Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 16.09.2010, Az. V ZB 120/10

V. Zivilsenat | REWIS RS 2010, 3302

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[X.]BESCHLUSS [X.]/10 vom 16. September 2010 in der [X.] Nachschlagewerk: ja [X.]: nein [X.]R: jaFamFG §§ 62 Abs. 1, 68 Abs. 3 Satz 2; [X.] § 62 Abs. 2 Satz 3 a) [X.] darf von einer erneuten Anhörung des Betroffenen nicht absehen, wenn es auf die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Ausländers, sich einer Abschiebung nicht entziehen zu wollen, und dessen Glaubwürdigkeit an-kommt (Fortsetzung von Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - [X.], [X.] 2010, 152, 153). b) Eine erneute Anhörung durch das Beschwerdegericht ist auch dann unverzichtbar, wenn die Entscheidung der ersten Instanz auf einer Verletzung des Verfahrens-grundrechts des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) beruht. c) Kann eine Verletzung des Grundrechts nach Art. 103 Abs. 1 GG in dem Be-schwerdeverfahren infolge der inzwischen erfolgten Abschiebung nicht mehr durch erneute Anhörung behoben werden, ist davon auszugehen, dass die Haftanord-nung des Amtsgerichts auf dem Verfahrensfehler beruht. [X.], Beschluss vom 16. September 2010 - [X.]/10 - [X.] - 2 - Der V. Zivilsenat des [X.] hat am 16. September 2010 durch [X.] Dr. [X.], [X.] Schmidt-Räntsch, die Richterin [X.] und [X.] Czub und [X.] beschlossen: Der Betroffenen wird wegen der Versäumung der Fristen für die Einlegung und für die Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer des [X.] Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt. Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des [X.] vom 30. Januar 2010 und der Beschluss der 4. Zivilkammer des [X.] vom 12. Februar 2010 die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechen-den Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Betroffenen wer-den der Landeshauptstadt [X.] auferlegt. Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 3.000 •. Gründe: [X.] Die am 16. Februar 1943 geborene Betroffene, eine [X.] St[X.]tsangehörige, hielt sich mehrere Jahre im [X.] auf. Sie war nicht 1 - 3 - im Besitz von Ausweispapieren und wurde am 29. Januar 2010 festgenommen. Auf Antrag der Beteiligten zu 2, der Ausländerbehörde am [X.], hat das Amtsgericht nach Anhörung und Einsichtnahme in die Ausländerakte am 30. Januar 2010 die Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 29. April 2010 und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet. 2 Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen hat das [X.] mit Beschluss vom 12. Februar 2010 zurückgewiesen. Die Betroffene ist am 12. März 2010 in die [X.] der [X.] abgeschoben worden. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt sie, die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung fest-zustellen. I[X.] [X.] ist davon ausgegangen, dass die Betroffene we-gen unerlaubter Einreise vollziehbar ausreisepflichtig sei. Die Haft zur Siche-rung der Abschiebung sei anzuordnen gewesen, weil die Betroffene nicht glaubhaft gemacht habe, dass sie sich der Abschiebung nicht entziehen werde. Es stehe auch nicht fest, dass die Abschiebung nicht binnen drei Monaten nach der Haftanordnung durchgeführt werden könne. Eine nochmalige Anhörung der Betroffenen sei entbehrlich, da durch sie keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten gewesen seien. 3 II[X.] 1. Die Rechtsbeschwerde ist nach Erledigung der Hauptsache durch den Vollzug der Abschiebung der Betroffenen mit dem Feststellungsantrag analog § 62 FamFG statthaft, wofür es nach § 70 Abs. 3 Nr. 3 FamFG einer Zulassung durch das Beschwerdegericht nicht bedarf (vgl. Senat, Beschlüsse vom 25. Februar 2010 - [X.], NVwZ 2010, 726, 727 und vom 4. März 2010 4 - 4 - - [X.], [X.] 2010, 154, 155). Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg. 5 2. Die Entscheidung des [X.] hat die Betroffene in ihren Rechten verletzt. 6 a) Die Entscheidung beruht auf einem Verfahrensmangel. Die Feststel-lung, die Betroffene habe nicht glaubhaft gemacht, dass sie sich der [X.] nicht entziehen werde (vgl. § 62 Abs. 2 Satz 3 [X.]), hätte nur nach einer persönlichen Anhörung der Betroffenen durch das Beschwerdegericht ergehen dürfen. [X.]) Dieser Verfahrensmangel ist nach § 74 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 71 Abs. 3 Nr. 2 Buchstabe b FamFG im Rechtsbeschwerdeverfahren zu prüfen, da die Rechtsbeschwerde zu Recht die unterlassene Anhörung der Betroffenen moniert und beanstandet, dass die den Entzug der persönlichen Freiheit betref-fende Entscheidung auf unzureichender richterlicher Sachaufklärung beruht und nicht eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage hat, welche der Be-deutung der Freiheitsgarantie gerecht wird (vgl. [X.] 58, 208, 222; 70, 297, 308; NJW 1998, 1774, 1775; [X.] 2008, 358, 360; NJW 2009, 2659, 2662). 7 bb) Die Verfahrensrüge ist begründet. [X.] durfte von der auch in einem Beschwerdeverfahren grundsätzlich erforderlichen Anhörung (vgl. Senat, Beschlüsse vom 28. Januar 2010 - [X.], [X.] 2010, 163; vom 4. März 2010 - [X.], [X.] 2010, 152, 153 und [X.], [X.] 2010, 154, 155) nicht absehen. 8 (1) Nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG ist dies zwar ausnahmsweise - auch unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 [X.] - zulässig, wenn eine persönli-che Anhörung in erster Instanz bereits erfolgt ist und zusätzliche Erkenntnisse 9 - 5 - durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (Senat, Beschlüsse vom 4. März 2010 - [X.], [X.] 2010, 152, 153 und [X.], [X.] 2010, 154, 155). Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Sachverhalt sich für eine Entscheidung nach Aktenlage eignet ([X.] 1992, 1813, 1814 - [X.] gegen [X.]; Senat, Beschluss vom 28. Januar 2010 - [X.], [X.] 2010, 163), woran es fehlt, wenn es um die Würdigung solcher Umstände geht, die nur auf Grund einer durch unmittelbare Anhörung des Betroffenen gewon-nenen Überzeugung angemessen beurteilt werden können (vgl. [X.], [X.]O). So ist es hier. [X.] durfte nicht allein aus der Vermutung in § 62 Abs. 2 Satz 3 [X.], dass der unerlaubt eingereiste und deshalb vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer sich einer Abschiebung entziehen wolle (dazu [X.], Beschluss vom 17. Juni 2010 - [X.], juris Rn. 15), den von der [X.] vor dem Amtsgericht bekundeten Willen zur Rückkehr in ihr Heimat-land und zur Kooperationsbereitschaft mit der Ausländerbehörde ohne erneute Anhörung als nicht glaubhaft gemacht ansehen. [X.] hätte sich vielmehr durch eine persönliche Vernehmung und Befragung der [X.] selbst davon überzeugen müssen, ob ihre Behauptungen zur ihrer Ausreise- und Kooperationsbereitschaft glaubhaft sind oder nicht. 10 Der Senat hat in einem - allerdings erst nach der angegriffenen Ent-scheidung - gefassten Beschluss vom 4. März 2010 ([X.], [X.] 2010, 152, 153) ausgeführt, dass die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des [X.] (sich der Abschiebung nicht entziehen zu wollen) und dessen persönli-che Glaubwürdigkeit nur auf Grund einer Anhörung und des dabei gewonnenen persönlichen Eindrucks hinreichend sicher beantwortet werden können. Diesen Anforderungen wird der angefochtene Beschluss nicht gerecht. 11 - 6 - Die Erklärungen der Betroffenen über ihren Willen zur Rückkehr auf die [X.] konnten auch nicht - wie das Beschwerdegericht meint - deshalb von vornherein als nicht glaubhaft angesehen werden, weil die Betroffene für ihren Ausreisewillen keinen Nachweis (wie etwa ein Flugticket) habe vorlegen können. Ein nahe liegender Grund dafür könnten die geringen Barmittel der [X.] bei ihrem Aufgreifen (von weniger als zehn Euro) gewesen sein, mit denen sich ein solches Ticket nicht beschaffen lässt. Der von ihr bekundeten Bereitschaft, sich abschieben zu lassen, stünde das nicht entgegen. 12 (2) Die erneute Anhörung war im vorliegenden Fall überdies wegen der Verletzung des [X.] auf rechtliches Gehör durch die erste Instanz (Art. 103 Abs. 1 GG) unverzichtbar. 13 (a) Der Verstoß gegen das Verfahrensgrundrecht ergibt sich hier daraus, dass das Amtsgericht sich mit der einzigen Erklärung der Betroffenen in ihrer Anhörung überhaupt nicht auseinandergesetzt hat. Es hat nur den Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 [X.] festgestellt und im Übrigen angemerkt, dass Gründe, welche ausnahmsweise ein Absehen von der Haft rechtfertigten, nicht ersichtlich seien. Bleibt - wie hier - das einzige (und damit zentrale) [X.] zu einer nach § 62 Abs. 2 Satz 3 [X.] gebotenen Prüfung voll-kommen unberücksichtigt, ist davon auszugehen, dass das Gericht seiner Pflicht nach Art. 103 Abs. 1 GG nicht nachgekommen ist, das Vorbringen zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägung einzubeziehen (Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - [X.], [X.] 2010, 152, 153). 14 (b) Unter Berücksichtigung dieses - auch in der Beschwerdebegründung angesprochenen - [X.], hätte das Beschwerdegericht die Betrof-fene selbst dann erneut anhören müssen, wenn es davon keine zusätzlichen Erkenntnisse erwartete. [X.] darf nämlich von der [X.] - 7 - tigung in § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG keinen Gebrauch machen, wenn die [X.] bereits auf einem Verfahrensfehler beruht (vgl. [X.]/Weinreich, FamFG, 2. Aufl., § 68 Rn. 40; zum [X.]: [X.] 1999, 12, 13; OLG Rostock [X.] 2006, 187, 188; [X.] [X.] 2007, 386, 387). Beruht die erstinstanzliche Entscheidung auf einer Verletzung des [X.] auf rechtliches Gehör, sind die Ermittlungen des [X.] erster Instanz keine geeignete Grundlage für das weitere Verfahren. Die Anhörung muss dann in der Beschwerdeinstanz - unter Beachtung der Verfah-rensgrundrechte des Betroffenen - durchgeführt werden. b) Die Betroffene ist durch den Verfahrensmangel auch in ihrem Frei-heitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) verletzt worden. Ob der auf der Ver-letzung des [X.] nach Art. 103 Abs. 1 GG beruhende Verfah-rensfehler im Beschwerdeverfahren noch geheilt werden kann, bedarf hier [X.] Entscheidung, weil das Beschwerdegericht die gebotene Anhörung der [X.] unterlassen hat und diese auf Grund der Abschiebung auch nicht mehr durchgeführt werden kann. Es ist deshalb zu Gunsten der Betroffenen davon auszugehen, dass die Beschwerdeentscheidung auf dem [X.] beruht, und die Rechtswidrigkeit der Beschwerdeentscheidung festzustellen ([X.], [X.] 2007, 74, 76; [X.], [X.] 2008, 87, 88), weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Beschwerdegericht nach [X.] Anhörung zu einer für die Betroffene günstigeren Entscheidung gelangt wä-re (vgl. [X.] 62, 392, 396; 89, 381, 392 f.). 16 3. Der - nach der Erledigung der Hauptsache im Rechtsbeschwerde-verfahren zulässige - Antrag auf Feststellung, dass die Betroffene bereits durch die Haftanordnung in ihren Rechten verletzt wurde (dazu: Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - [X.], [X.] 2010, 152, 154 mwN), ist nach dem vorstehend Ausgeführten ebenfalls begründet, weil der Beschluss des [X.] - 8 - gerichts auf einer Verletzung des [X.] der Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs beruht hat. V. 18 [X.] folgt aus §§ 81 Abs. 1 Sätze 1 und 2, 83 Abs. 2 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 [X.] entspricht es billigem Ermessen, der [X.], der die [X.] angehört (vgl. § 430 FamFG), zur Erstattung der zur [X.] Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Betroffenen zu [X.]. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach §§ 128c Abs. 2, 30 Abs. 2 KostO. [X.] Schmidt-Räntsch Stresemann
Czub Roth
Vorinstanzen: AG [X.], Entscheidung vom [X.] - 700 XVI 82/10 B - LG [X.], Entscheidung vom [X.] -

Meta

V ZB 120/10

16.09.2010

Bundesgerichtshof V. Zivilsenat

Sachgebiet: ZB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 16.09.2010, Az. V ZB 120/10 (REWIS RS 2010, 3302)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 3302

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