Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.01.2015, Az. II ZB 11/14

2. Zivilsenat | REWIS RS 2015, 16933

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Gegenstand

Kapitalanleger-Musterverfahren: Zeitliche Grenze für eine Erweiterung des Verfahrensgegenstands im Altfall


Leitsatz

Die Parteien können den Gegenstand eines Kapitalanleger-Musterverfahrens nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht erweitern.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde des [X.] gegen den Beschluss des 17. Zivilsenats des [X.] vom 17. März 2014 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des [X.] trägt der [X.].

Der Streitwert des [X.] wird auf 10.000 € festgesetzt.

Gründe

A.

1

Der [X.] macht als Aktionär der [X.] zu 1 Schadensersatzansprüche wegen der Verbreitung fehlerhafter Kennzahlen aus Jahresabschlüssen geltend. Die [X.] zu 1, die [X.], ist die Holding der [X.]. Der [X.] zu 2 war Mitglied, zeitweise auch Vorsitzender des Vorstands der [X.] zu 1.

2

Beim [X.] sind mehrere vergleichbare Verfahren gegen die [X.] anhängig. Dem zugrunde liegt die bilanzielle Behandlung der Erträge aus [X.] und [X.] bei zwei Tochtergesellschaften.

3

Das [X.] hat auf die von dem [X.] und 31 Beigeladenen gestellten Anträge durch Vorlagebeschluss vom 30. Dezember 2008 eine Entscheidung des [X.] nach dem [X.] herbeigeführt. Nach Beweisaufnahme durch Sachverständigengutachten hat das [X.] aufgrund mündlicher Verhandlung vom 24. September 2012, in der es u.a. rechtliche Hinweise zur Reichweite des [X.] erteilt, beiden Seiten die Möglichkeit zur Stellungnahme bis zum 29. Oktober 2012 eingeräumt und [X.] auf den 16. November 2012 bestimmt hatte, den [X.] mit [X.] vom 16. November 2012 ([X.] – 17 Kap 1/09, BeckRS 2012, 23479) teilweise stattgegeben und sie im Übrigen zurückgewiesen.

4

Die gegen die Zurückweisung der weitergehenden Anträge gerichtete Rechtsbeschwerde des [X.]s und weiterer Beigeladener hat der Senat mit Beschluss vom 1. Juli 2014 ([X.], [X.], 2074) zurückgewiesen.

5

Am 15. November 2012 - einen Tag vor Verkündung des [X.]s des [X.] am 16. November 2012 - hat der [X.] beim [X.] beantragt, den Vorlagebeschluss zu ergänzen. Das [X.] hat den Antrag als unzulässig zurückgewiesen und unter anderem ausgeführt, dass er nicht „bis zum Abschluss des [X.]“ im Sinne des § 13 Abs. 1 [X.] in der bis zum 31. Oktober 2012 geltenden Fassung (im Folgenden: [X.]) gestellt worden sei, denn darunter sei der Schluss der mündlichen Verhandlung zu verstehen; jedenfalls hätte er innerhalb der vom [X.] gesetzten Frist bis zum 29. Oktober 2012 gestellt werden müssen.

6

Der hiergegen gerichteten sofortigen Beschwerde des [X.]s hat das [X.] nicht abgeholfen und die Sache dem [X.] vorgelegt. Dieses hat die sofortige Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen.

B.

7

Das [X.] hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:

8

Die sofortige Beschwerde sei zulässig, insbesondere statthaft. Zwar sei sie in § 13 [X.] aF nicht ausdrücklich genannt. Ihre Statthaftigkeit ergebe sich aber aus § 3 Abs. 1 EGZPO i.V.m. § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO.

9

Die sofortige Beschwerde sei jedoch unbegründet, da das [X.] den ergänzenden Musterfeststellungsantrag des [X.]s zu Recht als verspätet und damit als unzulässig angesehen habe. Die in § 13 Abs. 1 [X.] aF vorgesehene zeitliche Begrenzung „bis zum Abschluss des [X.]“ sei zwar dem Wortlaut nach mehrdeutig, aber dahingehend auszulegen, dass eine Ergänzung nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung möglich sei.

Für seine der Auffassung des [X.]s entsprechende Auslegung hat das [X.] unter anderem darauf abgehoben, dass das Musterverfahren gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 [X.] aF im Grundsatz ein den Regelungen der Zivilprozessordnung unterworfenes Verfahren sei. Ergänzende Musterfeststellungsanträge seien wie [X.] im Sinne von § 261 Abs. 2, § 297 ZPO in der letzten mündlichen Verhandlung, spätestens jedoch innerhalb einer vom Gericht nach § 139 Abs. 5 ZPO nachgelassenen Schriftsatzfrist zu stellen. Auch das [X.] messe der mündlichen Verhandlung eine entscheidende Bedeutung bei, denn das [X.] erlasse den [X.] gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 [X.] aF aufgrund mündlicher Verhandlung. Außerdem belegten sowohl die - von [X.] und [X.] näher dargestellte - Entstehungsgeschichte des § 13 [X.] aF als auch die Gesetzesbegründung zur Novellierung des [X.]es diese Sichtweise.

Schließlich entspreche dies auch Sinn und Zweck des [X.]. Zwar sei es richtig, dass das Musterverfahren zu einer möglichst umfassenden Klärung von Fragestellungen führen solle, weshalb es wegen der Sperrwirkung des § 5 [X.] aF gerade die Möglichkeit gebe, dem [X.] durch Erweiterung des [X.] weitere klärungsbedürftige Fragen vorzulegen. Vor allem aber sei grundsätzlicher Zweck des [X.], den Rechtsschutz des Einzelnen in sog. „Streuschadenfällen“ effektiver zu gestalten und hierfür die Interessen zu bündeln. Die Gewährung effektiven Rechtsschutzes verlange aber eine besondere Beachtung der Beschleunigungs- und Konzentrationsgrundsätze der Zivilprozessordnung. Eine Zulassung von Ergänzungsanträgen bis - so der [X.] im Beschwerdeverfahren - eine Minute vor dem [X.] oder sogar bis zum Eintritt der Rechtskraft des [X.]s eröffne dagegen die Möglichkeit, das Verfahren bis zur Grenze der Prozessverschleppung (§ 1 Abs. 3 Nr. 2 [X.] aF) zu verzögern. Die Pflicht zur Prozessförderung treffe auch die Parteien, weshalb etwaige Ergänzungsanträge bis zu dem Zeitpunkt, der Grundlage der Entscheidungsfindung des Gerichts sei, gestellt werden müssten.

C.

Die Rechtsbeschwerde ist zulässig.

I. Nach § 27 des [X.]es in der seit dem 1. November 2012 geltenden Fassung ([X.] I, S. 2182; im Folgenden: [X.] nF) ist auf das vorliegende Rechtsbeschwerdeverfahren das [X.] in seiner bis zum 1. November 2012 geltenden Fassung anzuwenden, weil vor dem 1. November 2012 mündlich verhandelt worden ist. Der Antrag auf Erweiterung des Gegenstands des ursprünglichen [X.] stellt keinen neuen [X.]antrag dar.

II. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft. Zwar findet § 15 Abs. 1 [X.] aF keine Anwendung; das [X.] hat die Rechtsbeschwerde aber gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO, der über § 3 Abs. 1 EGZPO anwendbar ist, zugelassen. Hieran ist der Senat gemäß § 574 Abs. 3 Satz 2 ZPO gebunden. Dass nach § 13 Abs. 2 [X.] aF Erweiterungen eines [X.] unanfechtbar sind, führt nicht auch zur Unanfechtbarkeit von die Erweiterung ablehnenden Beschlüssen (ähnlich bei Zurückweisung eines Musterfeststellungsantrags gemäß § 4 Abs. 4 [X.] aF [X.], Beschluss vom 21. April 2008 - [X.], [X.]Z 176, 170 Rn. 4; [X.] in KK-[X.], 1. Aufl., § 13 Rn. 15, 23; [X.]/[X.], NJW 2005, 2737, 2739; a.[X.] in Vorwerk/[X.], [X.], 2007, § 13 Rn. 10 und § 4 Rn. 36).

D.

Die Rechtsbeschwerde ist jedoch unbegründet.

Zu Recht haben Land- und [X.] angenommen, dass die Parteien den Gegenstand des [X.] nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung im Sinne von § 14 Abs. 1 Satz 1 [X.] aF erweitern können. Zwar ist die in § 13 Abs. 1 [X.] aF enthaltene Bestimmung, dass ergänzende Musterfeststellungsanträge „bis zum Abschluss des [X.]“ gestellt werden müssten, ihrem Wortlaut nach nicht eindeutig. Für diese Auslegung sprechen aber die Gesetzesmaterialien, der systematische Zusammenhang und der Sinn und Zweck des § 13 Abs. 1 [X.] aF.

1. Die Begründung zum Regierungsentwurf des [X.]es aF geht ausdrücklich davon aus, dass Erweiterungen des Verfahrensgegenstands des [X.] nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung möglich seien (BT-Drucks. 15/5091, [X.]). Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber diese Vorstellung mit der Übernahme der dem Wortlaut des § 13 Abs. 1 [X.] aF entsprechenden Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (vgl. BT-Drucks. 15/5695, [X.], 24) aufgegeben hätte. Der Begründung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu § 13 [X.] aF lässt sich kein Anhaltspunkt dafür entnehmen, dass gegenüber der Fassung des [X.] eine Änderung bezüglich des maßgebenden Zeitpunkts erfolgen sollte.

Dieser Befund wird bestätigt durch die Gesetzesbegründung zur Neufassung des § 15 [X.], der die Wendung „bis zum Abschluss des [X.]“ nicht mehr enthält. Darin wird ausgeführt, dass [X.] vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung zu stellen seien und allenfalls eine Wiedereröffnung nach § 156 ZPO in Betracht komme (BT-Drucks. 17/8799, [X.]). Hätte dies aus Sicht des Gesetzgebers eine Änderung oder jedenfalls eine Klarstellung gegenüber § 13 [X.] aF bedeutet, so wäre zu erwarten gewesen, dass sich in der Gesetzesbegründung eine ausdrückliche Erwähnung finden würde, was aber - im Gegensatz zu anderen dort angesprochenen Punkten wie der Verlagerung der Entscheidungskompetenz auf das [X.] und der Streichung des Begriffs „Gegenstand des [X.]“ - gerade nicht der Fall ist.

Demgegenüber spricht nichts für die Auffassung des [X.]s, dass der Gesetzgeber mit der Formulierung „bis zum Abschluss des [X.]“ den Zeitpunkt des Erlasses des [X.]s gemeint haben könnte oder sogar erst den des Eintritts der Rechtskraft. Nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung ist die Erhebung einer neuen Klageforderung oder einer Klageerweiterung durch einen nach Schluss der mündlichen Verhandlung eingereichten Schriftsatz unzulässig, weil [X.] spätestens in der letzten mündlichen Verhandlung gestellt werden müssen (vgl. nur [X.], Beschluss vom 19. März 2009 - [X.]/08 Rn. 8, NJW-RR 2009, 853 Rn. 8 mwN). Allenfalls können sie zu einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gemäß § 156 ZPO führen. Hätte der Gesetzgeber von diesen allgemein anerkannten Grundsätzen abweichen wollen, obwohl er noch in der Begründung des [X.] eben hiervon ausgegangen war, wären entsprechende Ausführungen zu erwarten gewesen.

2. Auch die in § 9 [X.] aF angeordnete Anwendung der im ersten Rechtszug für das Verfahren vor den [X.]en geltenden Vorschriften der Zivilprozessordnung stützt diese Auslegung des § 13 [X.] aF. So ist eine Klageänderung im Sinne von § 263 ZPO nach Schluss der mündlichen Verhandlung vorbehaltlich einer Wiedereröffnung gemäß § 156 ZPO grundsätzlich ausgeschlossen. Zwar lassen sich die Begrifflichkeiten der Zivilprozessordnung nicht ohne weiteres auf das Verfahren nach dem [X.] übertragen. Auch sollte § 13 [X.] aF nach der Vorstellung des Gesetzgebers gerade eine [X.] zu § 263 ZPO sein (BT-Drucks. 15/5091, [X.]). Gleichwohl zeigt schon die ausdrückliche Erwähnung des § 263 ZPO in der Begründung des [X.], dass ein Vergleich der Erweiterung des Gegenstands des [X.] gemäß § 13 [X.] aF mit einer Klageänderung im Sinne von § 263 ZPO jedenfalls nahe liegt.

Entgegen der Auffassung des Rechtsbeschwerdeführers spricht auch die Sperrwirkung des § 5 [X.] aF für kein anderes Ergebnis. Zwar ist es richtig, dass die Einleitung eines weiteren [X.] in allen gemäß § 7 [X.] aF auszusetzenden Verfahren mit Erlass des [X.] unzulässig ist (so auch weiterhin §§ 7 f. [X.] nF). Hieraus lässt sich aber auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten - mit Blick auf die Gebote der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und rechtlichen Gehörs - nicht schließen, dass mit dem Begriff „Abschluss des [X.]“ im Sinne von § 13 [X.] aF der Eintritt der Bindungswirkung gemäß § 16 [X.] aF gemeint sein müsse, um es den Parteien zu ermöglichen, bis dahin - unter Umständen also sogar während eines laufenden Rechtsbeschwerdeverfahrens gegen den [X.] - eine Erweiterung des Gegenstands des [X.] zu erwirken. Denn eine Einführung neuer Gesichtspunkte in die Ausgangsverfahren bleibt vorbehaltlich der dort anzuwendenden Präklusionsvorschriften grundsätzlich ebenso möglich wie die Erhebung einer neuen Klage im Falle einer beabsichtigten, aber nach Schluss der mündlichen Verhandlung grundsätzlich ausgeschlossenen Klageänderung.

3. Im Übrigen widerspräche - bei unterstellter Möglichkeit der Erweiterung des [X.] noch nach Schluss der mündlichen Verhandlung - der Erlass eines Teilmusterentscheids entgegen der Auffassung des [X.]s Sinn und Zweck des [X.]. Das Ziel des [X.], den Rechtsschutz des Einzelnen in sog. „Streuschadenfällen“ effektiver zu gestalten, würde konterkariert, wenn ein Teil des [X.] noch beim [X.] und ein anderer Teil bereits beim [X.] anhängig wäre. Selbst bei Eintritt der - dann nur teilweisen - Bindungswirkung gemäß § 16 [X.] aF erschiene die Fortführung der Ausgangsverfahren vor der endgültigen Entscheidung über alle im Musterverfahren zu klärenden Fragen zumindest unpraktikabel und weniger sinnvoll als die Einführung der beabsichtigten Erweiterungen in die jeweiligen Ausgangsverfahren nach rechtskräftigem Abschluss des - nicht erweiterten - [X.].

Bergmann                     Strohn                      Reichart

                  Drescher                     Born

Meta

II ZB 11/14

20.01.2015

Bundesgerichtshof 2. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend OLG Karlsruhe, 17. März 2014, Az: 17 Kap 1/13

§ 13 Abs 1 KapMuG vom 16.08.2005, § 14 Abs 1 S 1 KapMuG vom 16.08.2005

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.01.2015, Az. II ZB 11/14 (REWIS RS 2015, 16933)

Papier­fundstellen: NJW 2015, 2188 REWIS RS 2015, 16933

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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