Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 21.02.2011, Az. 2 BvR 1392/10

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2011, 9284

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung der Rechtsschutzgarantie (Art 19 Abs 4 GG) durch Versagung von Eilrechtsschutz in aufenthaltsrechtlichem Verfahren - unzureichende Würdigung der Lebensumstände des Betroffenen im Hinblick auf Garantie des Art 8 Abs 1 MRK bzgl der Achtung des Privatlebens - Gegenstandswertfestsetzung auf 4000 € (eA-Verfahren) bzw 8000 € (Verfassungsbeschwerdeverfahren)


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 9. April 2010 - 13 [X.]/10 - und der Beschluss des [X.]Oberverwaltungsgerichts vom 20. Mai 2010 - 11 [X.] - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

...

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das [X.] auf 8.000,- € (in Worten: achttausend Euro) und für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 4.000,- € (in Worten: viertausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach Ablehnung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis.

2

1. Der 19jährige Beschwerdeführer ist [X.] und [X.] Staatsangehöriger. Er wurde im [X.] geboren und lebt zusammen mit seiner Mutter und vier Geschwistern in häuslicher Gemeinschaft in [X.].. Seine Mutter, [X.] Staatsangehörige, sowie drei Geschwister besitzen unbefristete Aufenthaltserlaubnisse, sein älterer Bruder die [X.] Staatsbürgerschaft. Der Vater des Beschwerdeführers stammt aus der [X.]; er wurde wegen [X.] des Wehrdienstes aus der [X.] ausgebürgert; während des Ausgangsverfahrens befand er sich in der [X.] in [X.]aft. Bis zum Eintritt der Volljährigkeit im September 2009 besaß der Beschwerdeführer eine von seiner Mutter abgeleitete Aufenthaltserlaubnis.

3

Der Beschwerdeführer ist bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Er verließ 2007 die [X.]auptschule mit einem Abgangszeugnis, das durchweg die Noten "mangelhaft" und "ungenügend" ausweist. Anschließend nahm er an einem Berufsvorbereitungsjahr teil und besuchte verschiedene Bildungs- und Integrationsmaßnahmen. Bis Ende Februar 2010 bezog er Leistungen nach dem SGB II.

4

2. Die Ausländerbehörde lehnte den Antrag des Beschwerdeführers auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis mit Bescheid vom 2. März 2010 ab und drohte ihm die Abschiebung in die [X.] an. Der Aufenthaltserlaubnis stehe nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 [X.] die fehlende Lebensunterhaltssicherung entgegen; ein Abweichen von der Regelerteilungsvoraussetzung sei wegen fehlender Integration in [X.] und geringer Motivation, den Lebensunterhalt dauerhaft aus eigenen Mitteln sicherzustellen, nicht möglich. Der Beschwerdeführer könne sich auch nicht mit Erfolg auf § 25 Abs. 5 [X.] in Verbindung mit Art. 8 [X.] berufen, da er nicht faktisch zum Inländer geworden sei. Seine fehlende Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse sei so stark, dass es auf die Möglichkeit der Integration in der [X.] nur noch untergeordnet ankomme. Dabei dürfe nicht unbeachtet bleiben, dass sein vollziehbar ausreisepflichtiger Vater mit ihm in die [X.] umsiedeln könne; sein Vater habe zudem Freunde in der [X.], die den Beschwerdeführer dort unterstützen könnten. Das Verlassen des [X.]s würde für den Beschwerdeführer auch keine außergewöhnliche [X.]ärte im Sinne von § 25 Abs. 4 Satz 2 [X.] bedeuten.

5

3. Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid Klage, über die noch nicht entschieden worden ist. Gleichzeitig beantragte er die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Die Ausländerbehörde habe sich nur unzureichend mit der Reichweite des Art. 8 [X.], den Integrationsleistungen des Beschwerdeführers und den tatsächlichen Folgen einer Ausreise auseinandergesetzt. Der Beschwerdeführer sei in [X.] geboren, habe hier sein gesamtes bisheriges Leben verbracht und verfüge über gute Deutschkenntnisse. Trotz des formalen Eintritts der Volljährigkeit sei er auf die [X.]ilfe und Zuwendung seiner Familie angewiesen. Mit der [X.] verbinde ihn nur die Staatsangehörigkeit. Er sei noch nie dort gewesen, verfüge über keine [X.] Bindungen dorthin und habe dort weder Verwandte noch Bekannte; die [X.] beherrsche er nicht. Seine Familie sei nicht in der Lage, ihn in der [X.] finanziell zu unterstützen. Der Beschwerdeführer könne auch nicht gemeinsam mit seinem Vater zurückkehren, da dieser zum einen ausgebürgert worden sei, zum anderen frühestens im Oktober 2010 aus der [X.]aft entlassen werde. Der Verweis auf Freunde des [X.] sei rein spekulativ. Insgesamt sei nicht nachvollziehbar, wie es dem Beschwerdeführer möglich sein solle, sich in der [X.] zu (re-)integrieren.

6

4. Mit Beschluss vom 9. April 2010 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag ab, da sich der angefochtene Bescheid bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig erweise. Das Gericht folgte der Begründung des Bescheids. Ergänzend wies es darauf hin, dass der Beschwerdeführer trotz der Ausbürgerung seines [X.] [X.] Staatsangehöriger bleibe, dass es ihm zumutbar sei, die [X.] zu erlernen, und dass es seinen in [X.] lebenden Familienangehörigen freistehe, mit ihm in die [X.] zurückzukehren.

7

5. Mit seiner Beschwerde gegen diese Entscheidung machte der Beschwerdeführer geltend, das Verwaltungsgericht habe den zugrundeliegenden Sachverhalt in tatsächlicher und rechtlicher [X.]insicht unzutreffend gewürdigt und sich mit seinen familiären Bindungen in [X.] nur unzureichend auseinandergesetzt. Soweit es davon ausgegangen sei, Freunde des [X.] könnten den Beschwerdeführer in der [X.] unterstützen, hätte es zwingend weiterer Sachverhaltsklärung bedurft. Offen geblieben sei zudem, wie der Beschwerdeführer in der [X.] bis zum Erlernen der [X.] in der [X.] kommunizieren solle.

8

6. Mit Beschluss vom 20. Mai 2010 wies das Oberverwaltungsgericht die Beschwerde zurück: Das Verwaltungsgericht sei zu Recht davon ausgegangen, dass die Klage voraussichtlich keinen Erfolg haben werde, weil der Beschwerdeführer die Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 [X.] nicht erfülle und keinen Anspruch nach § 25 Abs. 4 Satz 2 oder Abs. 5 [X.] habe. Eine im Sinne von Art. 8 Abs. 1 [X.] hinreichende Integration des Beschwerdeführers könne nicht festgestellt werden, da ihm in keiner Weise eine berufliche Verwurzelung gelungen sei. Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 [X.] dürfte auch unter dem Aspekt des Familienlebens nicht betroffen sein, da gesundheitliche Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers nicht ersichtlich seien und er nicht näher dargelegt habe, inwiefern er auf die [X.]ilfe seiner Mutter und seines älteren Bruders angewiesen sei. Jedenfalls sei der Eingriff nach Art. 8 Abs. 2 [X.] gerechtfertigt. Mangels beruflicher Integration habe das Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen Einwanderungskontrolle ein überwiegendes Gewicht. Das Leben in der [X.] sei dem Beschwerdeführer nicht unzumutbar. Er sei arbeitsfähig und könne sich wegen seiner Deutschkenntnisse insbesondere im Tourismusgewerbe bewerben. Es sei ihm zuzumuten, sich in Regionen niederzulassen, in denen [X.] gesprochen wird; auch sei er in der Lage, in angemessener [X.] türkisch zu lernen. Unabhängig davon, ob Verwandte oder Freunde des [X.] den Beschwerdeführer unterstützen könnten, sei zu berücksichtigen, dass sein Vater jedenfalls nach der [X.]aftentlassung mit ihm ausreisen könnte; die Ausbürgerung des [X.] stelle kein [X.]indernis dar, da er sich ohne Weiteres wieder einbürgern lassen könne.

9

7. Mit der fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, dass die Gerichte die Bedeutung von Art. 6 Abs. 1 GG verkannt hätten. Das Verwaltungsgericht habe sich mit dem grundrechtlichen Schutz der Familie und den tatsächlichen Familienverhältnissen überhaupt nicht befasst. Das Oberverwaltungsgericht habe die persönlichen Konsequenzen, die der Verlust der familiären Bindungen für den Beschwerdeführer bedeute, bei der Abwägung nicht berücksichtigt. Der Verweis der Gerichte auf den Vater des Beschwerdeführers und dessen vermeintliche Freunde sei ungeeignet, den Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG zu rechtfertigen. Da der Beschwerdeführer in der [X.] wegen Mittellosigkeit und fehlender Sprachkenntnisse einer [X.] Isolation ausgesetzt wäre, sei Art. 6 Abs. 1 GG bereits durch die Versagung von Eilrechtsschutz verletzt.

Darüber hinaus lägen Verstöße gegen Art. 2 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG vor. Die angegriffenen Beschlüsse verkennten die Bedeutung, die der Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Berücksichtigung von Art. 8 [X.] zukomme, da sie die für die Abwägung wesentlichen Umstände nicht erkannt beziehungsweise unberücksichtigt gelassen hätten. Zudem hätten die Gerichte die Entscheidungen auf die fehlenden Erfolgsaussichten in der [X.]auptsache gestützt, obwohl eine hinreichende Berücksichtigung des Vortrags des Beschwerdeführers zu dem Ergebnis geführt hätte, dass die Aussichten der Klage offen seien und ein Anordnungsanspruch bestehe; die eigenen Feststellungen der Gerichte zeigten, dass der Sachverhalt in wesentlichen Punkten noch klärungsbedürftig sei.

8. Das [X.] untersagte im Wege der einstweiligen Anordnung der Ausländerbehörde, bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde die angedrohte Abschiebung zu vollziehen (Beschluss der [X.] des Zweiten Senats des [X.]s vom 14. Juli 2010 - 2 BvR 1392/10 -).

9. Dem [X.] wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Das [X.] hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen Art. 19 Abs. 4 GG.

1. Der Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 Satz 1 [X.]) steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen. Der Beschwerdeführer hat deutlich gemacht, dass er bereits durch die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes in verfassungsmäßigen Rechten verletzt ist (vgl. zu diesem Erfordernis [X.] 35, 382 <397 f.>; 53, 30 <53 f.>; 59, 63 <83 f.>; 76, 1 <40>). Er zeigt auf, dass und weshalb die angegriffenen Entscheidungen die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht von den Erfolgsaussichten in der [X.]auptsache hätten abhängig machen dürfen, und greift damit eine spezifische Besonderheit des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes an. Der Beschwerdeführer war daher nicht gehalten, vor der Inanspruchnahme des [X.]s zunächst den Rechtsweg in der [X.]auptsache zu durchlaufen.

2. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG.

a) Der in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgten Garantie eines umfassenden und effektiven Rechtsschutzes kommt wesentliche Bedeutung bereits für den vorläufigen Rechtsschutz zu, dessen Versagung vielfach irreparable Folgen hat. Die nach § 80 Abs. 1 VwGO für den Regelfall vorgeschriebene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage ist insoweit eine adäquate Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie. Andererseits gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe im Verwaltungsprozess nicht schlechthin. Überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den [X.] einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit eines Verwaltungsakts ist daher ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. Der Rechtsschutzanspruch des Bürgers ist dabei umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung [X.] bewirkt (vgl. [X.] 35, 382 <401 f.>; 69, 220 <227 f.>; [X.]K 5, 328 <334>; 11, 179 <186 f.>). Geltung und Inhalt dieser Leitlinien sind nicht davon abhängig, ob der Sofortvollzug eines Verwaltungsakts einer gesetzlichen (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO) oder einer behördlichen Anordnung (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) entspringt (vgl. [X.] 69, 220 <228 f.>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 10. Oktober 2003 - 1 BvR 2025/03 -, NVwZ 2004, S. 93 <94>).

b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen auch dann nicht gerecht, wenn man hier den in § 84 Abs. 1 Nr. 1 [X.] normierten grundsätzlichen Vorrang des [X.] in Rechnung stellt und daraus folgert, dass die Gerichte - neben der Prüfung der Erfolgsaussichten in der [X.]auptsache - zu einer Einzelfallbetrachtung grundsätzlich nur im [X.]inblick auf solche Umstände angehalten sind, die von den Beteiligten vorgetragen werden und die Annahme rechtfertigen können, dass im konkreten Fall von der gesetzgeberischen Grundentscheidung ausnahmsweise abzuweichen ist (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 10. Oktober 2003 - 1 BvR 2025/03 -, NVwZ 2004, S. 93 <94>). Ausgehend von der Erkenntnis, dass der Fall im [X.]auptsacheverfahren zu klärende Sach- und Rechtsfragen aufwirft und deshalb die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht von den Erfolgsaussichten in der [X.]auptsache abhängig gemacht werden kann, hätten sich die Verwaltungsgerichte mit den substantiiert vorgetragenen persönlichen Belangen des Beschwerdeführers in einer der Bedeutung dieser Umstände für die Aussetzungsentscheidung angemessenen Weise auseinandersetzen müssen. Daran fehlt es. Zwar ist es grundsätzlich Sache der Fachgerichte, den Sachverhalt zu ermitteln und rechtlich zu würdigen; die Nachprüfung durch das [X.] ist auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts beschränkt (vgl. [X.] 18, 85 <92 f.>; stRspr). Eine solche Verletzung liegt hier jedoch vor. Die Gerichte haben das Vorbringen des Beschwerdeführers einer abschließenden Würdigung in der Art einer [X.]auptsacheentscheidung unterzogen, ohne naheliegende Einwände zu berücksichtigen und auf die Vorläufigkeit ihrer Würdigung sowie den interimistischen Charakter ihrer Entscheidungen Bedacht zu nehmen, und damit das Gebot effektiven Rechtsschutzes verfehlt.

Der Klärung im [X.]auptsacheverfahren vorbehalten ist vor allem die Frage, ob die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vor dem Recht auf Achtung des Privatlebens, das Art. 8 Abs. 1 [X.] neben dem Recht auf Achtung des Familienlebens schützt, Bestand haben kann. Die angegriffenen Entscheidungen halten es grundsätzlich für möglich, dass sich ein Ausländer zur Begründung eines Aufenthaltsrechts auf den Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 [X.] berufen kann, stellen jedoch fest, dass die Voraussetzungen, unter denen hieraus ein rechtliches Ausreisehindernis im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 [X.] folge oder eine außergewöhnliche [X.]ärte im Sinne des § 25 Abs. 4 Satz 2 [X.] anzunehmen sei, im Falle des Beschwerdeführers nicht erfüllt seien. Diese Feststellung ist nicht in einer die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes rechtfertigenden Weise begründet. Sowohl das Verwaltungsgericht - durch [X.] des Bescheids der Ausländerbehörde - als auch das Oberverwaltungsgericht haben einseitig auf die berufliche Integration des Beschwerdeführers abgestellt und damit den [X.]. 8 Abs. 1 [X.] verkürzt; die Rechtfertigungsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 [X.] lässt eine hinreichende Auseinandersetzung mit den konkreten Lebensverhältnissen des Beschwerdeführers vermissen.

aa) Das Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind (vgl. [X.], Urteil der [X.] vom 9. Oktober 2003 - 48321/99 -, Fall [X.] , [X.], S. 560 <561>) und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. [X.]K 11, 153 <159 f.>; BVerwGE 133, 72 <82 f.> m.w.N.). Ein Eingriff in die Rechte aus Art. 8 Abs. 1 [X.] muss nach Art. 8 Abs. 2 [X.] eine in einer [X.] Gesellschaft notwendige Maßnahme darstellen, die durch ein dringendes [X.]s Bedürfnis gerechtfertigt und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist (vgl. [X.]K 11, 153 <160> m.w.N.).

bb) [X.]iermit im Einklang steht zwar die in den angegriffenen Entscheidungen vorgenommene Maßstabsbildung, wonach zur [X.]erleitung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 8 Abs. 1 [X.] ein durch persönliche, [X.] und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiertes Privatleben erforderlich sei, das nur noch im [X.] geführt werden kann, und dass es hierfür einerseits auf die Integration des Ausländers in [X.], andererseits die Möglichkeit zur ([X.] im Staat der Staatsangehörigkeit ankomme. Allerdings wird die konkrete Würdigung der vom Beschwerdeführer vorgetragenen Umstände zur Verwurzelung in [X.] und der Entwurzelung hinsichtlich der [X.] dem auf die Erfassung der individuellen Lebensverhältnisse des Ausländers angelegten Prüfprogramm (vgl. [X.]K 12, 37 <44>; BVerwGE 133, 72 <82 ff.>) nicht gerecht.

Die angegriffenen Entscheidungen nehmen keine gewichtende Gesamtbewertung der Lebensumstände des Beschwerdeführers vor (vgl. BVerwGE 133, 72 <84>). Stattdessen stellen sie hinsichtlich des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 [X.] einseitig auf die - aus ihrer Sicht fehlenden - wirtschaftlichen Bindungen des Beschwerdeführers an die Bundesrepublik [X.] ab, indem sie eine misslungene berufliche Integration konstatieren. Die Geburt des Beschwerdeführers in [X.] sowie das Gewicht des über 18 Jahre andauernden rechtmäßigen Aufenthalts im [X.] werden nur unzureichend gewürdigt. Der Umstand, dass die gesamte Familie des Beschwerdeführers in [X.] lebt, und die sonstigen persönlichen Bindungen an die Bundesrepublik [X.] bleiben gänzlich unberücksichtigt. Nicht in den Blick genommen wird auch das angesichts der bisherigen Straflosigkeit des Beschwerdeführers vergleichsweise geringe Gewicht des die Aufenthaltsbeendigung rechtfertigenden öffentlichen Interesses (vgl. [X.]K 12, 37 <45>). Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 [X.] ist das Oberverwaltungsgericht - ebenso wie das Verwaltungsgericht in seinen ergänzenden [X.]inweisen - dem Fehlen tatsächlicher Verbindungen zur [X.] nicht individuell nachgegangen, obwohl sich in Ansehung der Lebensgeschichte des Beschwerdeführers die Notwendigkeit aufdrängt, die vorgetragene Entwurzelung - insbesondere die fehlenden Kenntnisse der [X.] und Kultur sowie das Fehlen jeglicher Bezugsperson in der [X.] - aufzuklären. Der Verweis darauf, in angemessener [X.] türkisch lernen und in der [X.] Arbeit finden oder sich jedenfalls in [X.] sprechenden Landesteilen niederlassen und im Tourismusgewerbe bewerben zu können, stützt sich auf globale Erkenntnisse, deren konkrete Bedeutung für den Beschwerdeführer nicht ermittelt worden ist und ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung wohl auch nicht ermittelt werden kann. Entsprechendes gilt für die Behauptung, der ausreisepflichtige Vater könne - jedenfalls nach seiner [X.]aftentlassung - mit dem Beschwerdeführer in die [X.] ausreisen, weil insoweit nicht nur unberücksichtigt geblieben ist, dass die [X.]aftentlassung frühestens im Oktober 2010 möglich war, sondern es auch jeglichen [X.] auf mögliche konkrete Lebensperspektiven des [X.] und des Beschwerdeführers ermangelt.

3. Die angegriffenen Beschlüsse beruhen auf der Grundrechtsverletzung. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gerichte bei hinreichender Berücksichtigung der sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Vorgaben zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wären. Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 [X.] die angegriffenen Beschlüsse auf und verweist die Sache an das Verwaltungsgericht zurück. Auf das Vorliegen der weiteren gerügten [X.] kommt es nicht an.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 [X.], die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. auch [X.] 79, 365 <366 ff.>).

Meta

2 BvR 1392/10

21.02.2011

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OVG Lüneburg, 20. Mai 2010, Az: 11 ME 129/10, Beschluss

Art 19 Abs 4 GG, § 25 Abs 4 S 2 AufenthG 2004, § 25 Abs 5 AufenthG 2004, § 58 AufenthG 2004, § 5 Abs 1 Nr 1 AufenthG 2004, § 60 AufenthG 2004, § 84 Abs 1 Nr 1 AufenthG 2004, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, Art 8 Abs 1 MRK, Art 8 Abs 2 MRK, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 80 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 21.02.2011, Az. 2 BvR 1392/10 (REWIS RS 2011, 9284)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 9284

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