Bundesfinanzhof, Beschluss vom 26.01.2012, Az. II B 70/11

2. Senat | REWIS RS 2012, 9755

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Gegenstand

Keine Steuerverweigerung aus Gewissensgründen


Leitsatz

NV: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs 1 GG) wird durch die Pflicht zur Steuerzahlung nicht berührt. Die auf der Budgetverantwortung des Parlaments und dem demokratischen Prinzip beruhende haushaltsrechtliche Verwendungsentscheidung über die vereinnahmten Steuern unterliegt keinem Vorbehalt der Gewissensentscheidung des Einzelnen zu der Frage, wie Steuern zu verwenden sind.

Gründe

1

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) herausgestellte Frage, ob individuelle Gewissensgründe die Stundung der Einkommensteuer bis zur Schaffung einer gewissensneutralen Steuerzahlungsmöglichkeit rechtfertigen, hat keine grundsätzliche Bedeutung.

2

Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO), wenn die für die Beurteilung des [X.] maßgebliche Rechtsfrage das (abstrakte) Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Die Rechtsfrage muss klärungsbedürftig und klärungsfähig sein. An der Klärungsbedürftigkeit fehlt es, wenn die Rechtsfrage bereits durch die Rechtsprechung des [X.] ([X.]) hinreichend geklärt ist und keine neuen Gesichtspunkte erkennbar sind, die eine erneute Prüfung und Entscheidung dieser Frage erforderlich machen (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 115 Rz 28, m.w.N.). So liegt es im Streitfall.

3

a) Nach der Rechtsprechung sowohl des [X.] (z.B. Entscheidungen vom 6. Dezember 1991 [X.]/89, [X.]E 166, 315, [X.] 1992, 303, und vom 16. Oktober 2003 [X.], [X.]/NV 2004, 311) als auch des [X.] (z.B. Beschlüsse vom 18. April 1984  1 BvL 43/81, [X.] 67, 26; vom 9. Oktober 1986  1 BvR 1013/86, [X.], Abgabenordnung, § 3, [X.] 2; vom 26. Februar 1991  1 BvR 752/87, [X.] --[X.]-- 1991, 722; vom 26. August 1992  2 BvR 478/92, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1993, 455; vom 2. Juni 2003  2 BvR 1775/02, NJW 2003, 2600; vom 2. Mai 2007  2 BvR 475/02, [X.], 900) kann sich der Steuerbürger nicht der Mitfinanzierung von [X.], die er aus Gewissensgründen ablehnt, entziehen.

4

Der Schutzbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--) ist durch die Pflicht zur Steuerzahlung nicht berührt und kann daher auch keinen Anspruch auf gewissenskonforme Verwendung der Steuern begründen. Vielmehr sind der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) von vornherein Schranken durch die Grundrechte Dritter sowie durch andere grundlegende Verfassungsprinzipien gesetzt. Zu letzteren gehören auch die Budgetverantwortung des [X.] (Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG) und das [X.] Prinzip (Art. 20 Abs. 2 i.V.m. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG). Diese grundlegenden Verfassungsprinzipien und die auf ihnen beruhende haushaltsrechtliche Verwendungsentscheidung über die vereinnahmten Steuern unterliegen demgemäß keinem Vorbehalt der Gewissensentscheidung des Einzelnen zu der Frage, wie die staatlichen Einnahmen aus Steuern zu verwenden sind.

5

b) Das Beschwerdevorbringen zeigt keine Gesichtspunkte auf, aus denen sich ein weiterer Klärungsbedarf ergibt.

6

aa) Entgegen der Meinung des [X.] bietet das Urteil des [X.] (BVerwG) vom 21. Juni 2005  2 WD 12/04 (BVerwGE 127, 302) keinen Anlass zu einer gänzlichen Neubeurteilung der die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen betreffenden Rechtsgrundsätze. Die in der Beschwerdebegründung herausgestellten Ausführungen (insbesondere unter [X.]) betreffen die Gewissensentscheidung eines Soldaten in Bezug auf die Nichtbefolgung eines ihm erteilten Befehls und der sich daraus ergebenden unmittelbaren Handlungsanweisung. In einer vergleichbaren Konfliktsituation befindet sich ein Steuerpflichtiger, der eine Mitfinanzierung von [X.] aus Gewissensgründen ablehnt, nicht. In der Pflicht zur Steuerzahlung liegt --wegen der davon zu trennenden haushaltsrechtlichen [X.] kein unmittelbar eigenhändiges Handeln, das für den Steuerpflichtigen zu einem unüberwindbaren Gewissenskonflikt führen kann.

7

bb) Der Kläger zieht auch zu Unrecht den Verfassungsrang des Budgetrechts des [X.] in Zweifel. Dieses Recht ist ein grundlegender Teil der [X.]n Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat (vgl. z.B. [X.] vom 7. September 2011  2 BvR 987/10 u.a., NJW 2011, 2946) und umfasst auch das Recht des [X.], bei der Verabschiedung des Haushaltsplans der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für eine militärische Verteidigung Rechnung zu tragen (vgl. z.B. [X.]-Beschluss in [X.] 1991, 722, m.w.N.).

8

cc) Schließlich gibt das BVerwG-Urteil in BVerwGE 127, 302 auch keinen Anlass zur Prüfung, ob und wie die Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) eines Steuerpflichtigen mit dem Budgetrecht des [X.] im Wege "praktischer Konkordanz" harmonisiert werden kann. Das BVerwG-Urteil (unter [X.] 4.1.5.3.2.e) erkennt in Bezug auf die Gewissensfreiheit die Notwendigkeit zur Herstellung "praktischer Konkordanz" nur für den Fall, dass "tatsächlich eine Kollision zwischen den sachlichen Geltungsbereichen mehrerer Verfassungsbestimmungen vorliegt, die es logisch und systematisch zwingend erscheinen lässt, eine wechselseitige Optimierung vorzunehmen". Eine solche Kollisionslage besteht indes --wie sich aus der unter 1.a angeführten Rechtsprechung des [X.] und des [X.] ergibt-- zwischen der Gewissensfreiheit und dem Budgetrecht des [X.] nicht.

Meta

II B 70/11

26.01.2012

Bundesfinanzhof 2. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 6. Juni 2011, Az: 10 K 1128/09, Urteil

§ 115 Abs 2 Nr 1 FGO, Art 4 Abs 1 GG, Art 20 Abs 2 GG, Art 38 Abs 1 S 2 GG, Art 110 Abs 2 S 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 26.01.2012, Az. II B 70/11 (REWIS RS 2012, 9755)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 9755


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 1 BvR 570/12

Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 570/12, 06.06.2012.


Az. II B 70/11

Bundesfinanzhof, II B 70/11, 26.01.2012.


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2 BvR 987/10

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