Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 10.09.2018, Az. 6 B 134/18

6. Senat | REWIS RS 2018, 4008

© Bundesverwaltungsgericht, Foto: Michael Moser

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Bindungswirkung der Wahrunterstellung; Wahrunterstellung von Beweistatsachen; Überzeugungsgrundsatz


Leitsatz

Die Wahrunterstellung einer unter Beweis gestellten Tatsache verpflichtet das Tatsachengericht, diese Tatsache der Sachverhalts- und Beweiswürdigung zugrunde zulegen. Im Übrigen ist das Gericht bei der Würdigung des Lebenssachverhalts nur an den Überzeugungsgrundsatz nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO gebunden.

Gründe

1

Die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] kann keinen Erfolg haben. Aus der [X.]eschwerdebegründung des [X.] ergibt sich nicht, dass ein [X.] nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwGO vorliegt. Das [X.] kann bei der Entscheidung über die Zulassung der Revision aufgrund des [X.] nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nur diejenigen Gesichtspunkte berücksichtigen, auf die der [X.]eschwerdeführer seinen Antrag, die Revision zuzulassen, gestützt hat.

2

1. Der Kläger wendet sich gegen ein polizeiliches Aufenthaltsverbot. Er will festgestellt wissen, dass ihm die [X.]eklagte rechtswidrig verboten hat, sich während der [X.] sechs Stunden vor und nach den Heimspielen der ersten und zweiten Mannschaft des Fußballvereins [X.] in drei näher bezeichneten [X.]ereichen zwischen dem [X.] und dem [X.]undesligastadion sowie in der Nähe zweier kleinerer Stadien aufzuhalten.

3

Die Klage hat in den Vorinstanzen keinen Erfolg gehabt. Das Oberverwaltungsgericht hat in dem [X.]erufungsurteil im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsverbot nach § 17 Abs. 4 Satz 1 des [X.] über die öffentliche Sicherheit und Ordnung - Nds. [X.] - lägen vor. Die festgestellten Tatsachen rechtfertigten die Annahme, dass der Kläger in den vom Aufenthaltsverbot erfassten [X.]ereichen eine Straftat begehen werde. Diese Gefahrenprognose sei darauf gestützt, dass der Kläger wiederholt in einem von fußballbezogener Gewalt geprägten Umfeld polizeilich in Erscheinung getreten sei. Insbesondere habe er einen Angriff auf vermeintliche Anhänger eines gegnerischen Fußballvereins in [X.] zumindest durch seine Anwesenheit unterstützt. Er sei bei verschiedenen gewalttätigen Auseinandersetzungen anwesend gewesen. Während eines Heimspiels von [X.] habe er im Stadion ein [X.]anner mit der Aufschrift "[X.]" ("all cops are bastards") hochgehalten. Der Kläger spiele eine Führungsrolle in der gewaltaffinen Fußballszene.

4

Das Oberverwaltungsgericht hat bei der Gefahrenprognose unter anderem folgende Tatsachen als wahr unterstellt, die der Kläger durch unbedingte [X.]eweisanträge unter [X.]eweis gestellt hat: Der Kläger habe sich nicht an den gewalttätigen Auseinandersetzungen am 4. April 2015 vor dem [X.] in [X.] und am 21. November 2015 am [X.] in [X.] beteiligt. [X.]ei dem ersten Vorfall habe sich der Kläger unmittelbar vor [X.]eginn der Auseinandersetzungen von den [X.] räumlich distanziert. [X.]ei dem zweiten Vorfall habe er sich diesen Anhängern nicht angeschlossen, sondern das Gespräch mit den Fanbeauftragten und dem Einsatzleiter der Polizei gesucht, um zu vermitteln. Das Oberverwaltungsgericht hat die Anwesenheit des [X.] im Umfeld gewaltbereiter Fußballanhänger in beiden Fällen als weniger bedeutsame Indizien in die Gefahrenprognose eingestellt. So hat das Gericht auch das Hochhalten des [X.]anners im Fußballstadion bewertet, auch wenn es die Aufschrift aufgrund der Rechtsprechung des [X.] nicht als strafbare [X.]eleidigung angesehen hat.

5

2. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger geltend, das Oberverwaltungsgericht habe den Überzeugungsgrundsatz nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzt, weil die [X.]erücksichtigung des Verhaltens des [X.] in [X.] und [X.] in Widerspruch zu den als wahr unterstellten [X.] stehe. Auch habe das Gericht dadurch [X.]undesrecht verletzt, dass es dem Kläger eine grundrechtlich geschützte Meinungsäußerung angelastet und das Aufenthaltsverbot als verhältnismäßig angesehen habe. Viele Heimspiele, insbesondere der zweiten Mannschaft von [X.], hätten kein Gefahrenpotenzial aufgewiesen.

6

3. Der Kläger hat nicht dargelegt, dass dem [X.]erufungsurteil ein Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO anhaftet. Die Sachverhalts- und [X.]eweiswürdigung des [X.] ist von dem Grundsatz der freien [X.]eweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO (Überzeugungsgrundsatz) gedeckt; sie ist nicht in sich widersprüchlich.

7

Der Überzeugungsgrundsatz enthält keine generellen Maßstäbe für den [X.] und [X.]eweiswert einzelner [X.]eweismittel, Erklärungen und Indizien. Die Tatsachengerichte müssen [X.]edeutung und Gewicht der verschiedenen [X.]estandteile des [X.] nach der inneren Überzeugungskraft der Gesamtheit der in [X.]etracht kommenden Erwägungen bestimmen. Ihnen ist ein Wertungsrahmen eröffnet, den sie nur dann überschreiten, wenn sie gesetzliche [X.]eweisregeln, allgemeine Erfahrungssätze und die Gesetze der Logik (Denkgesetze) nicht beachten oder ihre Würdigung des [X.] an einem gedanklichen Widerspruch leidet. Dementsprechend prüft das [X.] die Sachverhalts- und [X.]eweiswürdigung des Tatsachengerichts nur daraufhin nach, ob sie sich innerhalb des durch den Überzeugungsgrundsatz vorgegebenen [X.] hält. Das [X.] kann die tatrichterliche Würdigung nicht deshalb beanstanden, weil ihm die Gewichtung einzelner Umstände oder deren Gesamtwürdigung nicht überzeugend oder plausibel erscheint (stRspr, vgl. nur [X.]VerwG, Urteile vom 3. Mai 2007 - 2 [X.] 30.05 - NVwZ 2007, 1196 Rn. 16 und vom 16. Mai 2012 - 5 [X.] 2.11 - [X.]VerwGE 143, 119 Rn. 18; [X.]eschluss vom 23. Januar 2018 - 6 [X.] 67.17 [E[X.]LI:[X.]:[X.]] - NJW 2018, 1896 Rn. 9 f.).

8

Die Sachverhalts- und [X.]eweiswürdigung des Tatsachengerichts leidet an einem Widerspruch, wenn das Gericht eine entscheidungserhebliche Tatsache nicht uneingeschränkt als nachgewiesen behandelt. Das Gericht darf seiner Entscheidung keinen Sachverhalt zugrunde legen, der von einer Tatsache abweicht, die es bei der Ablehnung eines [X.]eweisantrags als wahr unterstellt hat (stRspr, vgl. [X.]VerwG, Urteil vom 24. März 1987 - 9 [X.] 47.85 - [X.]VerwGE 77, 150 <155>; [X.]eschlüsse vom 3. Dezember 2012 - 2 [X.] 32.12 - juris Rn. 12 und vom 17. September 2014 - 8 [X.] 15.14 - juris Rn. 5). Daraus folgt, dass sich die [X.]indungswirkung einer Wahrunterstellung nicht auf andere Tatsachen erstreckt, die zusammen mit einer als wahr unterstellten Tatsache einen einheitlichen Lebenssachverhalt bilden. Auch entfaltet eine Wahrunterstellung keine [X.]indungswirkung für die Würdigung des betreffenden [X.]. Sie verbietet nicht, aus diesem Sachverhalt unter [X.]eachtung des Überzeugungsgrundsatzes bestimmte Schlüsse zu ziehen, solange die als wahr unterstellten Tatsachen zugrunde gelegt werden. So liegt der Fall hier: Die Angriffe des [X.] richten sich gegen die Würdigung zweier Lebenssachverhalte durch das Oberverwaltungsgericht, soweit sie nicht von dessen [X.] erfasst werden.

9

Aus der [X.]eschwerdebegründung des [X.] geht nicht hervor, dass das Oberverwaltungsgericht die [X.] außer [X.] gelassen hat. Das Gericht hat die als wahr unterstellten Tatsachen zu dem Verhalten des [X.] bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen in [X.] und [X.] seiner Sachverhalts- und [X.]eweiswürdigung inhaltlich unverändert zugrunde gelegt. Das festgestellte Verhalten des [X.] entspricht jeweils den von ihm unter [X.]eweis gestellten Tatsachen. Das Oberverwaltungsgericht hat in inhaltlicher Übereinstimmung mit den [X.]eweisanträgen angenommen, dass sich der Kläger nicht an den gewalttätigen Auseinandersetzungen beteiligt hat. In [X.] habe er sich in deutlichem Abstand von mindestens 50 Metern von den Geschehnissen aufgehalten ([X.]erufungsurteil S. 26/27). In [X.] habe er sich in keiner Weise an Gewalttätigkeiten beteiligt, sondern vielmehr das Gespräch mit den Fanbeauftragten und dem Einsatzleiter der Polizei gesucht, um zwischen den Parteien zu vermitteln ([X.]erufungsurteil S. 24). Die Formulierungen des [X.] entsprechen den [X.]eweisthemen der [X.]eweisanträge.

Aus den Entscheidungsgründen des [X.]erufungsurteils geht unmissverständlich hervor, dass das Oberverwaltungsgericht dem Kläger im Rahmen der Gefahrenprognose nicht angelastet hat, an den gewalttätigen Auseinandersetzungen in [X.] und [X.] teilgenommen zu haben. Vielmehr hat es lediglich in die Gefahrenprognose eingestellt, dass sich der Kläger bei beiden Vorfällen im Umfeld von Anhängern von [X.] bewegt hat, die in die Gewalttätigkeiten verwickelt waren. Diese tatsächlichen Feststellungen decken sich mit dem Vortrag des [X.] in den [X.]eweisanträgen: Der Kläger hat angegeben, sich in [X.] bis unmittelbar vor [X.]eginn der Auseinandersetzungen ebenso wie die gewalttätig gewordenen Anhänger auf dem [X.]ahnhofsvorplatz aufgehalten und sich zur Eingangstür des [X.]ahnhofs begeben zu haben, als er gemerkt habe, dass es "gleich losgehen" werde. Sein Vortrag zu dem Vorfall in [X.] lässt erkennen, dass er zusammen mit [X.] von [X.] [X.]ahn gefahren ist, die am [X.] ausgestiegen sind, um sich mit Anhängern des gegnerischen Vereins zu prügeln.

4. Auch der weitere [X.]eschwerdevortrag rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht. Insoweit hat der Kläger bereits keinen [X.] nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwGO benannt, sondern in der Art einer Revisionsbegründung die Verletzung von [X.]undesrecht gerügt. Sein Vortrag lässt auch nicht erkennen, dass die Rechtssache grundsätzliche [X.]edeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO haben kann. Hierfür muss ein [X.]eschwerdeführer darlegen, dass der Ausgang des konkreten Rechtsstreits davon abhängt, wie eine Frage des revisiblen Rechts von allgemeiner, über den Einzelfall hinausreichender [X.]edeutung beantwortet wird (stRspr, vgl. nur [X.]VerwG, [X.]eschlüsse vom 27. Januar 2015 - 6 [X.] 43.14 [E[X.]LI:[X.]:[X.]VerwG:2015:270115[X.]6[X.]43.14.0] - NVwZ-RR 2015, 416 Rn. 8 und vom 23. Januar 2018 - 6 [X.] 67.17 - NJW 2018, 1896 Rn. 5). Diesen Darlegungsanforderungen genügt die [X.]eschwerdebegründung schon deshalb nicht, weil sie keine allgemeine Rechtsfrage aufwirft, sondern lediglich die Rechtsanwendung des [X.] im vorliegenden Einzelfall beanstandet:

Dies gilt zum einen für den Vortrag, das Oberverwaltungsgericht habe durch die Einbeziehung des Hochhaltens des [X.]anners mit der Aufschrift "[X.]" das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt. Der Kläger verweist lediglich darauf, dass diese Aufschrift keine strafbare [X.]eleidigung darstellt. Dagegen enthält die [X.]eschwerdebegründung keine Ausführungen zu der hier bedeutsamen Frage, ob sich aus diesem Grundrecht ein Verbot ergeben kann, zulässige Meinungsäußerungen als Indiz nachteilig in eine ordnungsrechtliche Gefahrenprognose einzubeziehen. Derartige Ausführungen wären geboten gewesen, weil das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung darauf abzielt, das ungehinderte Äußern und Verbreiten von Meinungen zu gewährleisten. Auch dürfen Meinungen nicht gezielt diskriminiert werden ([X.]VerfG, [X.]eschluss vom 4. November 2009 - 1 [X.]vR 2150/08 [E[X.]LI:[X.]:[X.]VerfG:2009:rs20091104.1bvr215008] - [X.]VerfGE 124, 300 <324>). Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob Meinungsäußerungen und die mit ihnen zum Ausdruck kommende individuelle Überzeugung als Indiz herangezogen werden können, um zusammen mit anderen Tatsachen das künftige Verhalten des [X.] prognostizieren zu können.

Soweit der Kläger eine Verletzung des [X.] rügt, befasst sich die [X.]eschwerdebegründung ausschließlich damit, ob das Aufenthaltsverbot angesichts der fallbezogenen Feststellungen des [X.] in [X.]ezug auf die räumliche Ausdehnung und die zeitliche Geltungsdauer überzogen ist. Dabei stellt der Kläger der Sachverhalts- und [X.]eweiswürdigung sowie der rechtlichen [X.]ewertung des [X.] seine eigene, ihm naturgemäß günstigere Würdigung entgegen. Ausführungen zum allgemeinen, über den Einzelfall hinausreichenden [X.]edeutungsgehalt des [X.] enthält die [X.]eschwerdebegründung nicht.

In [X.]ezug auf das Vorbringen in der "Einleitung" der [X.]eschwerdebegründung zum Nachschieben von Gründen im laufenden Gerichtsverfahren benennt der Kläger weder einen [X.] noch ist den Ausführungen ein solcher Grund zu entnehmen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts für das [X.]eschwerdeverfahren ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

Meta

6 B 134/18

10.09.2018

Bundesverwaltungsgericht 6. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend OVG Lüneburg, 26. April 2018, Az: 11 LC 288/16, Urteil

Art 5 Abs 1 S 1 GG, § 108 Abs 1 S 1 VwGO, § 1 SOG ND 2005

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 10.09.2018, Az. 6 B 134/18 (REWIS RS 2018, 4008)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 4008


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 6 B 134/18

Bundesverwaltungsgericht, 6 B 134/18, 10.09.2018.


Az. 11 LC 288/16

Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, 11 LC 288/16, 26.04.2018.


Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

2 B 44/22 (Bundesverwaltungsgericht)

Entfernung eines Polizeibeamten aus dem Beamtenverhältnis wegen Kreditkartenbetrugs


2 B 15/19 (Bundesverwaltungsgericht)

Verfahrensfehlerhafte Wahrunterstellung einer Beweistatsache


5 B 19/16 (Bundesverwaltungsgericht)

Zurückweisung einer Nichtzulassungsbeschwerde


7 B 4/17 (Bundesverwaltungsgericht)

Erforderlichkeit einer Rechtsverletzung für erfolgreiche Anfechtungsklage gegen wasserrechtliche Bewilligung


5 B 1/16 D (Bundesverwaltungsgericht)


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

1 BvR 2150/08

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.