Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 02.11.2023, Az. 2 BvR 441/23

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2023, 7782

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Zur Verpflichtung eines Ausländers, die Bundesrepublik zur Durchführung eines Visumverfahrens in seinem Herkunftsland zu verlassen - Verletzung des Art 6 Abs 1, Abs 2 GG durch unzureichende Berücksichtigung familiärer Belange - mangelnde Darlegungen, warum die Verweisung auf die Nachholung des Visumverfahrens vom Ausland aus eine lediglich vorübergehende und keine dauerhafte Trennung des Beschwerdeführers von seinen Kindern zur Folge hat


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 11. August 2022 - [X.] - und der Beschluss des [X.] vom 27. Februar 2023 - 19 CE 22.1955 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 6 Absätze 1 und 2 des Grundgesetzes.

2. Der Beschluss des [X.] vom 11. August 2022 - [X.] - und der Beschluss des [X.] vom 27. Februar 2023 - 19 CE 22.1955 -werden aufgehoben. Die Sache wird an das [X.] Würzburg zurückverwiesen.

3. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

4. Damit wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos.

5. Der [X.] hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts.

6. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfahren über die Verfassungsbeschwerde auf 10.000 [X.] (in Worten: zehntausend [X.]) und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 5.000 [X.] (in Worten: fünftausend [X.]) festgesetzt.

Gründe

1

Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen es dem Beschwerdeführer zuzumuten ist, zur Durchführung eines [X.] in seinem Heimatland die [X.] zu verlassen und damit eine wenigstens vorübergehende Trennung von seinen hier aufenthaltsberechtigten Kindern hinzunehmen.

2

1. Der 1984 geborene Beschwerdeführer [X.] Staatsangehörigkeit reiste 2012 in die [X.] ein und durchlief erfolglos ein Asylverfahren. Seit 2015 war er, zuletzt als Reinigungskraft, erwerbstätig, bis ihm die Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Juni 2022 nicht mehr gestattet wurde. Zusammen mit einer im [X.] als Flüchtling anerkannten und aufenthaltsberechtigten [X.] hat er zwei gemeinsame Kinder [X.] Staatsangehörigkeit (geboren 2015 und 2021), die ebenfalls als anerkannte Flüchtlinge aufenthaltsberechtigt sind. Der Beschwerdeführer hat die [X.]chaft für beide Kinder anerkannt und übt mit der Kindsmutter das gemeinsame Sorgerecht aus, wohnt jedoch nicht [X.] ihr und den Kindern zusammen.

3

Nach Abschluss des Asylverfahrens erhielt der Beschwerdeführer fortlaufend Duldungen, begründet mit fehlenden Reisedokumenten und zuletzt gültig bis Mitte Mai 2022. Im Oktober 2021 stellte er einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 [X.] bei der Regierung von [X.] als zuständiger Ausländerbehörde (nachfolgend: Ausländerbehörde) und erbrachte die hierfür von der Ausländerbehörde geforderten Nachweise bis Anfang Juni 2022. Seit April 2022 liegen seine Reisedokumente vor. Über den Antrag wurde noch nicht entschieden. Anfang Mai 2022 reichte der Beschwerdeführer seine Duldungsbescheinigung zwecks Verlängerung der Duldung bei der Ausländerbehörde ein.

4

2. Unter dem 8. Juni 2022 übersandte die Ausländerbehörde dem Beschwerdeführer seine mit dem Vermerk "Erloschen" versehene Duldungsbescheinigung. Sie teilte ferner mit, dass keine Duldungsgründe bestünden und er eine Abschiebung durch eine freiwillige Ausreise verhindern könne. Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit wurde fortan nicht mehr gestattet. Der Beschwerdeführer bezieht derzeit Leistungen nach dem [X.].

5

3. Einen von dem Beschwerdeführer daraufhin gestellten Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz, gerichtet auf die vorläufige Untersagung der Abschiebung sowie die Erteilung einer Duldung, lehnte das [X.] (nachfolgend: Verwaltungsgericht) mit Beschluss vom 11. August 2022 ab. Eine Ausreise des Beschwerdeführers zwecks Nachholung des [X.] zum Familiennachzug sei nicht aus Gründen des Schutzes einer bestehenden familiären Bindung zu seinen Kindern gemäß Art. 6 Abs. 1 [X.] und Art. 8 [X.] rechtlich unmöglich. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass ein Familiennachzug nicht möglich wäre. Insofern stehe anlässlich der Nachholung des [X.] grundsätzlich lediglich eine vorübergehende Trennung des Beschwerdeführers von seinen Kindern im Raum. Dem Gericht sei nach Aktenlage auch eine Prognose darüber möglich, welcher Trennungszeitraum zu erwarten sei. Es gehe davon aus, dass der Beschwerdeführer bei vollständig unterbleibender Vorbereitung vom Inland aus etwa sechseinhalb Monate von seiner Familie getrennt wäre. Anhaltspunkte für eine längere Trennungszeit seien vorliegend nicht ersichtlich. Diese Trennungszeit sei im vorliegenden Einzelfall nicht unzumutbar. Ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung bestehe auch nicht in Form einer sogenannten Verfahrensduldung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.

6

4. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschwerdeführers wies der [X.] (nachfolgend: [X.]hof) mit Beschluss vom 27. Februar 2023 zurück.

7

a) Im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Maßstäbe zum Schutz der Familie nach Art. 6 [X.] bzw. Art. 8 Abs. 1 [X.] sei es mit den genannten Vorschriften vereinbar, den Beschwerdeführer selbst "angesichts der bestehenden einfachrechtlichen Ungewissheiten" auf die Einholung des erforderlichen Visums zu verweisen.

8

Auch unter Berücksichtigung der Ausgestaltung der schützenswerten [X.] zwischen dem Beschwerdeführer und seinen beiden Töchtern erweise sich eine Nachholung des [X.] vorliegend als zumutbar. Das Verwaltungsgericht habe zutreffend (wenn auch "ohne vertiefte Begründung") die grundsätzliche Möglichkeit eines Familiennachzugs bejaht. Vorliegend komme ein Aufenthaltstitel nach § 36 Abs. 2 Satz 1 [X.] in Betracht. Die Ausländerbehörde gehe in Kenntnis davon, dass der Nachzug sonstiger Familienangehöriger nach § 36 Abs. 2 Satz 1 [X.] auf Fälle einer außergewöhnlichen Härte, das heiße auf seltene Ausnahmefälle beschränkt sei, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsrechts und damit der [X.] im Lichte des Art. 6 Absätze 1 und 2 [X.], Art. 8 [X.] grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspräche, also schlechthin unvertretbar wäre, ausweislich seiner Ausführungen im Beschwerdeverfahren von einer solchen Härte im vorliegenden Fall aus. Der Beschwerdeführer trage insoweit keine durchgreifenden Einwände vor, die diese Auffassung der Ausländerbehörde in Zweifel ziehen könnten, selbst in Anbetracht des Umstands, dass die Erteilung eines Visums auf Grundlage von § 36 Abs. 2 [X.] grundsätzlich an hohe Hürden gebunden sei. Soweit der Beschwerdeführer anführe, man könnte es als Wertungswiderspruch sehen, den Nachzug eines Elternteils zu einem anerkannten Flüchtling auf der Grundlage des § 36 Abs. 2 [X.] auch dann zu gewähren, wenn sich der weitere Elternteil schon in [X.] befinde, obwohl der Gesetzgeber gerade für diese Konstellation den Anspruch auf Nachzug in § 36 Abs. 1 [X.] ausgeschlossen habe, könne der Senat diesen Wertungswiderspruch nicht erkennen. Der Beschwerdeführer sei im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 [X.] sonstiger Familienangehöriger seiner leiblichen Töchter. Folglich könne bei Annahme einer außergewöhnlichen Härte auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 [X.] in Betracht kommen. Eine Herstellung der Familiengemeinschaft im (gemeinsamen) Heimatland sei angesichts der Aufenthaltsrechte der Töchter des Beschwerdeführers und deren Mutter nicht zumutbar.

9

Die vom Beschwerdeführer benannte Unwägbarkeit im Hinblick auf das Wohnraumerfordernis des § 29 Abs. 2 Nr. 2 [X.] "dürfte im vorliegenden Fall keine Rolle spielen, da der [Beschwerdeführer] derzeit allein eine Wohnung bewohne (er lebt von der Kindsmutter getrennt) und daher kein Wohnraum für die gesamte Familie erforderlich" sei. Zudem sei "angesichts der überschaubaren Abwesenheitsdauer des Beschwerdeführers nicht zwingend davon auszugehen, dass er seine derzeitige Wohnung aus finanziellen Gründen aufgeben" müsste. Auch die vom Beschwerdeführer benannte Unwägbarkeit im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 [X.] bestehe nicht. Unabhängig davon, ob die Prognose zur Lebensunterhaltssicherung bereits positiv ausfallen könnte (die bisherige Arbeitgeberin habe mitgeteilt, dass sie den Beschwerdeführer sofort wieder einstellen würde), gelte die Regelerteilungsvoraussetzung der Unterhaltssicherung nicht in atypischen Ausnahmefällen. Zwar sei in einem Fall, in dem die in § 36 Abs. 2 Satz 1 [X.] mit der hohen Hürde der "außergewöhnlichen Härte" zum Ausdruck kommenden einwanderungspolitischen Belange durch Art. 6 [X.] zurückgedrängt würden und sich das Ermessen der Ausländerbehörde verdichte, nicht automatisch auch eine Ausnahme von dem [X.] der Lebensunterhaltssicherung vorgezeichnet. Ein atypischer Ausnahmefall sei aber anzunehmen, wenn sich - "wie hier" - ergeben sollte, dass die Verweigerung eines Aufenthaltstitels eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 [X.] darstelle.

Die konkrete Berechnung der prognostischen Dauer des [X.] des Beschwerdeführers im Herkunftsland durch das Verwaltungsgericht - Trennungszeit von etwa sechseinhalb Monaten - habe der Beschwerdeführer nicht substantiiert angegriffen. Ebenso sei die verwaltungsgerichtliche Auffassung, die angenommene Trennungszeit sei im vorliegenden Einzelfall nicht unzumutbar, nicht zu beanstanden.

b) Die Versagung einer Verfahrensduldung im Hinblick auf den noch nicht beschiedenen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 [X.] begegne ebenfalls keinen durchgreifenden Bedenken.

Der Beschwerdeführer hat am 5. April 2023 gegen die "Verfügung" der Ausländerbehörde vom 8. Juni 2022 sowie die Beschlüsse des [X.] und des [X.]hofs Verfassungsbeschwerde erhoben. Zugleich hat er einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt mit dem Ziel, seine Abschiebung vorläufig zu verhindern. Außerdem beantragt er die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten.

Er rügt insbesondere die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 [X.]. Die angefochtenen Entscheidungen verfehlten die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Zumutbarkeit der Nachholung des [X.]. Es sei bereits nicht hinreichend sicher, dass ihm ein Visum zur Wiedereinreise erteilt werde. Die Voraussetzung der "außergewöhnlichen Härte" im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 [X.] könne verneint werden. Auch sei es ihm objektiv unmöglich, von [X.] aus einen in [X.] gesicherten Lebensunterhalt nachzuweisen. Ebenso könne er mangels Einkommen und Ersparnissen seine Wohnung nicht über einen Zeitraum von mehreren Monaten während eines Aufenthalts in [X.] vorhalten. Er könne damit den erforderlichen Wohnraum nicht nachweisen. Zudem beruhe die Prognose der Fachgerichte zur Dauer des [X.] nicht auf einer hinreichend zuverlässigen Erkenntnisbasis. Entgegen der Auffassung der Fachgerichte sei eine sechseinhalbmonatige Trennung auch nicht zumutbar.

Ferner seien Art. 2 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 und Art. 3 Abs. 1 [X.] verletzt.

Die Ausländerbehörde sowie das [X.], für Sport und Integration hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens nebst den Verwaltungsvorgängen haben dem [X.] vorgelegen.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde, soweit sie sich gegen die verwaltungsgerichtlichen Beschlüsse wendet, zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] liegen insoweit vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 6 Absätze 1 und 2 [X.] angezeigt (1.). Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde mangels Zulässigkeit nicht zur Entscheidung angenommen (2.).

1. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des [X.]hofs und des [X.] wendet, ist sie zulässig und in einer im Sinne einer die Zuständigkeit der Kammer eröffnenden Weise offensichtlich begründet.

a) Die Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 6 Absätze 1 und 2 [X.].

aa) Nach ständiger Rechtsprechung des [X.]s gewährt Art. 6 [X.] keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt zwecks [X.] zu bereits im [X.] lebenden Angehörigen (vgl. [X.] 76, 1 <47>; [X.]K 7, 49 <54 f.>). Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 [X.] enthaltene wertentscheidende [X.], nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im [X.] aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 [X.] darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im [X.] lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. [X.] 76, 1 <49 ff.>; 80, 81 <93>).

(1) Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalls (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 -, Rn. 12 m.w.N.). Die Belange der [X.] überwiegen das durch Art. 6 Absätze 1 und 2 [X.] geschützte private Interesse eines Ausländers und seines Kindes an der Aufrechterhaltung der zwischen ihnen bestehenden Lebensgemeinschaft nicht ohne weiteres schon deshalb, weil der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat, wenn durch das nachträgliche Entstehen der von Art. 6 Absätze 1 und 2 [X.] grundsätzlich geschützten Lebensgemeinschaft eine neue Situation eingetreten ist (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 10. August 1994 - 2 BvR 1542/94 -, juris, Rn. 11; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 -, Rn. 45).

Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der [X.] stattfinden, etwa weil das Kind die [X.] Staatsangehörigkeit besitzt und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der [X.] nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Bei einer [X.] kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des [X.] nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. [X.]K 7, 49 <56>; [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 -, Rn. 17, vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 -, Rn. 13 und vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 -, Rn. 46).

Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 [X.] ist es zwar grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines für den begehrten Aufenthaltstitel erforderlichen Visums zu verweisen (vgl. [X.]K 13, 26 <27 f.>). Das Visumverfahren bietet Gelegenheit, die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen (§ 5 [X.]) zu überprüfen. Der mit der Durchführung des [X.] üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die [X.] begehrt, regelmäßig hinzunehmen (vgl. [X.]K 13, 562 <567>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 -, Rn. 47). Das Aufenthaltsrecht trägt dabei jedoch dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung, indem es zum einen bestimmte, insbesondere humanitäre Aufenthaltstitel vorsieht, die ein vorangehendes Visumverfahren nicht erfordern, des Weiteren indem nach § 39 Satz 1 Nr. 5 [X.] die Nachholung des [X.] nicht erforderlich ist, wenn ein geduldeter Ausländer einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf Grund einer Eheschließung (oder Begründung einer Lebenspartnerschaft) oder der Geburt eines Kindes während seines Aufenthalts im [X.] hat, und schließlich indem es unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 [X.] im Einzelfall erlaubt, von dem grundsätzlichen Erfordernis einer Einreise mit dem erforderlichen Visum (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 [X.]) abzusehen.

(2) Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte [X.] und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (vgl. [X.] 56, 363 <384>; 79, 51 <63 f.>). Eine auch nur vorübergehende Trennung kann nicht als zumutbar angesehen werden, wenn das Gericht keine gültige Prognose darüber anstellt, welchen Trennungszeitraum der Betroffene realistischerweise zu erwarten hat. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht können die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere dann haben, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. [X.]K 14, 458 <465>; [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 - und vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 -, Rn. 48).

Von Verfassungs wegen erforderlich ist es, eine gültige Prognose darüber anzustellen, ob die Verweisung des Beschwerdeführers auf die Nachholung des [X.] vom Ausland aus eine lediglich vorübergehende und keine dauerhafte Trennung für diesen und seine Kinder zur Folge hat (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 -, Rn. 51 ff.). Die Fachgerichte können von einer solchen Prognose lediglich absehen, wenn es im konkreten Fall mit Art. 6 Absätze 1 und 2 [X.] vereinbar ist, dem Ausländer und seinem Kind die Lebensgemeinschaft in der [X.] auf Dauer zu verwehren, etwa weil die Familiengemeinschaft auch außerhalb der [X.] in zumutbarer Weise gelebt werden kann (vgl. [X.]K 13, 562 <567 f.> sowie [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 27. August 2003 - 2 BvR 1064/03 -, juris, Rn. 6 f.) oder weil die dauerhafte Trennung der Familie ausnahmsweise zumutbar ist (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 10. August 1994 - 2 BvR 1542/94 -, juris, Rn. 11 f.; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 22. Dezember 2021 - 2 BvR 1432/21 -, Rn. 48).

Für die Annahme, dass eine Trennung nicht dauerhaft sei, ist auch eine belastbare Prognose zu der Frage erforderlich, ob der Ausländer das Visumverfahren mit Erfolg durchlaufen wird. Allein der Umstand, dass im Grundsatz die Erteilung eines Visums generell in Betracht kommt, reicht dafür nicht hin. Insbesondere dann, wenn die Erteilung eines Visums - wie im Fall des § 36 Abs. 2 [X.] - an hohe tatbestandliche Hürden gebunden ist oder der Auslandsvertretung ein Ermessen eingeräumt ist, ergeben sich Unwägbarkeiten für den Ausländer. Diese verringern die Wahrscheinlichkeit, dass ihm auch tatsächlich ein Visum erteilt wird, und müssen daher Eingang in die anzustellende Prognose finden (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 22. Dezember 2021 - 2 BvR 1432/21 -, Rn. 49 ff.).

(3) Die Dichte der verfassungsgerichtlichen Kontrolle muss dem Rang und der Bedeutung Rechnung tragen, die das Grundgesetz der Familie in ihren verschiedenen Gestaltungsformen und Funktionen als einem gegen den Staat abgeschirmten und die Vielfalt der Freiheitskonkretisierungen schützenden Autonomiebereich beimisst (vgl. [X.] 76, 1 <51 ff.>; 80, 81 <93 f.>). Bei der Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen prüft das [X.] daher, ob die notwendige Abwägung stattgefunden hat und ob Grundlage und Abwägungsergebnis dem sich aus Art. 6 Absätze 1 und 2 [X.] ergebenden Gebot gerecht werden, die ehelichen und familiären Bindungen in angemessener Weise zu berücksichtigen (vgl. [X.] 76, 1 <50 f.>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 -, Rn 49).

bb) Daran gemessen haben der [X.]hof (1) und das Verwaltungsgericht (2) bei der Frage, ob dem Beschwerdeführer eine einstweilige Duldung auf der Grundlage des § 60a Abs. 2 Satz 1 [X.] zu erteilen ist, die möglichen Beeinträchtigungen von Art. 6 Absätze 1 und 2 [X.] jeweils nicht hinreichend berücksichtigt.

(1) (a) Die Entscheidung des [X.]hofs erweist sich schon deshalb als im Hinblick auf Art. 6 Absätze 1 und 2 [X.] verfassungsrechtlich unzureichend, weil sie nicht darlegt, warum zur Durchsetzung der aufenthaltsrechtlichen Belange die Nachholung des [X.] für einen Familiennachzug erforderlich ist. Mit der Erteilung der hier von dem Beschwerdeführer beantragten Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 [X.] stand im vorliegenden Einzelfall eine konkrete andere Möglichkeit als die Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Familiennachzug im Raum, für die das [X.] nicht gilt. Insoweit hätte es näherer Erläuterung bedurft, ob und weshalb es gleichwohl im Lichte des Art. 6 Absätze 1 und 2 [X.] notwendig war, den Beschwerdeführer auf das Visumverfahren für den von ihm begehrtem Familiennachzug und die damit verbundene Beeinträchtigung seiner schützenswerten familiären Belange einschließlich der schützenswerten Belange seinen erst zweijährigen Kindes, für das eine mehrmonatige Abwesenheit des [X.] besonders schwer wiegt, zu verweisen.

(b) Außerdem beruht die Entscheidung nicht auf einer tragfähigen Prognose. Sie begründet bereits nicht hinreichend, warum die Verweisung des Beschwerdeführers auf die Nachholung des [X.] vom Ausland aus eine lediglich vorübergehende und keine dauerhafte Trennung für den Beschwerdeführer und seine Kinder zur Folge habe. Der Beschluss zeigt nicht belastbar auf, dass dem Beschwerdeführer ein Visum wegen eines Aufenthaltsrechts nach § 36 Abs. 2 Satz 1 [X.] zu erteilen sein wird.

Der [X.]hof führt lediglich aus, dass die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis "in Betracht" komme. Die darüber hinaus erfolgende Feststellung, dass die Ausländerbehörde vom Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 [X.] ausgehe und der Beschwerdeführer dies nicht durchgreifend infrage gestellt habe, genügt nicht, zumal nicht die Ausländerbehörde über die Erteilung des Visums zu entscheiden hätte, sondern die Auslandsvertretung. Ob der [X.]hof selbst vom Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte ausgeht, lässt sich dem Beschluss nicht eindeutig entnehmen. Es ist mangels näherer Subsumtion auch nicht erkennbar, worauf der [X.]hof diese Annahme stützen würde.

Infolgedessen begründet der [X.]hof auch nicht hinreichend, weshalb die allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 [X.] - Sicherung des Lebensunterhalts - der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 Satz 1 [X.] nicht entgegenstehen wird. Der [X.]hof lässt letztlich offen, ob die für die Sicherung des Lebensunterhalts erforderliche günstige Prognose im Falle des Beschwerdeführers gestellt werden kann, und verweist vielmehr auf die Möglichkeit einer Ausnahme von dieser Voraussetzung bei atypischen Ausnahmefällen. Ein solcher sei anzunehmen, wenn die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts "wie hier" eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 [X.] darstelle. Das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte hat der [X.]hof selbst aber nicht aufgezeigt.

Überdies fehlt es im Hinblick auf das Wohnraumerfordernis des § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 [X.] an einer hinreichenden Begründung der Annahme des [X.]hofs, dass "nicht zwingend" davon auszugehen sei, dass der Beschwerdeführer seine derzeitige Wohnung aus finanziellen Gründen aufgeben müsse. Der schlichte Verweis auf die "überschaubare […] Abwesenheitsdauer" genügt hierfür nicht. Es liegt im Gegenteil nahe, dass für den Beschwerdeführer die Monatsmiete während der angenommenen Abwesenheitszeit von sechseinhalb Monaten ohne entsprechende laufende Einkünfte eine nicht nur geringfügige finanzielle Belastung darstellen würde, die er nicht tragen kann, wenn er derzeit auf Leistungen nach dem [X.] angewiesen ist.

(2) Auch der Beschluss des [X.] bleibt hinter den verfassungsrechtlichen Anforderungen von Art. 6 Absätze 1 und 2 [X.] zurück, da es jedenfalls ebenso wenig hinreichend begründet, weshalb die Verweisung des Beschwerdeführers auf die Nachholung des [X.] erforderlich ist und eine nur vorübergehende Trennung von seinen Kindern nach sich zöge. Es hält hinsichtlich der möglichen Erteilung eines Visums an den Beschwerdeführer wegen eines Aufenthaltsrechts nach § 36 Abs. 2 Satz 1 [X.] lediglich fest, dass "vorliegend keine Anhaltspunkte" bestünden, "dass ein Familiennachzug nach §§ 27 ff. [X.] nicht möglich wäre".

b) Angesichts der Verletzung von Art. 6 Absätze 1 und 2 [X.] bedarf es keiner Entscheidung, ob die Verfassungsbeschwerde auch hinsichtlich der übrigen [X.] begründet ist.

2. Betreffend die "Verfügung" der Ausländerbehörde vom 8. Juni 2022 ist die Verfassungsbeschwerde dagegen nicht zur Entscheidung anzunehmen. Sie ist insoweit unzulässig. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

1. Die angegriffenen Beschlüsse sind aufzuheben, und die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 [X.]).

2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 [X.] wird infolge der Stattgabe der Verfassungsbeschwerde gegenstandslos.

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung der kostenrechtlich eigenständigen Verfahren über die Verfassungsbeschwerde sowie den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (vgl. [X.] 89, 91; 141, 56 <81 Rn. 65>) ergeht gemäß § 34a Abs. 2 und 3 [X.]. Da der nicht zur Entscheidung angenommene Teil der Verfassungsbeschwerde von untergeordneter Bedeutung ist, sind die Auslagen in vollem Umfang zu erstatten (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 -, Rn. 67 m.w.N.).

Mit dieser Anordnung erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts (vgl. [X.] 62, 392 <397>; 71, 122 <136 f.>; 105, 239 <252>).

Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 RVG in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 441/23

02.11.2023

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, 27. Februar 2023, Az: 19 CE 22.1955, Beschluss

Art 6 Abs 1 GG, Art 6 Abs 2 GG, § 5 Abs 1 Nr 1 AufenthG 2004, § 29 Abs 2 Nr 2 AufenthG 2004, § 36 Abs 2 S 1 AufenthG 2004, Art 8 MRK, § 37 Abs 2 S 2 RVG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 02.11.2023, Az. 2 BvR 441/23 (REWIS RS 2023, 7782)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 7782

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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