Bundessozialgericht, Beschluss vom 01.12.2016, Az. B 14 AS 183/16 B

14. Senat | REWIS RS 2016, 1509

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler - Bezeichnung des Klagegenstandes - Prozess- statt Sachentscheidung - Zurückweisung der Berufung - Fortwirkung des Verfahrensfehlers des SG auf die Entscheidung des LSG


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 28. April 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Das [X.] hat mit Gerichtsbescheid vom 13.6.2013 die Klage als unzulässig verworfen, weil entgegen § 92 Abs 1 Satz 1 [X.]G der Umfang des [X.] nicht zu ermitteln sei. Die von der Klägerin neben dem Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung gegen den Gerichtsbescheid entsprechend der Rechtsmittelbelehrung des [X.] vorsorglich eingelegte Berufung hat das L[X.] mit Urteil vom 28.4.2016 zurückgewiesen. Die Berufung sei zulässig, weil mangels ausreichender Bezeichnung des Klagebegehrens der Wert des [X.] nicht festzustellen sei und deshalb die Wertgrenze des § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G einer Entscheidung in der Sache nicht entgegenstehe. Die Entscheidung des [X.] sei zutreffend, weil der erhobene Anspruch nicht bezeichnet und die Klage daher unzulässig sei.

2

Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des L[X.] und rügt als Verstoß gegen § 92 Abs 1 Satz 1 [X.]G, dass das L[X.] das Klagebegehren zu Unrecht als nicht ausreichend konkretisiert angesehen und daher die Klageabweisung des [X.] als unzulässig bestätigt habe.

3

II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des L[X.] Berlin-Brandenburg vom 28.4.2016 ist aufzuheben und die Sache an das L[X.] gemäß § 160a Abs 5 [X.]G zurückzuverweisen. Denn diese Entscheidung des L[X.] beruht auf dem von der Klägerin gerügten Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 [X.] [X.]G.

4

Indem das L[X.] durch seine Zurückweisung der Berufung der Klägerin die Entscheidung des [X.], die Klage sei mangels ausreichender Bezeichnung des [X.] entgegen § 92 Abs 1 Satz 1 [X.]G als unzulässig zu verwerfen, bestätigt hat, schlägt der Verfahrensfehler des [X.], das anstelle einer Sach- eine Prozessentscheidung getroffen hat (vgl nur B[X.]E 1, 283; B[X.]E 4, 200 ff; B[X.]E 15, 169, 172; letztens: B[X.] vom [X.] [X.]/15 BH - vorgesehen für [X.]), auf die Entscheidung des L[X.] durch (vgl zum Fortwirken eines [X.] des [X.] auf die Entscheidung des L[X.] nur B[X.] vom [X.] - B 9 V 70/00 B - [X.] 3-1500 § 73 [X.]0, Juris RdNr 2 mwN; B[X.] vom 19.1.2011 - B 13 R 211/10 B - Juris Rd[X.]5 mwN).

5

Auch wenn aufgrund der Neufassung von § 92 Abs 1 Satz 1 [X.]G ("Die Klage muss den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen.") durch das Gesetz zur Änderung des [X.]G und des [X.] vom [X.] ([X.]) die Anforderungen an die Bezeichnung des [X.] erhöht wurden (vgl BT-Drucks 16/7716 S 13: "moderate Anhebung der Anforderungen an die Klageerhebung und Klagebegründung"), so sind diese erhöhten Anforderungen vorliegend erfüllt.

6

Das Klagebegehren insgesamt war zumindest nicht zu unbestimmt. Mit den statthaft im Wege der objektiven Klagehäufung verbundenen und von den Vorinstanzen prozessual zutreffend als Anfechtungsklage sowie als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage 54 Abs 1 und 4 [X.]G) qualifizierten Klagen hat sich die Klägerin ausweislich der Klageschrift vom 21.11.2011 zum einen gegen den Bescheid vom 22.7.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.11.2011 gewandt, soweit dadurch ihr Anspruch auf Sozialgeld abweichend von der ursprünglichen vorläufigen Bewilligung für Juni 2011 endgültig auf null Euro und eine Erstattungsforderung in Höhe von 39,23 Euro festgesetzt worden sind, zum anderen hat sie höhere Grundsicherungsleistungen überhaupt begehrt, weil die Regelbedarfe verfassungswidrig zu niedrig festgesetzt worden seien. [X.] sind demnach die Aufhebung der Erstattungsforderung in Höhe von 39,23 Euro und höheres Sozialgeld für Juni 2011.

7

Selbst wenn von der Klägerin zur Bezeichnung ihres Klagebegehrens hinsichtlich der Höhe der Regelbedarfe und ihres Sozialgeldanspruchs für Juni 2011 nähere Angaben "in welcher Höhe weitere Leistungen gefordert werden", wie das [X.] und anschließend in der Sache auch das L[X.] angenommen haben, zu machen sein sollten, hätte im Lichte der Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs 4 GG beachtet werden müssen, dass etwaige Korrekturen an der Neufestsetzung der Regelbedarfe durch das Gesetz zur Ermittlung von [X.] und zur Änderung des [X.] und [X.] ([X.]) - wäre das [X.] der verfassungsrechtlichen Kritik gefolgt - ausschließlich dem Gesetzgeber vorbehalten gewesen wären und deshalb von der Klägerin zur Höhe schwerlich genaue Angaben erwartet werden konnten. Im Übrigen ist zumindest die Anfechtungsklage gegen die Erstattungsforderung von 39,23 Euro hinreichend bestimmt, denn diese Klage ist schlicht auf deren Aufhebung gerichtet.

8

Der Senat macht von der durch § 160a Abs 5 [X.]G eröffneten Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil wegen des festgestellten [X.] aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückzuverweisen.

9

Das L[X.] wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren zu beachten haben, dass gegen die von ihm angenommene Zulässigkeit der Berufung, die von der Klägerin nur vorsorglich entsprechend der Rechtsmittelbelehrung des [X.] neben dem Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung gegen den Gerichtsbescheid eingelegt wurde, erhebliche Bedenken bestehen.

Den Wert des [X.] nach § 144 Abs 1 [X.]G hat das L[X.] zur Feststellung der Statthaftigkeit der Berufung von Amts wegen eigenständig zu ermitteln, ohne dabei an Angaben der Klägerin gebunden zu sein (§ 3 ZPO; vgl etwa B[X.] vom 23.7.1998 - B 1 KR 24/96 R - [X.] 3-1500 § 158 [X.] S 11, 13; [X.] in [X.] Kommentar zur ZPO, 5. Aufl 2016, § 3 Rd[X.]5). Dabei war nach dem Maßstab von § 123 [X.]G einerseits zu berücksichtigen, dass die Disposition über das Berufungsziel bei der Klägerin lag. Andererseits sind Vorstellungen von Beteiligten für den Zugang zur Rechtsmittelinstanz unbeachtlich, solange sie eine vernünftige Grundlage vermissen lassen oder in Widerspruch zur Gesetzeslage stehen (stRspr; vgl etwa B[X.] vom 28.2.1978 - 4 RJ 73/77 - [X.] 1500 § 146 [X.]; B[X.] vom 23.7.1998 - B 1 KR 24/96 R - [X.] 3-1500 § 158 [X.] S 11, 13; B[X.] vom 22.8.1990 - 10 [X.] 29/88 - B[X.]E 67, 194, 195 = [X.] 3-5870 § 27 [X.]; [X.] vom 20.12.1972 - [X.] - NJW 1973, 370: "[X.] lässt sich nicht künstlich herstellen"; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 144 Rd[X.]4a; [X.]/[X.] in [X.]/Fichte, [X.]G, 2. Aufl 2014, § 144 RdNr 20, jeweils mwN).

Angesichts des auf einen Monat beschränkten Streits um das an die Klägerin zu zahlende Sozialgeld und den [X.] von 750 Euro nach § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G ist nicht ersichtlich, wie dieser Betrag erreicht werden sollte. Die im April 2001 geborene Klägerin lebte in Bedarfsgemeinschaft mit ihrer Mutter und einer Schwester. Ausgehend von einem Gesamtbedarf von 402,23 Euro (Regelbedarf von 251 Euro nach § 77 Abs 4 [X.] [X.]B II plus kopfteilige Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung von 456,70 Euro monatlich insgesamt) wäre der [X.] nur zu überschreiten, wenn mehr als eine Verdoppelung des Regelbedarfs ernsthaft im Streit stehen würde und bei der Klägerin kein Kindergeld als Einkommen nach § 11 Abs 1 Satz 4, 3 [X.]B II zu berücksichtigen wäre. Dies ist nicht zu erkennen.

Im wiedereröffneten vorinstanzlichen Verfahren wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden sein.

Meta

B 14 AS 183/16 B

01.12.2016

Bundessozialgericht 14. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Cottbus, 13. Juni 2013, Az: S 14 AS 5032/11, Gerichtsbescheid

§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 92 Abs 1 S 1 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 01.12.2016, Az. B 14 AS 183/16 B (REWIS RS 2016, 1509)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 1509

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