möglichkeit zur Gestattung von Telefongesprächen nach pflichtgemäßem Ermessen geschaffen. Nach der Neuregelung des Art. 35 Abs. 1 Satz 1 Bay[X.] ist die Gestattung von Telefonaten für Gefangene nicht mehr vom Vorliegen eines "dringenden Falles" abhängig (vgl. Begründung zu dem Gesetzentwurf der [X.]n Staatsregierung zur Änderung des [X.]n Strafvollzugsgesetzes und weiterer Rechtsvorschriften, [X.] [X.], [X.]). [X.]amit hat der Landesgesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass er das Begehren des Beschwerdeführers, nicht nur in dringenden Fällen, sondern monatlich mit seiner Mutter telefonieren zu dürfen, dem Grunde nach für berechtigt erachtet hat. Hinzu kommt, dass einzelne Abgeordnete im Rahmen der parlamentarischen [X.]ebatte ausdrücklich Bezug auf anhängige Verfassungsbeschwerden sowie eine entsprechende Petition an das [X.] Staatsministerium der Justiz genommen haben, die Inhaftierte aus der Justizvollzugsanstalt (…) initiiert haben (vgl. [X.] zu Tagesordnungspunkt 1b vom 22. Juni 2022, [X.] [X.], Erste Lesung, [X.], 5, 9, 11). Besondere Anhaltspunkte, die trotz der Gesetzesänderung durch den [X.] Gesetzgeber gegen die Billigkeit der Auslagenerstattung sprechen, sind nicht ersichtlich.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.]G abgesehen.

[X.]iese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 917/20

27.07.2023

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Bayerisches Oberstes Landesgericht, 30. April 2020, Az: 204 StObWs 47/20, Beschluss

Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, § 34a Abs 3 BVerfGG, § 90 BVerfGG, Art 30 Abs 2 S 1 StVollzG BY, Art 35 Abs 1 S 1 StVollzG BY, Art 35 Abs 1 S 2 StVollzG BY

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 27.07.2023, Az. 2 BvR 917/20 (REWIS RS 2023, 5436)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 5436

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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