Bundessozialgericht, Beschluss vom 14.06.2021, Az. B 4 AS 86/21 B

4. Senat | REWIS RS 2021, 5033

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Nichtverlegung des Termins der mündlichen Verhandlung - Corona-Pandemie - Verletzung rechtlichen Gehörs


Tenor

Die Verfahren [X.] [X.]/21 B bis [X.] [X.]/21 B werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden. Führend ist das Verfahren mit dem Aktenzeichen [X.] [X.]/21 B.

Die Beschwerden der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in den Urteilen des [X.] vom 28. Januar 2021 werden als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

I. Die Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision machen einen [X.]erfahrensmangel durch Ablehnung von mit der [X.] begründeten [X.]erlegungsanträgen geltend.

2

Das [X.] hat in den den Beschwerden vorangegangenen Berufungsverfahren mit Schreiben vom 3.12.2020 - den Beteiligten zugestellt am 7. bzw 9.12.2020 - jeweils den Termin zur mündlichen [X.]erhandlung auf den [X.] bestimmt.

3

Am [X.] beantragte die Bevollmächtigte der Klägerin die Aufhebung der [X.]erhandlungstermine. Es sei befremdlich, dass das Gericht die Termine aufgrund der [X.] und der damit verbundenen allgemeinen Kontaktbeschränkungen, aber auch der Tatsache, dass der [X.] in der [X.], in der sich ihre Kanzlei befinde, bei ca 900 und im Übrigen in den [X.] [X.] (Sitz des [X.]) und [X.] (Sitz der klägerischen Kanzlei) bei über 200 liege, nicht von selbst aufhebe. Den Gerichten komme eine [X.]orbildfunktion zu. Eine Dringlichkeit, die vielleicht die Durchführung der Termine rechtfertigen könnte, liege nicht vor.

4

[X.] des [X.] teilte der Prozessbevollmächtigten daraufhin mit Fax vom [X.] mit, dass die Termine zur mündlichen [X.]erhandlung aufrechterhalten blieben. Der [X.] für die [X.] werde fast ausschließlich durch das Infektionsgeschehen in einem Pflegeheim bestimmt. Eine erhöhte Gefahr einer Übertragung des [X.]irus durch die Prozessbevollmächtigte könne daher nicht erkannt werden. Der [X.] im Landkreis [X.] sei derzeit deutlich rückläufig und habe am [X.]ortag bei unter 150 gelegen. Im Übrigen sei bei der Durchführung von [X.]erhandlungsterminen im [X.] die Einhaltung der einschlägigen Sicherheitsbestimmungen und Abstandsgebote gewährleistet. Auf die [X.]öglichkeit einer Entscheidung des [X.] auch bei Ausbleiben von Beteiligten oder deren [X.]ertretern werde erneut hingewiesen. Zudem bestehe die [X.]öglichkeit, sich während der mündlichen [X.]erhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und von dort [X.]erfahrenshandlungen vorzunehmen. Die [X.]erhandlung werde zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen.

5

[X.]it ihren Beschwerden macht die Klägerin zum einen eine [X.]erletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend. Das [X.] hätte die mündlichen [X.]erhandlungen antragsgemäß verlegen müssen. Schon die allgemeinen Kontaktbeschränkungen hätten eine Terminsaufhebung von Amts wegen geboten. Überdies seien die [X.] aufgrund der [X.]e in den [X.] [X.] und [X.] von über 200 geboten gewesen. Außerdem liege ein [X.]erstoß gegen § 110 Abs 1 Satz 1, § 110a Abs 1, § 63 Abs 1 Satz 2 [X.] vor. Das [X.] habe von der Regelung des § 110a Abs 1 [X.] Gebrauch gemacht, aber der Klägerseite keine Zugangsdaten übermittelt. Darin liege zugleich ein [X.]erstoß gegen den [X.]ündlichkeitsgrundsatz des § 124 Abs 1 [X.].

6

II. Die gemäß § 113 Abs 1 [X.] zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Nichtzulassungsbeschwerden sind unzulässig, weil der jeweils allein geltend gemachte Zulassungsgrund eines [X.]erfahrensmangels (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]) nicht in der erforderlichen Weise bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 [X.]). Die Beschwerden sind daher ohne Zuziehung [X.] zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 [X.], § 169 [X.]).

7

Nach § 160 Abs 2 [X.] [X.] ist die Revision zuzulassen, wenn ein [X.]erfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte [X.]erfahrensmangel kann nicht auf eine [X.]erletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 Satz 1 [X.] (freie richterliche Beweiswürdigung) und auf eine [X.]erletzung des § 103 [X.] (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das [X.] ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf diesen Zulassungsgrund stützt, muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 Satz 3 [X.]) die diesen [X.]erfahrensmangel des [X.] (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen [X.]angel ergeben sollen (stRspr; vgl bereits BSG vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - [X.] 1500 § 160a [X.]; [X.] in [X.]eyer-Ladewig/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 13. Aufl 2020, § 160a RdNr 16 mwN). Darüber hinaus ist aufzuzeigen, dass und warum die Entscheidung - ausgehend von der Rechtsansicht des [X.] - auf dem [X.]angel beruhen kann, also die [X.]öglichkeit der Beeinflussung des Urteils besteht (stRspr; vgl bereits BSG vom 18.2.1980 - 10 B[X.] 109/79 - [X.] 1500 § 160a [X.]6).

8

Nach diesen [X.]aßstäben ist ein [X.]erfahrensmangel nicht hinreichend bezeichnet. Dies gilt zum einen für die Rüge, das [X.] hätte die terminierten mündlichen [X.]erhandlungen verlegen müssen. Gemäß § 202 Satz 1 [X.] i[X.]m § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO kann ein Termin aus erheblichen Gründen aufgehoben oder verlegt sowie eine [X.]erhandlung vertagt werden. Die Beurteilung, ob ein erheblicher Grund vorliegt, liegt grundsätzlich im Ermessen des jeweiligen Gerichts (vgl BSG vom 8.12.2020 - B 1 KR 58/19 B - juris RdNr 12). Dieses Ermessen kann sich allerdings auf Null reduzieren mit der Folge, dass der Termin aufgehoben werden muss und anderenfalls der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 [X.]) verletzt wäre (vgl BSG vom [X.] R 254/17 B - juris RdNr 6 mwN).

9

Dass diese [X.]oraussetzungen hier vorliegen, zeigt die Beschwerdebegründung nicht auf. Der bloße Hinweis darauf, dass zum Zeitpunkt der mündlichen [X.]erhandlungen sowohl im Landkreis, in dem die Prozessbevollmächtigte der Klägerin ihren Kanzleisitz hat, als auch im Landkreis, in dem das [X.] seinen Sitz hat, auf die Infektionen mit dem Covid-19 bezogene [X.]e von über 200 bestanden hätten, reicht unabhängig davon, dass nicht deutlich wird, auf welchen Zeitraum sich diese Werte beziehen, nicht aus. Die Beschwerdebegründung hat nicht vorgetragen, dass sich den einschlägigen gesetzlichen und untergesetzlichen Regelungen des [X.] oder des Landes [X.]ecklenburg-[X.]orpommern bestimmte [X.]e entnehmen lassen, bei deren [X.]orliegen mündliche [X.]erhandlungen generell nicht mehr durchgeführt werden können. Auch unabhängig von rechtlichen [X.]orgaben ist nicht dargetan, dass eine Teilnahme an den mündlichen [X.]erhandlungen unzumutbar gewesen wäre. Eine solche Unzumutbarkeit folgt nicht allein aus den [X.]en oder der allgemeinen Infektionslage (vgl auch [X.] Nordrhein-Westfalen vom [X.] AS 833/17 - juris Rd[X.]5; [X.] vom [X.] - 3 K 2195/18 - juris Rd[X.]8; [X.] vom [X.] - 1 W 943/20 - juris RdNr 22 f; [X.], [X.], 287). [X.]ielmehr haben die Gerichte einen erheblichen Einschätzungsspielraum bei der Beurteilung, ob gerichtliche [X.]erhandlungen trotz der Infektionslage durchgeführt werden können (vgl B[X.]erfG vom 19.5.2020 - 2 BvR 483/20 - juris RdNr 8; B[X.]erfG vom 16.11.2020 - 2 BvQ 87/20 - juris RdNr 58). Ein gewisses Infektionsrisiko mit dem Corona-[X.]irus gehört derzeit für die Gesamtbevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko, von dem auch die Beteiligten eines gerichtlichen [X.]erfahrens nicht vollständig ausgenommen werden können (so B[X.]erfG vom 19.5.2020 - 2 BvR 483/20 - juris RdNr 9 zum Strafverfahren). Es besteht keine Pflicht, jegliches Infektionsrisiko auszuschließen (B[X.]erfG vom 16.11.2020 - 2 BvQ 87/20 - juris RdNr 62 f). Der Hinweis in der Beschwerdebegründung auf die "allgemeinen Kontaktbeschränkungen" wäre nur dann im Sinne der Klägerin zielführend, wenn sich diese auch auf gerichtliche [X.]erfahren erstrecken und eine mündliche [X.]erhandlung nur unter [X.]erletzung dieser Kontaktbeschränkungen durchgeführt werden könnte. Dass dies der Fall gewesen wäre, behauptet die Beschwerdebegründung aber nicht. Das [X.] hat in dem von der Beschwerdebegründung zitierten Schreiben des [X.]orsitzenden Richters des [X.] vom [X.] über die Ablehnung des [X.]erlegungsantrages vielmehr ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei der Durchführung von [X.]erhandlungsterminen vor dem [X.] die Einhaltung der einschlägigen Sicherheitsbestimmungen und Abstandsgebote gewährleistet ist. Ob eine andere Beurteilung gerechtfertigt ist, wenn aufgrund individueller Umstände, etwa wegen einer besonderen [X.]ulnerabilität eines Beteiligten (vgl [X.] vom 2.7.2020 - 3 W 41/20 - juris Rd[X.]), eine spezifische Infektionsgefahr mit dem Covid-19 glaubhaft gemacht wird (vgl § 227 Abs 2 ZPO), bedarf hier keiner Entscheidung, da die Beschwerde nicht geltend macht, solche Umstände dem [X.] vorgetragen zu haben.

Auch eine [X.]erletzung der § 124 Abs 1, § 110 Abs 1 Satz 1, § 110a Abs 1, § 63 Abs 1 Satz 2 [X.] ist nicht hinreichend bezeichnet. Die Beschwerdebegründung verweist lediglich auf das Schreiben des [X.]orsitzenden Richters des [X.] vom [X.], wonach die [X.]öglichkeit bestehe, sich während der [X.]erhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und von dort [X.]erfahrenshandlungen vorzunehmen. Auch wenn sich dem Wortlaut des Schreibens nicht eindeutig entnehmen lässt, ob hierin eine Gestattung iS des § 110a Abs 1 Satz 1 [X.] oder bloß ein Hinweis auf die [X.]öglichkeit, eine solche Gestattung zu beantragen, liegen soll, liegt jedenfalls deswegen keine Gestattung vor, weil eine solche durch Beschluss ergehen muss ([X.]/[X.]/[X.], BeckOGK [X.], § 110a RdNr 27 mwN, Stand 1.5.2021; [X.] in [X.]eyer-Ladewig/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 13. Aufl 2020, § 110a RdNr 8; [X.] in [X.]/[X.]oelzke, jurisPK-[X.], 2017, § 110a RdNr 22; Beispiel: [X.] - B 5 RE 9/19 R - juris). Damit lagen die [X.]oraussetzungen für eine Durchführung der mündlichen [X.]erhandlungen nach [X.]aßgabe des § 110a [X.] schon deswegen nicht vor. Die Rüge der Beschwerde, dass das [X.] keine Zugangsdaten mitgeteilt habe, geht daher ins Leere.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 Satz 1, Abs 4 [X.].

Meta

B 4 AS 86/21 B

14.06.2021

Bundessozialgericht 4. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Neubrandenburg, 11. April 2019, Az: S 12 AS 1342/14

§ 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 227 Abs 1 S 1 ZPO, § 62 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 14.06.2021, Az. B 4 AS 86/21 B (REWIS RS 2021, 5033)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 5033

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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2 BvR 483/20

2 BvQ 87/20

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