Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 04.10.2017, Az. 2 BvR 496/17

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2017, 4456

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit im Verwaltungsprozess (Art 3 Abs 1 GG iVm Art 19 Abs 4 GG) durch Berücksichtigung von Änderungen in der Beurteilung der Erfolgsaussichten nach Bewilligungsreife eines PKH-Antrags - hier: Aufstockungsklage eines Asylsuchenden - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 31. Januar 2017 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes.

Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das [X.] zurückverwiesen.

Das [X.] hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im [X.] zu erstatten.

Der Wert der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 Euro (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Das Verfahren betrifft die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Aufstockungsklage eines [X.] Asylbewerbers durch das Schleswig-Hollsteinische Verwaltungsgericht.

2

1. Der am 1. Februar 1976 geborene Beschwerdeführer ist [X.] Staatsangehöriger, tscherkessischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Er reiste am 17. September 2015 in die [X.] ein und stellte hier am 12. April 2016 einen Asylantrag, den er auf die Zuerkennung des internationalen Schutzes beschränkte. An demselben Tag fand auch die persönliche Anhörung statt.

3

Das [X.] erkannte mit Bescheid vom 24. Juni 2016 den subsidiären Schutzstatus zu und lehnte den Antrag im Übrigen ab. Der Beschwerdeführer sei unverfolgt ausgereist, Gründe für die generelle Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für unverfolgt ausgereiste [X.] lägen nicht vor.

4

2. Der Beschwerdeführer erhob unter dem 12. Juli 2016 Klage, gerichtet auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, und beantragte die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Er begründete die Klage mit Schreiben vom 12. August 2016 unter umfangreicher Auseinandersetzung mit der Auskunftslage, der Praxis des [X.]s und der Rechtsprechung zahlreicher Verwaltungsgerichte. Das [X.] sei nicht mehr in der Lage gewesen, regelmäßige Lageberichte zu erstellen, Anhaltspunkte für eine Verbesserung der Menschenrechtslage in [X.] bestünden jedenfalls nicht.

5

Am 22. November 2016 gab die zuständige Kammer des [X.] einer auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichteten Klage eines unverfolgt ausgereisten [X.]s mit Gerichtsbescheid statt.

6

Mit Beschluss vom 31. Januar 2017 - zugegangen am 2. Februar 2017 - lehnte das Verwaltungsgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab. Der 3. Senat des [X.] habe die generelle Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit Urteil vom 23. November 2016 abgelehnt; dem schließe sich die Kammer an.

7

3. Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Gerichtsbescheid vom 9. Februar 2017 ab; der Beschwerdeführer beantragte am 27. Februar 2017 die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

8

4. Der Beschwerdeführer hat am 2. März 2017 Verfassungsbeschwerde gegen den [X.] vom 31. Januar 2017 erhoben, mit der er eine Verletzung der [X.] rügt. Maßgeblicher [X.]punkt der hinreichenden Erfolgsaussichten sei jener der [X.] über den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Zu diesem [X.]punkt habe die entscheidende Kammer jedoch selbst noch entsprechenden Klagen stattgegeben, so dass hinreichende Erfolgsaussichten nicht hätten verneint werden dürfen. Im Übrigen handele es sich weiterhin um eine ungeklärte Frage, da die überwiegende erstinstanzliche Rechtsprechung die Flüchtlingseigenschaft nach wie vor [X.]. Allein die Klärung durch das [X.] reiche nicht aus.

9

5. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem [X.] vorgelegen. Das [X.], [X.], Verbraucherschutz und Gleichstellung hatte für das [X.] Gelegenheit zur Äußerung.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das [X.] bereits geklärt (vgl. [X.] 81, 347 <356 f.>). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist in einer die Entscheidungskompetenz der Kammer eröffnenden Weise offensichtlich begründet. Der Beschluss des [X.] verletzt den Beschwerdeführer in der durch Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG grundrechtlich geschützten [X.].

1. Das Recht auf effektiven und gleichen Rechtsschutz, das für die öffentlich-rechtliche Gerichtsbarkeit aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG abgeleitet wird, gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von [X.] und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. [X.] 78, 104 <117 f.>; 81, 347 <357> m.w.N.). Es ist dabei verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint.

Die Auslegung und Anwendung des § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO (hier in Verbindung mit § 166 [X.]) wie auch des jeweils anzuwendenden einfachen Rechts obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten, die dabei den - verfassungsrechtlich gebotenen - Zweck der Prozesskostenhilfe zu beachten haben. Das [X.] kann nur eingreifen, wenn Verfassungsrecht verletzt ist, insbesondere wenn die angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der durch das Grundgesetz verbürgten [X.] beruhen.

Die Fachgerichte überschreiten ihren Entscheidungsspielraum, wenn sie die Anforderungen an das Vorliegen einer Erfolgsaussicht überspannen und dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, deutlich verfehlen (vgl. [X.] 81, 347 <357 f.>). Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (vgl. [X.] 81, 347 <357>; ausführlich [X.]/[X.], in: [X.]/[X.], Linien der Rechtsprechung des [X.]s Band 2, 241 <258 ff.>). Prozesskostenhilfe ist allerdings nicht bereits zu gewähren, wenn die entscheidungserhebliche Frage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als "schwierig" erscheint. Ein Fachgericht, das § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass auch schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen im Prozesskostenhilfeverfahren "durchentschieden" werden können, verkennt jedoch die Bedeutung der verfassungsrechtlich gewährleisteten [X.] (vgl. [X.] 81, 347 <359>). Denn dadurch würde dem unbemittelten Beteiligten im Gegensatz zu dem bemittelten die Möglichkeit genommen, seinen Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren darzustellen und von dort aus in die höhere Instanz zu bringen (vgl. [X.], 279 <282>; 8, 213 <217>).

Aus diesem verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt der [X.] folgt, dass Änderungen in der Beurteilung der Erfolgsaussichten, die nach der [X.] des [X.]s eintreten, grundsätzlich nicht mehr zu Lasten des [X.] zu berücksichtigen sind (vgl. in jeweils unterschiedlichen Konstellationen [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 26. Juni 2003 - 1 BvR 1152/02 -, NJW 2003, S. 3190 <3191>; Beschluss der [X.] des [X.] vom 13. Juli 2005 - 1 BvR 175/05 -, NJW 2005, S. 3489; [X.]K 8, 213 <216 ff.>; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 8. Juli 2016 - 2 BvR 2231/13 -, NJW-RR 2016, S. 1264 <1266>; Linke, NVwZ 2003, S. 421 <423 ff.>). Denn der vernünftig abwägende Rechtsschutzsuchende kann die Entscheidung über die Klageerhebung - jedenfalls in einem Rechtsgebiet wie dem Asylrecht, in dem ein isolierter [X.] vielfach als unzulässig angesehen wird (vgl. kritisch und mit weiteren Nachweisen [X.], in: [X.]/[X.], [X.], 4. Aufl. 2014, § 166 Rn. 29) - nur innerhalb des Laufs der Rechtsbehelfsfristen treffen. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht zwischenzeitlich auch die Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte, wobei es verfassungsrechtlich unerheblich ist, ob für die Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussichten generell auf den [X.]punkt der [X.] des [X.]s abgestellt wird (vgl. [X.], Beschluss vom 7. April 2017 - 7 ZB 16.498 -, juris, Rn. 1; [X.], Beschluss vom 29. Juni 2012 - 12 PA 69/12 -, juris, Rn. 2) oder jedenfalls dem entscheidenden Gericht zuzurechnende Verzögerungen bei der Entscheidung über den [X.] nicht zu Lasten des [X.] berücksichtigt werden (vgl. [X.], Beschluss vom 9. März 2012 - 18 E 1326/11 -, juris, Rn. 19; [X.], Beschluss vom 2. September 2014 - 2 PA 93/14 -, juris, Rn. 3; jeweils zu der Frage des zwischenzeitlich rechtskräftigen Abschlusses des Hauptsacheverfahrens; a.A. und auf den [X.]punkt der gerichtlichen Entscheidung abstellend noch [X.], Beschluss vom 27. Juli 2004 - 2 P[X.]76/04 -, [X.], S. 34).

2. Diesen Maßstäben wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht. Im [X.]punkt der Klageerhebung im Juli 2016 war die einfach-rechtliche Ausgangslage jedenfalls offen, die oberverwaltungsgerichtlichen Entscheidungen gaben entsprechenden Klagen wohl überwiegend statt ([X.], Beschluss vom 27. Januar 2014 - 3 A 917/13.Z.A. -; [X.], Beschluss vom 29. Oktober 2013 - [X.] S 2046/13 -). Dies entsprach auch der Entscheidungspraxis der mit der Sache befassten Kammer des [X.]. Der Beschwerdeführer hatte in diesem [X.]punkt auch alles ihm Mögliche getan und im Laufe der [X.] mehrfach wegen des Verfahrensstands nachgefragt. Die Klärung der entscheidungserheblichen Frage zu Ungunsten des Beschwerdeführers durch die Entscheidung des [X.] vom 23. November 2016 rechtfertigte mithin nicht die Versagung von Prozesskostenhilfe.

3. Der Beschluss des [X.] ist aufzuheben und die Sache dorthin zurückzuverweisen, da nicht auszuschließen ist, dass das Verwaltungsgericht bei Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Maßgaben zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

Das [X.] hat dem Beschwerdeführer gemäß § 34a Abs. 2 [X.]G die notwendigen Auslagen zu erstatten. Die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.

Meta

2 BvR 496/17

04.10.2017

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, 31. Januar 2017, Az: 12 A 262/16, Beschluss

Art 3 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 166 VwGO, § 114 Abs 1 S 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 04.10.2017, Az. 2 BvR 496/17 (REWIS RS 2017, 4456)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 4456

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