Bundessozialgericht, Beschluss vom 03.07.2020, Az. B 8 SO 72/19 B

8. Senat | REWIS RS 2020, 2437

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Verhinderung der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung - verspäteter Zugang der Ladung - Beeinflussung der angefochtenen Entscheidung


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 9. Mai 2019 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Im Streit sind Leistungen der Sozialhilfe für [X.] im Ausland.

2

Der Kläger ist [X.] Staatsangehöriger und lebt seit Juni 2015 in [X.] ([X.]). Seinen Antrag auf Gewährung von Sozialhilfe für [X.] im Ausland lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 20.10.2015; Widerspruchsbescheid vom 4.2.2016), weil weder eine außergewöhnliche Notlage vorliege noch ein [X.] bestehe. Die Klage ist ohne Erfolg geblieben (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom [X.]). Mit gerichtlicher Verfügung vom 21.12.2018 und erneut mit inhaltsgleichem Schreiben vom [X.] ist dem Kläger im Berufungsverfahren aufgegeben worden, einen Zustellungsbevollmächtigten im Inland zu benennen. Für den Fall, dass er dieser Anordnung nicht nachkomme, könne eine Zustellung bis zur nachträglichen Benennung dadurch erfolgen, dass ein Schreiben unter seiner Anschrift zur Post gegeben werde. Die Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten hat der Kläger abgelehnt (Schreiben vom [X.]). Mit gerichtlicher Verfügung vom [X.] wurde der Kläger mit einfachem Brief zum Termin zur mündlichen Verhandlung am [X.] über seine Postanschrift in [X.] geladen. Zu diesem Termin erschien der Kläger nicht. Das [X.] ([X.]) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom [X.]; ebenfalls mit einem einfachem Brief bekanntgegeben). Mit Fax vom [X.] teilte der Kläger mit, dass er an diesem Tag das Urteil vom [X.] zusammen mit der auf den [X.] datierten Terminsladung erhalten habe.

3

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] macht der Kläger eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie einen Verfahrensmangel geltend. Grundsätzlich bedeutsam sei die Frage, ob der Leistungsausschluss nach § 24 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - ([X.]) und die [X.] des § 24 Abs 2 [X.] mit dem Grundgesetz ([X.]) vereinbar seien. Zudem habe das [X.] gegen das Gebot rechtlichen Gehörs verstoßen, denn er sei zur mündlichen Verhandlung am [X.] nicht ordnungsgemäß geladen worden. Insoweit liege ein Verstoß gegen § 63 Abs 3 Sozialgerichtsgesetz ([X.]) iVm § 184 Abs 2 Satz 3 Zivilprozessordnung (ZPO) vor. In der Aufforderung, einen Zustellungsbevollmächtigten im Inland zu benennen, sei nicht auf die Rechtsfolge des § 184 Abs 2 Satz 3 ZPO hingewiesen worden, also die [X.] mit Aufgabe zur Post im Inland nach § 184 Abs 1 ZPO. Er habe die Ladung zudem erst nach dem Termin, zeitlich zusammen mit dem Urteil, erhalten und daher nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen können.

4

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] ist zulässig. Die Beschwerde genügt hinsichtlich der geltend gemachten Verletzung des rechtlichen Gehörs den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.].

5

Die Beschwerde ist auch begründet. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 [X.], § 62 [X.]) gewährleistet, dass die Beteiligten zum gerichtlichen Verfahren herangezogen werden und Gelegenheit erhalten, sich vor Erlass der Entscheidung zum Prozessstoff zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in der Verhandlung darzulegen ([X.] vom 28.8.1991 - 7 [X.]/91 - [X.] 3-1500 § 160a [X.]). Zu diesem Zweck bestimmt der Vorsitzende Zeit und Ort der mündlichen Verhandlung und teilt sie den Beteiligten (in der Regel zwei Wochen vorher) mit (§ 110 Abs 1 Satz 1 [X.]). Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt wird, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 [X.]), also dem Anspruch auf rechtliches Gehör genügt wird (BSG vom 16.11.2000 - [X.] RA 122/99 B - [X.] 3-1500 § 160 [X.]3 S 57).

6

Gegen diese Grundsätze hat das [X.] verstoßen, als es am [X.] durch Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden hat, obwohl der Kläger gehindert war, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Nach seinen Angaben im [X.] und im abschlägig beschiedenen Anhörungsrügeverfahren vor dem [X.] (Beschluss vom 3.7.2019 - L 8 [X.] 193/16) hat er die Ladung nämlich erst zusammen mit der Ausfertigung des Urteils vom [X.] am [X.] und damit nicht rechtzeitig vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung erhalten. Dadurch ist der Anspruch des [X.], vor Erlass der Entscheidung gehört zu werden, verletzt worden. Für die Form der Ladung findet § 63 Abs 1 Satz 2 [X.] Anwendung, wonach Terminbestimmungen und Ladungen (nur noch) formlos bekanntzugeben sind. Dies ist hier geschehen. Der Vorsitzende hat dem Kläger mit einfachem Brief, gerichtet an die Anschrift in [X.], den Termin bekanntgegeben und ihn geladen. Geschieht die Übersendung wie hier formlos, so besteht keine Vermutung für den Zugang des Schriftstücks. Der Bürger trägt weder das Risiko des Verlustes im Übermittlungswege noch eine irgendwie geartete Beweislast für den [X.] ([X.] <[X.]> vom 19.6.2013 - 2 BvR 1960/12 - juris Rd[X.] 9). Ob mit der Rechtsprechung des [X.] die Rechtsprechung des 3. Senats überholt ist, wonach in Fällen der "schlichten" Bekanntgabe der Ladung nicht immer von einer Verletzung des § 62 [X.] auszugehen sei, wenn von Seiten eines Beteiligten (dort die beklagte Pflegekasse) behauptet wird, die Ladung nicht erhalten zu haben (BSG vom 1.10.2009 - B 3 P 13/09 B), kann hier offenbleiben. In dem dort entschiedenen Fall hat das BSG ausgeführt, das Gericht habe - auch noch im Rechtsmittelverfahren - von Amts wegen zu prüfen, ob die Ladung zugegangen sei. Dabei sei es nicht an die allgemeinen Vorschriften über das Beweisverfahren gebunden, sondern entscheide im Wege des sog [X.]. Im entschiedenen Fall hat der 3. Senat dabei die richterliche Überzeugung gewonnen, dass es im Hinblick auf die bestehenden Auffälligkeiten "höchst unwahrscheinlich" sei, dass die Ladung nicht bestimmungsgemäß in den Herrschaftsbereich der Pflegekasse gelangt sei. Derartige Auffälligkeiten liegen hier nicht vor. Gerade bei einer Bekanntgabe im Ausland ist es nicht "höchst unwahrscheinlich", dass mit einfacher Post versandte Schreiben den Empfänger nicht oder verspätet erreichen. Es war zudem durch Retouren bekannt, dass an den Kläger gerichtete Schreiben gehäuft ihr Ziel nicht erreichten.

7

Obwohl die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör in sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund ausgestaltet ist (vgl § 202 Satz 1 [X.] iVm § 547 ZPO), ist wegen der besonderen Bedeutung der mündlichen Verhandlung für das Gerichtsverfahren im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dadurch, dass ein Verfahrensbeteiligter an deren Teilnahme gehindert worden ist, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt beeinflusst hat (stRspr; vgl etwa BSG vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - juris Rd[X.]0 mwN; BSG vom 26.6.2007 - B 2 U 55/07 B - [X.] 4-1750 § 227 [X.] Rd[X.] 7; BSG vom 16.11.2000 - [X.] RA 122/99 B - [X.] 3-1500 § 160 [X.]3 S 62). Einer Angabe, welches Vorbringen durch das beanstandete Verfahren verhindert worden ist, bedarf es deshalb nicht (BSG aaO).

8

Da das [X.] die Ladung nicht - wie der Kläger wohl meint - nach § 63 Abs 2 Satz 1 [X.] iVm §§ 183 ff ZPO zugestellt hat, ist nicht entscheidend, ob - wie der Kläger meint - bereits deshalb von ihrer Unwirksamkeit auszugehen ist, weil die Hinweisschreiben des Vorsitzenden den Anforderungen an § 184 Abs 2 Satz 3 ZPO nicht genügen (zu den Rechtsfolgen der Unwirksamkeit einer entsprechenden Anordnung vgl nur BSG vom [X.] R 188/12 B - [X.] 4-1500 § 63 [X.] mwN).

9

Soweit die grundsätzliche Bedeutung der Sache (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]) geltend gemacht wird, genügt die Beschwerdebegründung den dafür bestehenden Darlegungsanforderungen nicht. Wenn ein Beschwerdeführer mit der Nichtzulassungsbeschwerde einen Verfassungsverstoß (hier: Verletzung von Art 2 Abs 1 [X.]; gemeint ist wohl Art 1 Abs 1 [X.] iVm dem Sozialstaatsprinzip und Art 3 [X.]) geltend macht und insoweit höchstrichterlichen Klärungsbedarf aufzeigen will, darf er nicht bloß das angeblich verletzte Grundrecht benennen. Vielmehr muss er die einschlägige Rechtsprechung des [X.] und des BSG auswerten und dazu substantiiert darlegen, woraus sich im konkreten Fall die Verfassungswidrigkeit ergeben soll. Hierzu müssen der Bedeutungsgehalt der in Frage stehenden einfachgesetzlichen Norm aufgezeigt, die Sachgründe ihrer Ausgestaltung erörtert und die Verletzung der konkreten Regelung des [X.] im Einzelnen dargetan werden. Es ist aufzuzeigen, dass der Gesetzgeber die gesetzlichen Grenzen seines weiten Gestaltungsspielraums im Sozialhilferecht überschritten hat (vgl nur BSG vom 6.8.2018 - B 10 [X.] - juris Rd[X.] 8 mwN). Eine Auswertung höchstrichterlicher Rechtsprechung fehlt hier aber gänzlich. Insbesondere fehlt eine Auseinandersetzung mit der Entscheidung des [X.] (vom 30.5.1978 - 1 BvL 26/76 - [X.]E 48, 281), wonach der sozialpolitische Auftrag zur staatlichen Fürsorgeleistung bei Auslandsaufenthalten des Berechtigten allgemein modifiziert und abgeschwächt ist, und das [X.] unter Hinweis auf die Regelung über Sozialhilfe für [X.] im Ausland nach § 119 Bundessozialhilfegesetz ([X.]; der Vorgängerregelung von § 24 [X.]) ausführt, dass gewöhnliche Leistungen der [X.] Fürsorge, ohne dass sich dagegen verfassungsrechtliche Bedenken ergäben, nur subsidiär zu den Leistungen des [X.] erbracht würden. Zudem verkennt der Kläger, dass § 24 [X.] keineswegs einen "Leistungsausschluss" regelt, sondern im Gegenteil (wenn auch unter engen Voraussetzungen) einen Sozialhilfeanspruch vorsieht.

Nach § 160a Abs 5 [X.] kann das erkennende Gericht in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.] vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Meta

B 8 SO 72/19 B

03.07.2020

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Landshut, 25. Juli 2016, Az: S 5 SO 10/16, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 110 Abs 1 S 1 SGG, § 128 Abs 2 SGG, § 63 Abs 1 S 2 SGG, § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 03.07.2020, Az. B 8 SO 72/19 B (REWIS RS 2020, 2437)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2437

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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2 BvR 1960/12

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