Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 27.04.2021, Az. 2 BvR 156/21

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2021, 6464

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Grundrechts aus Art 4 EUGrdRCh durch unzureichende fachgerichtliche Prüfung der zu erwartenden Haftbedingungen im Falle der Auslieferung des Beschwerdeführers an Lettland - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 8. Januar 2021 - Ausl 87/20 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 4 der [X.], soweit die Auslieferung für zulässig erklärt wurde; er wird in diesem Umfang aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Die [X.] hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das [X.] und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das [X.] auf 15.000 (in Worten: fünfzehntausend) [X.] und für das einstweilige Anordnungsverfahren auf 7.500 (in Worten: siebentausendfünfhundert) [X.] festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Überstellung eines [X.] Staatsangehörigen zur Strafverfolgung nach [X.].

2

1. Gegen den Beschwerdeführer besteht ein [X.] Haftbefehl vom 9. September 2019 zur Strafverfolgung. Danach führen die [X.] Justizbehörden gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln. Er soll am 19. Juni 2017 in [X.], [X.], Betäubungsmittel erworben und weiterverkauft haben.

3

2. Nachdem er am 13. November 2020 vorläufig festgenommen worden war, ordnete das [X.] mit Beschluss vom 17. November 2020 die förmliche Auslieferungshaft an. Der Beschwerdeführer erklärte sich mit einer vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden.

4

3. Mit Schriftsatz vom 8. Dezember 2020 trug der Beschwerdeführer vor, dass aufgrund mehrerer Urteile des [X.] und nach aktuellen Berichten des [X.] oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (im Folgenden: [X.]) konkrete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass er im Falle seiner Auslieferung menschenunwürdigen Haftbedingungen ausgesetzt sei. Mehrere Haftanstalten in [X.] entsprächen nicht den Mindestanforderungen an Haftbedingungen nach Art. 3 der [X.] ([X.]). Ausreichende Hygieneartikel würden nicht zur Verfügung gestellt und der Sanitärbereich sei vom restlichen Haftraum nicht abgetrennt. Teilweise sei die medizinische Versorgung unzulänglich und der [X.] als unmenschlich und erniedrigend bezeichnet worden. Eine natürliche Lichtzufuhr in den Hafträumen sei nicht gewährleistet, teilweise fehle ein Zugang zum [X.] und [X.] seien in der Regel bis zu 23 Stunden am Tag eingeschlossen. Es gebe kaum Aktivitäten außerhalb der Hafträume. Lediglich einmal wöchentlich bestehe die Möglichkeit zu duschen. In mehreren Haftanstalten stelle die Gewalt zwischen Gefangenen ein großes Problem dar, welches unter anderem auf einen Mitarbeitermangel innerhalb der Haftanstalten zurückzuführen sei.

5

4. Am 9. Dezember 2020 bat das [X.] die Generalstaatsanwaltschaft [X.] um die Einholung einer Zusicherung der [X.] Behörden, dass die den Beschwerdeführer im Falle einer Auslieferung erwartenden Haftbedingungen den in Art. 3 [X.] verankerten menschenrechtlichen Mindestanforderungen genügten. Dies sei erforderlich vor dem Hintergrund des Schriftsatzes des Beschwerdeführers vom 8. Dezember 2020 und des Berichts von [X.], [X.] 2019, wonach die Haftbedingungen in den [X.] Haftanstalten noch immer nicht den internationalen Standards in Bezug auf Hygiene und Sanitäranlagen, Luftfeuchtigkeit, Belüftung und ausreichendes Tageslicht genügten. Mit Schreiben vom 11. Dezember 2020 forderte die Generalstaatsanwaltschaft die [X.] Behörden zur Abgabe einer entsprechenden Zusicherung auf.

6

5. Die [X.] Behörden teilten mit Schreiben vom 30. Dezember 2020 mit, dass der Beschwerdeführer bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Strafverfahren in der zentralen Haftanstalt in [X.] untergebracht werden solle. Danach werde unter Berücksichtigung der festgelegten Vollstreckungsart und der Anzahl der freien Plätze über die weitere Unterbringung entschieden. Je nach Art der verhängten Strafe werde der Beschwerdeführer in den geschlossenen oder halboffenen Vollzug überstellt. Derzeit sei in keiner der [X.] Haftanstalten die maximale Belegungsanzahl erreicht. Nach [X.] Vorschriften dürfe die individuelle [X.] nicht weniger als 4 m² betragen. Alle Hafträume seien mit Sanitäranlagen ausgestattet, die vom restlichen Raum abgegrenzt seien oder sich in einem anderen Raum befänden, wodurch der Schutz der Privatsphäre sichergestellt werde. Darüber hinaus seien genügend Frischluftzufuhr, Licht und während der kalten Jahreszeit auch eine ausreichende Beheizung sichergestellt. Es gebe in allen Hafträumen ein Sanitärbecken und einen Wasserhahn, wodurch ein ständiger Zugang zu Wasser gewährleistet sei. Für jeden Gefangenen gebe es einen individuellen Schlafplatz. Einmal wöchentlich könnten Bettwäsche und Handtücher sowie einmal monatlich Oberbekleidung gewaschen werden. Dreimal am Tag gebe es warmes Essen. Monatlich würden Hygieneartikel verteilt und einmal wöchentlich bestehe eine Duschmöglichkeit. Eine primäre und bei Indikation auch eine sekundäre medizinische Versorgung seien gewährleistet, wobei die medizinische Versorgung mit derjenigen der [X.] Bevölkerung vergleichbar sei. Deshalb seien die Behörden der Ansicht, dass in den [X.] Haftanstalten [X.] gewährleistet seien, die die Menschenrechte der Strafgefangenen nicht verletzten.

7

6. Mit angegriffenem Beschluss vom 8. Januar 2021 erklärte das [X.] die Auslieferung für zulässig. Zwar bestünden nach Entscheidungen des [X.] sowie Berichten des [X.] Anhaltspunkte dafür, dass die Haftbedingungen in [X.] aufgrund systemischer Mängel eine Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung des Beschwerdeführers im Sinne von Art. 4 [X.] begründen können. Aufgrund der Angaben der [X.] Behörden sei jedoch sichergestellt, dass die Haftbedingungen, die er im Falle seiner Auslieferung zu erwarten habe, den in Art. 3 [X.] verankerten menschenrechtlichen Mindestanforderungen genügen. Am 13. Januar 2021 bewilligte die Generalstaatsanwaltschaft [X.] die Auslieferung.

8

7. Am 14. Januar 2021 erhob der Beschwerdeführer eine Anhörungsrüge. Konkrete, im Schriftsatz vom 8. Dezember 2020 aufgeführte problematische Haftbedingungen in [X.] Haftanstalten habe der [X.] nicht zur Kenntnis genommen. Die [X.] Behörden hätten nicht mitgeteilt, in welcher Haftanstalt er nach einer Verurteilung wahrscheinlich untergebracht werden würde. Es seien keine konkreten Informationen hinsichtlich der Verfügbarkeit von Tageslicht und Frischluft in den Hafträumen sowie in Bezug auf die Gewaltproblematik unter den Gefangenen eingeholt worden. Auch die Berechnung der individuellen [X.] und das Maß an Bewegungsfreiheit im Haftraum seien klärungsbedürftig, ebenso, wie abgegrenzte Sanitäranlagen zu verstehen seien. Es sei eklatant von der Entscheidung des [X.]s [X.] vom 3. August 2016 - 1 Ausl A 14/15 - in einer die Auslieferung nach [X.] betreffenden Rechtsfrage abgewichen worden. Mit Schriftsatz vom 18. Januar 2021 trug der Beschwerdeführer ergänzend vor, dass das [X.] verpflichtet sei, die Haftbedingungen näher aufzuklären. Die [X.] Behörden hätten keine verbindliche Zusicherung abgegeben. Die Mitteilung sei allgemein gehalten und habe keine konkrete Haftanstalt benannt.

9

8. Mit Beschluss vom 20. Januar 2021 wies das [X.] die Anhörungsrüge zurück. Der Schriftsatz vom 8. Dezember 2020 sei vollumfänglich zur Kenntnis genommen worden. Die Mitteilung der [X.] Behörden sei zu den Berichten des [X.] in Beziehung gesetzt worden. Der [X.] sei zu dem Ergebnis gekommen, dass hinsichtlich der zu erwartenden Haftbedingungen kein Auslieferungshindernis bestehe. Der Beschluss des Hanseatischen [X.]s in [X.] sei durch die Urteile des [X.] vom 15. Oktober 2019, [X.], [X.]/18, [X.]:[X.], und vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft , [X.]/18 [X.], [X.]:[X.], mittlerweile überholt. Es seien nur die Haftbedingungen in der Haftanstalt zu prüfen, in denen der Beschwerdeführer nach den vorliegenden Informationen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit inhaftiert werden solle. Die Haftanstalt für eine eventuelle spätere Strafhaft sei nicht hinreichend individualisierbar. Die Auskunft der [X.] Behörden sei auf die Haftraumgröße, Frischluftzufuhr, Beleuchtung, Beheizung, Wasserversorgung, Möblierung und Schlafplatz, Ernährung, Hygiene sowie medizinische Versorgung eingegangen. Hinsichtlich der abgegrenzten Sanitärräume hätten die [X.] Behörden mitgeteilt, dass der Schutz der Privatsphäre sichergestellt sei. Sämtliche geschilderten Parameter entsprächen den Mindestanforderungen des Art. 3 [X.]. Die Nichtmitteilung der Aufschlusszeiten sei nicht geeignet, dies in Frage zu stellen. Der [X.] verstehe die Erklärung der [X.] Behörden, dass in den Strafanstalten solche [X.] gewährleistet würden, die die Menschenrechte der Strafgefangenen nicht verletzten, als Zusicherung der dargelegten Haftbedingungen.

Mit seiner am 27. Januar 2021 fristgemäß eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG sowie von Art. 4 [X.] und Art. 3 [X.].

1. Trotz hinreichender Anhaltspunkte dafür, dass er im Falle seiner Auslieferung in [X.] menschenunwürdigen Haftbedingungen ausgesetzt sein werde, habe das [X.] den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Das Gericht hätte weitere Informationen, insbesondere auch zu der Haftanstalt, in der er wahrscheinlich nach einer eventuellen Verurteilung inhaftiert werden könnte, einholen müssen. Die tatsächliche Haftraumgröße sei nicht mitgeteilt worden. So sei fraglich, wie diese berechnet werde, ob die [X.] einberechnet und wie diese abgegrenzt sei. Unklar bleibe auch, ob er in einer Gemeinschaftszelle oder in Einzelhaft untergebracht werden solle, wie groß die tatsächliche Bewegungsfreiheit sei, welche Lichtverhältnisse und ob eine Frischluftzufuhr gewährleistet seien sowie welche Aufschlusszeiten gelten würden. Eine konkrete Zusicherung hinsichtlich der ihn erwartenden Haftbedingungen liege nicht vor. Die Erklärung der [X.] Behörden sei auch nicht hinsichtlich ihrer Belastbarkeit überprüft worden. Die Rechtsfrage, welche Mindesthaftraumgröße für [X.] gälten und inwiefern Aufschlusszeiten relevant seien, hätte dem [X.] vorgelegt werden müssen.

2. Zur [X.] hat die [X.] des Zweiten [X.]s mit Beschluss vom 2. Februar 2021 die Übergabe des Beschwerdeführers an die [X.] Behörden einstweilen bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, untersagt.

3. Die Behörde für Justiz und Verbraucherschutz der Freien und Hansestadt [X.] hat von einer Stellungnahme abgesehen.

4. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem [X.] vorgelegen.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an. Dies ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 4 [X.] angezeigt (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das [X.] bereits entschieden. Demnach ist die zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]).

1. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 4 [X.].

a) Aus Art. 4 [X.] folgt für ein mit einem Überstellungsersuchen befasstes Gericht die Pflicht, in zwei [X.]en von Amts wegen aufzuklären, ob die konkrete Gefahr besteht, dass die zu überstellende Person nach einer Übergabe einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird (vgl. Beschluss des Zweiten [X.]s des [X.]s vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 42 ff.).

b) Im zweiten, auf die Situation des Betroffenen bezogenen [X.] ist das Gericht verpflichtet, genau zu prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person im [X.] an ihre Übergabe an den [X.] aufgrund der Bedingungen, unter denen sie inhaftiert sein wird, dort einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 [X.] ausgesetzt sein wird. Dies erfordert eine aktuelle und eingehende Prüfung der Situation, wie sie sich zum Entscheidungszeitpunkt darstellt. Da das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung absoluten Charakter hat, darf die vom Gericht vorzunehmende Prüfung der Haftbedingungen nicht auf offensichtliche Unzulänglichkeiten beschränkt werden, sondern muss auf einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen beruhen (vgl. Beschluss des Zweiten [X.]s des [X.]s vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 46 ff. m.w.N.).

c) Mit dem zweistufigen Prüfprogramm sind Aufklärungspflichten des mit einem Überstellungsersuchen befassten Gerichts verbunden. Aus Art. 4 [X.] folgt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] die Pflicht, im Einzelfall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob das Grundrecht des zu Überstellenden aus Art. 4 [X.] gewahrt ist (vgl. Beschluss des Zweiten [X.]s des [X.]s vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 52).

aa) Zunächst muss sich das Gericht auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über die Haftbedingungen in den Haftanstalten des [X.]s stützen, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel belegen können (vgl. [X.], Urteile vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft , [X.]/18 [X.], [X.]:[X.], Rn. 60; und vom 15. Oktober 2019, [X.], [X.]/18, [X.]:[X.], Rn. 52). Für die gründlich vorzunehmende Prüfung, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die zu überstellende Person im [X.] an ihre Übergabe aufgrund der Haftbedingungen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 [X.] ausgesetzt sein wird, muss das Gericht innerhalb der nach Art. 17 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (im Folgenden: [X.]) zu beachtenden Fristen den [X.] um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen in Bezug auf die Bedingungen bitten, unter denen die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat inhaftiert werden soll. Der [X.] ist verpflichtet, die ersuchten Informationen innerhalb der ihm vom ersuchten Mitgliedstaat gesetzten Frist zu übermitteln (vgl. [X.], Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft , [X.]/18 [X.], [X.]:[X.], Rn. 64; Beschluss des Zweiten [X.]s des [X.]s vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 53).

bb) Diese einzuholenden zusätzlichen Informationen sind Voraussetzung dafür, dass die Prüfung einer bestehenden Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung einer Person auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruht. Das mit einem Übermittlungsersuchen befasste Gericht muss deshalb die Entscheidung über die Zulässigkeit der Übergabe so lange aufschieben, bis es die zusätzlichen Informationen erhalten hat, die es ihm gestatten, das Vorliegen einer solchen Gefahr auszuschließen. Kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss das Gericht darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist (vgl. Beschluss des Zweiten [X.]s des [X.]s vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 54 m.w.N.).

cc) Art. 15 Abs. 2 [X.] verpflichtet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht zur Einholung zusätzlicher, für die Übergabeentscheidung notwendiger Informationen. Als Ausnahmebestimmung kann diese Regelung nicht dazu herangezogen werden, die Behörden des [X.]s systematisch um allgemeine Auskünfte zu den Haftbedingungen in den dortigen Haftanstalten zu ersuchen. Die gerichtliche Aufklärungspflicht bezieht sich nicht auf die allgemeinen Haftbedingungen in sämtlichen Haftanstalten. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens und der für den [X.] Rechtshilfeverkehr vorgesehenen Fristen beschränkt sich diese vielmehr auf die Prüfung derjenigen Haftanstalten, in denen die gesuchte Person nach den vorliegenden Informationen wahrscheinlich, sei es auch nur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, konkret inhaftiert werden soll (vgl. [X.], Urteile vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft , [X.]/18 [X.], [X.]:[X.], Rn. 84 bis 87 und Rn. 117; und vom 15. Oktober 2019, [X.], [X.]/18, [X.]:[X.], Rn. 64 bis 66; Beschluss des Zweiten [X.]s des [X.]s vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 55).

d) Hat der [X.] eine Zusicherung abgegeben, dass die betroffene Person unabhängig von der Haftanstalt, in der sie im [X.] inhaftiert wird, keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfahren werde, muss sich das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht auf eine solche konkrete Zusicherung zumindest dann verlassen, wenn keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen Art. 4 [X.] verstoßen. Auch eine Zusicherung des [X.]s entbindet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht aber nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände darf das Gericht auf der Grundlage konkreter Anhaltspunkte feststellen, dass für die betroffene Person trotz der Zusicherung eine echte Gefahr besteht, aufgrund der Bedingungen ihrer Inhaftierung im [X.] einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 [X.] unterworfen zu werden (vgl. Beschluss des Zweiten [X.]s des [X.]s vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 56 m.w.N.).

e) Nach diesen Maßstäben hält die angegriffene Entscheidung einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Das [X.] ist seiner Verpflichtung nach Art. 4 [X.], auf der zweiten Prüfungsstufe im Einzelfall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung in einer [X.] Haftanstalt einer Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird, nicht hinreichend nachgekommen.

aa) Die Beschränkung der gerichtlichen Prüfung auf die Haftanstalt der Untersuchungshaft wird den genannten Anforderungen nicht gerecht, weil die Einzelfallprüfung auf die Haftbedingungen der Haftanstalten zu beziehen ist, in denen der Beschwerdeführer nach den vorliegenden Informationen wahrscheinlich, sei es auch nur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, konkret inhaftiert werden soll (vgl. [X.], Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft , [X.]/18 [X.], [X.]:[X.], Rn. 84 bis 87 und Rn. 117; Urteil vom 15. Oktober 2019, [X.], [X.]/18, [X.]:[X.], Rn. 64 bis 66; Beschluss des Zweiten [X.]s des [X.]s vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 55). Auch die [X.] Behörden gehen nach ihrer Mitteilung bei einer Verurteilung des Beschwerdeführers von einer Unterbringung im geschlossenen oder im halboffenen Vollzug einer [X.] Haftanstalt aus, selbst wenn noch keine konkrete Anstalt benannt werden kann.

bb) Ferner lassen sich der Mitteilung der [X.] Behörden in Bezug auf die vom [X.] aufgrund von [X.]-Berichten beziehungsweise eines Berichts von [X.] erfragten Haftbedingungen, insbesondere hinsichtlich Luftfeuchtigkeit, Belüftung und ausreichendem Tageslicht, aber auch in Bezug auf die Aufschlusszeiten keine konkreten Informationen entnehmen. Daher fehlt es insoweit an einer hinreichenden Tatsachengrundlage für die Einzelfallprüfung des Gerichts. Eine solche Prüfung war nicht etwa entbehrlich, weil das [X.] die Mitteilung der [X.] Behörden als Zusicherung der darin beschriebenen Haftbedingungen verstanden hat.

cc) Zwar ist eine rechtsverbindliche Zusicherung vom ersuchenden Mitgliedstaat grundsätzlich geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit einer Überstellung auszuräumen. Der Mitteilung der [X.] Behörden lässt sich indes keine auf den konkreten Fall zugeschnittene Zusicherung hinsichtlich der Haftbedingungen entnehmen, die der Beschwerdeführer im Falle seiner Überstellung unabhängig von der Haftanstalt zu erwarten hat, in der er in [X.] inhaftiert werden wird (vgl. Beschluss des Zweiten [X.]s des [X.]s vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 56). Die Ausführungen beschränken sich vielmehr auf eine allgemeine Wiedergabe der nach der [X.] Gesetzeslage vorgeschriebenen Haftbedingungen und enthalten keine auf den Beschwerdeführer bezogenen verbindlichen Erklärungen. Damit wird der Zweck einer konkreten Zusicherung nicht erfüllt.

dd) Darüber hinaus hat es das [X.] versäumt, die von den [X.] Behörden abgegebene Erklärung hinsichtlich ihrer Belastbarkeit zu überprüfen. Selbst wenn die Mitteilung als eine konkrete, auf den Beschwerdeführer bezogene Zusicherung ausgelegt werden könnte, entbindet dies das Gericht nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können (vgl. Beschluss des Zweiten [X.]s des [X.]s vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 56). Hieran fehlt es.

2. Da die Verfassungsbeschwerde bereits wegen der Verletzung von Art. 4 [X.] Erfolg hat, bedarf es keiner Entscheidung, ob die angegriffene Entscheidung auch andere Unionsgrundrechte des Beschwerdeführers verletzt.

Der Beschluss des Hanseatischen [X.]s vom 8. Januar 2021 - Ausl 87/20 - wird, soweit er die Zulässigkeit der Auslieferung betrifft, aufgehoben; die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2, § 90 Abs. 2 Satz 1 [X.]).

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34a Abs. 2 [X.].

Die Festsetzung des Gegenstandswertes für die anwaltliche Tätigkeit stützt sich auf § 37 Abs. 2 Satz 2, § 14 Abs. 1 RVG in Verbindung mit den Grundsätzen über die Festsetzung des Gegenstandswertes im verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. [X.] 79, 365 <366 ff.>).

Meta

2 BvR 156/21

27.04.2021

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BVerfG, 2. Februar 2021, Az: 2 BvR 156/21, Einstweilige Anordnung

Art 1 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, Art 4 EUGrdRCh, § 32 IRG, Art 3 MRK

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 27.04.2021, Az. 2 BvR 156/21 (REWIS RS 2021, 6464)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 6464


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 2 BvR 156/21

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 156/21, 27.04.2021.

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 156/21, 02.02.2021.


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Referenzen
Wird zitiert von

2 BvR 1214/21

Zitiert

2 BvR 2100/18

2 BvR 1845/18

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