Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 16.06.2011, Az. 1 B 11/11, 1 B 11/11 (1 PKH 9/11)

1. Senat | REWIS RS 2011, 5658

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Gegenstand

Ausweisung eines Ausländers; Verfassungsmäßigkeit der Berufungsbegründungsfrist; Rechtsschutzgarantie; Familienschutz; rechtliches Gehör; erstinstanzliche Verfahrensfehler


Gründe

1

Der Antrag des [X.] auf [X.]ewilligung von Prozesskostenhilfe und [X.]eiordnung eines Rechtsanwalts für das Verfahren vor dem [X.] ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 121 Abs. 1 ZPO).

2

Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus dem [X.]. Seine [X.]erufung gegen das klageabweisende erstinstanzliche Urteil wurde wegen Versäumung der [X.]erufungsbegründungsfrist des § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO als unzulässig verworfen. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem [X.]eschluss des [X.] wendet er sich mit seiner [X.]eschwerde an das [X.]. Die auf eine grundsätzliche [X.]edeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und das Vorliegen eines [X.] (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte [X.]eschwerde hat keinen Erfolg. Sie genügt nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.

3

1. Die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher [X.]edeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufgeworfen wird, die im Interesse der Einheit oder Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Die Darlegung einer solchen Rechtsfrage lässt sich dem [X.]eschwerdevorbringen nicht entnehmen. Der Kläger wirft die Frage der Verfassungsmäßigkeit der in § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO normierten [X.]egründungsfrist auf und meint, es sei eine verfassungskonforme Auslegung dahin vorzunehmen, dass die Fristregelung dann nicht gilt, wenn - wie hier - bereits im Zulassungsverfahren ein Verstoß gegen Art. 6 GG und Art. 8 [X.] gerügt worden sei, weil es sich hierbei um höherrangiges Recht handele ([X.]eschwerdebegründung S. 3).

4

Die [X.]eschwerde legt nicht dar, dass für die aufgeworfene Frage Klärungsbedarf besteht. Vielmehr ist in der Rechtsprechung des [X.] bereits rechtsgrundsätzlich geklärt, dass größte Zurückhaltung geboten ist, aus einzelnen materiellen Grundrechten und Gewährleistungen besondere, von den allgemeinen Verfahrensordnungen des gerichtlichen Verfahrens abweichende Regelungen für die gerichtliche Durchsetzung dieser Grundrechte und Gewährleistungen herzuleiten. Nach dieser Rechtsprechung können aus materiellen Grundrechten konkrete normative Folgerungen für die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrensrechts über die Gewährleistungen des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und die Verfahrensgrundrechte hinaus nur unter besonderen Umständen und nur dann gezogen werden, wenn sich unzweideutig ergibt, dass andernfalls rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse hinreichenden Rechtsschutzes nicht mehr gewahrt wären ([X.], [X.]eschluss vom 20. April 1982 - 2 [X.]vL 26/81 - [X.]E 60, 253 <298>). Dass in Fällen, in denen es im verwaltungsgerichtlichen Verfahren auch um die Gewährleistung des nach Art. 6 GG und Art. 8 [X.] gebotenen Schutzes geht, nur ein Verzicht auf die Monatsfrist für die [X.]egründung einer [X.]erufung den rechtsstaatlich unverzichtbaren Erfordernissen hinreichenden Rechtsschutzes gerecht wird, lässt sich dem [X.]eschwerdevorbringen nicht entnehmen. Damit wird nicht aufgezeigt, dass über die vom [X.] entwickelten Rechtsgrundsätze hinaus weitergehender Klärungsbedarf besteht.

5

2. Auch eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Divergenz wird nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dargelegt. Dazu ist erforderlich, dass die [X.]eschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz nennt, mit dem die Vorinstanz von einem in der Rechtsprechung des [X.]s oder eines anderen der in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genannten Gerichte aufgestellten Rechtssatz abweicht.

6

a) Der Kläger meint, das [X.]erufungsgericht weiche von dem [X.]eschluss des 9. Senats des [X.]s vom 25. August 1997 - [X.]VerwG 9 [X.] - (DV[X.]l 1997, 1325) ab ([X.]eschwerdebegründung S. 4). Damit ist ein vom [X.] aufgestellter Rechtssatz, der eine Divergenz begründen könnte, schon deshalb nicht aufgezeigt, weil der 9. Senat mit Urteil vom 30. Juni 1998 - [X.]VerwG 9 [X.] 6.98 - ([X.]VerwGE 107, 117 <121>) die in dem früheren [X.]eschluss vertretene Auffassung ausdrücklich aufgegeben hat. Danach genügt es nicht, wenn sich die [X.]erufungsbegründung und der [X.]erufungsantrag dem Vorbringen im Zulassungsverfahren entnehmen lassen. Vielmehr muss der Rechtsmittelführer in jedem Fall nach Zulassung der [X.]erufung einen Schriftsatz einreichen. Dies entspricht auch der derzeitigen ständigen Rechtsprechung des [X.]s zu § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO (vgl. Urteil vom 7. Januar 2008 - [X.]VerwG 1 [X.] 27.06 - [X.] 310 § 124a VwGO Nr. 36 Rn. 11 f. m.w.N. und [X.]eschluss vom 19. Oktober 2009 - [X.]VerwG 2 [X.] - juris).

7

b) Eine weitere Abweichung versucht die [X.]eschwerde aus dem Urteil des [X.] vom 7. Juli 2004 - [X.]/03 - (NJW 2004, 2981) abzuleiten ([X.]eschwerdebegründung S. 4). Sie zitiert den darin enthaltenen Rechtssatz, wonach die aufgrund einer Nichtzulassungsbeschwerde zugelassene Revision nicht erst innerhalb der mit Zustellung des Zulassungsbeschlusses in Lauf gesetzten [X.] (durch [X.]ezugnahme auf die [X.]egründung der Nichtzulassungsbeschwerde oder durch davon unabhängige, auch zusätzliche Ausführungen) begründet werden muss. Vielmehr könne eine den Anforderungen des § 551 Abs. 3 Satz 1 ZPO genügende Revisionsbegründung auch schon vor [X.]eginn der [X.] z.[X.]. in dem Schriftsatz gegeben werden, mit dem die Nichtzulassungsbeschwerde begründet wird. Hiermit legt die [X.]eschwerde eine Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO schon deshalb nicht dar, weil der [X.] nicht zu den in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genannten Gerichten gehört. Im Übrigen liegt auch keine Abweichung von der Rechtsprechung des [X.] vor. Der Senat hat bereits im oben zitierten Urteil vom 7. Januar 2008 - [X.]VerwG 1 [X.] 27.06 - (a.a.[X.] Rn. 13) darauf hingewiesen, dass die maßgeblichen prozessrechtlichen Vorschriften nicht inhaltsgleich sind. So ist § 551 Abs. 2 Satz 1 ZPO, der die Einreichung der Revisionsbegründung betrifft, offener ausgestaltet als § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO. Zudem gilt im Zivilprozessrecht die form- und fristgerechte Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde im Falle der Stattgabe als Einlegung der Revision (§ 544 Abs. 6 Satz 2 ZPO), so dass sich die Argumentation des [X.] nicht ohne Weiteres auf das Verwaltungsprozessrecht übertragen lässt. Schließlich hat sich die Rechtsprechung des [X.] inzwischen geändert. Nach einer neueren Entscheidung des [X.] ist nämlich auch im Zivilprozess nach Zulassung der Revision in jedem Fall eine gesonderte Revisionsbegründung erforderlich ([X.]eschluss vom 20. Dezember 2007 - [X.] - NJW 2008, 588). Der IV. Zivilsenat des [X.] hält danach an seiner gegenteiligen Ansicht nicht mehr fest. Deshalb kam insoweit auch eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher [X.]edeutung der Rechtssache nicht in [X.]etracht.

8

c) Eine dritte Divergenz sieht die [X.]eschwerde im Verhältnis zu einem [X.]eschluss des [X.] vom 27. Februar 1980 - 1 [X.]vR 277/78 - ([X.]E 53, 219 <222>). Die [X.]eschwerde zitiert daraus den Rechtssatz, dass das Gericht nach Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet ist, die Ausführungen der Prozessparteien zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen ([X.]eschwerdebegründung S. 4 f.). Sie legt aber nicht dar, dass das [X.]erufungsgericht insoweit einen abweichenden abstrakten Rechtssatz aufgestellt hat. Mit ihrer Rüge, das Gericht habe im konkreten Einzelfall gegen diesen Rechtssatz verstoßen, weil es den Sachvortrag des [X.] im [X.]erufungszulassungsverfahren nicht hinreichend berücksichtigt habe, kann sie die Zulassung einer Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht erreichen. Im Übrigen ist mit diesem Vorbringen auch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des [X.] nicht aufgezeigt. Denn Art. 103 Abs. 1 GG soll sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht. Er gewährt aber keinen Schutz dagegen, dass das Gericht den Sachvortrag eines [X.]eteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts unberücksichtigt lässt ([X.], [X.]eschluss vom 8. November 1978 - 1 [X.]vR 158/78 - [X.]E 50, 32 <35>), wie es hier das [X.]erufungsgericht wegen der Unzulässigkeit der [X.]erufung getan hat.

9

3. Soweit die [X.]eschwerde im Übrigen einen Verfahrensmangel aufgrund der fehlenden [X.]eiziehung eines Dolmetschers durch das erstinstanzliche Gericht rügt ([X.]eschwerdebegründung S. 5 f.), fehlt es ebenfalls an den gebotenen Darlegungsanforderungen für die Zulassung einer Revision. Denn der Kläger hat nicht aufgezeigt, dass die angefochtene Entscheidung des [X.]erufungsgerichts auf dem gerügten Verfahrensfehler beruhen kann, wie das § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO fordert. Verfahrensverstöße des [X.] sind für die Revisionszulassung nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nur von [X.]edeutung, wenn sie in der [X.]erufungsinstanz fortwirken ([X.]eschluss vom 30. Juli 1990 - [X.]VerwG 7 [X.] 104.90 - [X.] 310 § 132 VwGO Nr. 289). Die Verwerfung der [X.]erufung durch das Oberverwaltungsgericht nach § 125 Abs. 2 Satz 1 VwGO beruht auf der Nichteinhaltung der [X.]erufungsbegründungsfrist nach § 124a Abs. 6 VwGO. Es ist weder von der [X.]eschwerde aufgezeigt noch sonst ersichtlich, dass sich die fehlende [X.]eiziehung eines Dolmetschers auf die Versäumung der [X.]erufungsbegründungsfrist durch den anwaltlich vertretenen Kläger ausgewirkt haben kann.

Meta

1 B 11/11, 1 B 11/11 (1 PKH 9/11)

16.06.2011

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: PKH

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, 3. Mai 2011, Az: 4 LB 4/11, Beschluss

Art 6 GG, Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG, Art 8 MRK, § 124a Abs 6 S 1 VwGO, § 132 Abs 2 Nr 3 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 16.06.2011, Az. 1 B 11/11, 1 B 11/11 (1 PKH 9/11) (REWIS RS 2011, 5658)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 5658

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