Bundessozialgericht, Beschluss vom 16.02.2022, Az. B 8 SO 45/21 B

8. Senat | REWIS RS 2022, 5058

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Durchführung der mündlichen Verhandlung in Abwesenheit eines Beteiligten - Zugang der Ladung - Zustellung im Ausland - Frankreich - EuAuslVwZÜbk - Einschreiben mit Rückschein - Beweisfunktion


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 12. November 2020 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Im Streit stehen Leistungen der Sozialhilfe für [X.] im Ausland.

2

Der Kläger ist [X.] Staatsangehöriger und lebt seit Juni 2015 in [X.]/[X.]. Seinen Antrag auf Gewährung von Sozialhilfe für [X.] im Ausland lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 20.10.2015; Widerspruchsbescheid vom 4.2.2016), weil weder eine außergewöhnliche Notlage vorliege noch ein [X.] bestehe. Nach erfolglosem Klageverfahren (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom [X.]) und Zurückweisung der Berufung hat der erkennende [X.] den Rechtsstreit an das [X.] ([X.]) zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen (Beschluss vom 3.7.2020 - [X.] [X.] 72/19 B). Das [X.] habe gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör verstoßen, als es durch Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden hat, obwohl der Kläger gehindert war, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen.

3

Nach der Zurückverweisung hat das [X.] Termin zur mündlichen Verhandlung auf Donnerstag, den 12.11.2020 bestimmt und die Terminmitteilung an den Kläger mittels Einschreiben mit Rückschein zweimal versandt. Beide Male ist der Rückschein im [X.] beim [X.] nicht eingegangen. Der Kläger ist zur mündlichen Verhandlung am 12.11.2020 nicht erschienen. Das [X.] hat durch Urteil die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 12.11.2020). Der Zugang des Rückscheins beim Absender sei für die Zustellung nicht erforderlich, sondern diene nur zu Beweiszwecken. Der [X.] sehe vorliegend aufgrund der Ergebnisse der Sendungsverfolgung den Nachweis als erbracht, dass der Kläger die Mitteilung vom Termin zur mündlichen Verhandlung am 12.11.2020 bereits am 14.9.2020 und damit fristgerecht erhalten habe. Der Kläger sei auf die Möglichkeit der Entscheidung auch im Falle seines Ausbleibens nach Lage der Akten hingewiesen worden. Ein Anspruch auf Sozialhilfe für [X.] im Ausland bestehe für den Kläger nicht, da weder eine außergewöhnliche Notlage noch ein [X.] gegeben sei.

4

Das Urteil hat das [X.] ebenfalls mit Einschreiben gegen Rückschein an den Kläger gesandt. Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des [X.] macht der Kläger geltend, er habe die Ladung zum Termin nicht erhalten. Durch die bloße Sendungsverfolgung seitens des [X.] sei kein hinreichender Nachweis eines Zugangs bei ihm geführt worden. Das [X.] könne einen Rückschein nicht vorweisen, da es keinen Rücklauf erhalten habe. Die Sendungsverfolgung hingegen laufe automatisiert ab und setze keine explizite Bestätigung eines Zustellers voraus. Das Urteil könne auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruhen.

5

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] ist zulässig. Die Beschwerde genügt hinsichtlich der geltend gemachten Verletzung des rechtlichen Gehörs den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 [X.] 3 Sozialgerichtsgesetz ([X.]).

6

Die Beschwerde ist auch begründet. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 Grundgesetz , § 62 [X.]) gewährleistet, dass die Beteiligten zum gerichtlichen Verfahren herangezogen werden und Gelegenheit erhalten, sich vor Erlass der Entscheidung zum Prozessstoff zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in der Verhandlung darzulegen ([X.] vom 28.8.1991 - 7 [X.]/91 - [X.] 3-1500 § 160a [X.] 4 S 5). Zu diesem Zweck bestimmt der Vorsitzende Zeit und Ort der mündlichen Verhandlung und teilt sie den Beteiligten (in der Regel zwei Wochen vorher) mit (§ 110 Abs 1 Satz 1 [X.]). Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt wird, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 [X.]), also dem Anspruch auf rechtliches Gehör genügt wird (BSG vom 16.11.2000 - [X.] RA 122/99 B - [X.] 3-1500 § 160 [X.] 33 S 57).

7

Gegen diese Grundsätze hat das [X.] verstoßen, als es am 12.11.2020 durch Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung in Abwesenheit des [X.] entschieden hat. Nach dessen Angaben im [X.] hat er die Mitteilung des Termins zur mündlichen Verhandlung nicht erhalten. Dadurch ist der Anspruch des [X.], vor Erlass der Entscheidung gehört zu werden, verletzt worden. Ein Nachweis, dass der Kläger die Mitteilung erhalten hat, liegt nicht vor.

8

Für die Form der Ladung findet § 63 Abs 1 Satz 2 [X.] Anwendung, wonach [X.] und Ladungen nur noch formlos bekannt zu geben sind. Auch das gewählte Zustellungsverfahren per Einschreiben mit Rückschein ist zulässig gewesen. Eine Auslandszustellung richtet sich gemäß § 63 Abs 2 [X.] iVm § 183 Abs 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) nach den bestehenden völkerrechtlichen Vereinbarungen. Maßgeblich ist das [X.] Übereinkommen über die Zustellung von Schriftstücken in Verwaltungssachen im Ausland vom 24.11.1977 (idF der Bekanntmachung vom 6.12.1982, [X.] 1057), das auch für gerichtliche Verfahren gilt ([X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 13. Aufl 2020, § 63 Rd[X.] 16) und dem [X.] und die [X.] beigetreten sind. Keine Anwendung findet hingegen die in § 183 Abs 1 Satz 1 [X.] 1 ZPO in Bezug genommene Verordnung ([X.]) [X.] 1393/2007, die nur die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in Mitgliedstaaten betrifft und daher im öffentlich-rechtlichen Verfahren regelmäßig keine Anwendung findet [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.], 2. Aufl 2021, § 63 Rd[X.] 59).

9

Gemäß § 183 Abs 2 Satz 2 ZPO erfolgt die Übersendung von Schriftstücken aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarungen unmittelbar durch die Post bzw die Behörden des fremden Staates, wobei in ersterem Fall durch Einschreiben mit Rückschein zugestellt werden soll. Diese nach Art 11 Abs 1 des [X.]n Übereinkommens über die Zustellung von Schriftstücken in Verwaltungssachen im Ausland vorgesehene unmittelbare postalische Zustellung gilt auch im Verhältnis zu [X.], welches hiergegen keinen Vorbehalt nach Art 11 Abs 2 des Abkommens erklärt hat. Zwar ist der Rückschein - wie das [X.] zutreffend ausführt - nicht notwendige Voraussetzung für die wirksame Zustellung an den Adressaten oder seinen Bevollmächtigten, dieser erfolgt vielmehr mit der Übergabe des [X.] an diesen. Allein der Rückschein erbringt indes den Nachweis der Zustellung gemäß seiner Beweisfunktion nach § 416 ZPO ([X.] aaO Rd[X.] 9; BSG vom 7.10.2004 - B 3 KR 14/04 R - [X.] 4-1750 § 175 [X.] 1).

Auch im vorliegenden Fall kann dahinstehen, ob mit der Rechtsprechung des [X.] ([X.]) vom [X.] (2 BvR 1960/12 - Rd[X.] 9), derzufolge der Bürger weder das Risiko des Verlustes im Übermittlungsweg noch eine irgendwie geartete Beweislast für den [X.] trägt, die Rechtsprechung des 3. [X.]s des BSG überholt ist, nach der das Gericht auch im Rechtsmittelverfahren nicht an die allgemeinen Vorschriften oder das Beweisverfahren bei der Prüfung, ob die Ladung zugegangen ist, gebunden ist, sondern im Wege des sog [X.] entscheidet (BSG vom 1.10.2009 - B 3 P 13/09 B - [X.] 4-1500 § 62 [X.] 12). Der erkennende [X.] geht nach wie vor davon aus, dass gerade bei einer Bekanntgabe im Ausland die vorgenommene Wertung, es sei höchst unwahrscheinlich, dass mit einfacher Post bzw mit Einschreiben versandte Schreiben den Empfänger nicht oder verspätet erreichen, nicht gilt. Dies gilt selbst für den Umstand, dass das [X.] eine Retoure nicht hat feststellen können, da in anderen Vorgängen dieses Verfahrens solche Retouren erfolgten.

Auch die durchgeführte Sendungsnachverfolgung vermag zumindest bei einmaligem Zustellversuch per Einschreiben mit Rückschein den erforderlichen Nachweis für den Erhalt der Ladung nicht zu erbringen. Hierbei handelt es sich lediglich um eine Kontrollnachverfolgung zwischen dem die Zustellung bewirkenden Gericht und dem von ihm beauftragten Postunternehmen sowie dessen Vertragspartner im Ausland. Die aktenkundigen Ablichtungen der Sendungsverfolgung bei der [X.]n Post bzw der [X.] "[X.]" enthalten keinen verbindlichen Beleg dafür, dass die Terminmitteilung den Kläger rechtzeitig vor dem Termin erreicht hat. Insoweit ist bedeutsam, dass es sich vorliegend nicht um ein - bei [X.] ohnehin nicht mögliches - Einwurf-Einschreiben handelte, bei dem die Ablieferung durch Einwurf der Sendung in den Briefkasten des Empfängers bewirkt wird und anstelle des den Erhalt dokumentierenden Empfängers ein Vermerk des Postmitarbeiters darüber tritt, er habe die Sendung in den Briefkasten oder ins Postfach des Adressaten eingeworfen. Bei dem hier verwendeten [X.] erhält der Empfänger oder ein sonstiger [X.] die Sendung nur gegen Unterschrift auf dem Rückschein ausgehändigt, was durch die Rücksendung des letzteren bestätigt wird. Hier besteht zum einen stets das Risiko, dass der Zugang nicht bewirkt werden kann (vgl [X.] vom 8.1.2014 - IV ZR 206/13 - NJW 2014, 1010 Rd[X.] 8; [X.] vom 27.9.2016 - II ZR 299/15 - [X.]Z 212, 104 Rd[X.] 29).

Der Empfang der Mitteilung lässt sich ohne Rücklauf des unterschriebenen Rückscheins nicht mit der erforderlichen Sicherheit durch die im Rahmen der Sendungsverfolgung getätigten Angabe der [X.] Post für den 23.10.2020 "Votre courier a été distribué à son destinataire contre sa signature" nachweisen. Diese lässt weder den Postzusteller erkennen, noch zeigt sie die angeblich bei Aushändigung geleistete Unterschrift des [X.] oder erklärt, warum kein Rücklauf des Rückscheins erfolgte. Eine andere Sichtweise würde dazu führen, dass dem Kläger die Beweislast dafür auferlegt wird, eine unbelegte Behauptung des [X.] zu widerlegen, der für das Gericht tätig wird. Wenn sichergestellt werden soll, dass eine Ladung tatsächlich zugeht und die Befürchtung besteht, dass der Empfänger den Empfang vereitelt oder der Rückschein nicht zurückgesandt wird, besteht stets die Möglichkeit, die Zustellung durch die zuständige Vertretung des [X.] oder die sonstige zuständige Behörde zu bewirken (§ 63 Abs 2 [X.] iVm § 183 Abs 3 ZPO; s auch BT-Drucks 16/8839 [X.] Begründung zum Gesetzentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Forderungsdurchsetzung und Zustellung).

Obwohl die Verletzung des anspruchsrechtlichen Gehörs im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund ausgestaltet ist (vgl § 202 Satz 1 [X.] iVm § 547 ZPO), ist wegen der besonderen Bedeutung der mündlichen Verhandlung für das Gerichtsverfahren im allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dadurch, dass ein Verfahrensbeteiligter an deren Teilnahme gehindert worden ist, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt beeinflusst hat (stRspr; vgl etwa BSG vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - Rd[X.] 10 mwN; BSG vom 26.6.2007 - B 2 U 55/07 B - [X.] 4-1750 § 227 [X.] 1 Rd[X.] 7; BSG vom 16.11.2000 - [X.] RA 122/99 B - [X.] 3-1500 § 160 [X.] 33 S 62). Einer Angabe, welches Vorbringen durch das beanstandete Verfahren verhindert worden ist, bedarf es deshalb nicht.

Nach § 160a Abs 5 [X.] kann das erkennende Gericht den Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] 3 [X.] vorliegen. Der [X.] macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Das [X.] wird auch über die Kosten zu entscheiden haben.

[X.]                [X.]

Meta

B 8 SO 45/21 B

16.02.2022

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Landshut, 25. Juli 2016, Az: S 5 SO 10/16, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 110 Abs 1 S 1 SGG, § 128 Abs 2 SGG, § 63 Abs 1 S 2 SGG, § 63 Abs 2 S 1 SGG, § 183 Abs 1 S 1 ZPO vom 11.06.2017, § 183 Abs 2 S 1 ZPO vom 11.06.2017, § 183 Abs 2 S 2 ZPO vom 11.06.2017, § 416 ZPO, Art 103 Abs 1 GG, Art 11 Abs 1 EuAuslVwZÜbk, Art 11 Abs 2 EuAuslVwZÜbk

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 16.02.2022, Az. B 8 SO 45/21 B (REWIS RS 2022, 5058)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 5058

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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II ZR 299/15

2 BvR 1960/12

IV ZR 206/13

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