Bundespatentgericht, Beschluss vom 20.12.2021, Az. 20 W (pat) 20/18

20. Senat | REWIS RS 2021, 165

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Patentbeschwerdesache - "Härteprüfeinrichtung zur Prüfung des Härteeindrucks" – unzulässige Erweiterung – Zur Frage der Auferlegung der Kosten bei mangelnder prozessualer Sorgfaltspflicht – Aliud – Abwandlung eines ursprünglich offenbarten Gegenstands


Tenor

In der Beschwerdesache

gegen

betreffend das Patent 10 2009 019 256

hat der 20. Senat (Technischer Beschwerdesenat) auf die mündliche Verhandlung vom 20.12.2021 durch [X.], die Richterin [X.] sowie [X.]. [X.] und Dipl.-Phys. [X.] beschlossen:

[X.] Auf die Beschwerde der Einsprechenden wird der Beschluss der [X.] des [X.] vom 13.06.2018 aufgehoben und das Patent 10 2009 019 256 widerrufen.

I[X.] Die der Patentinhaberin und Beschwerdegegnerin erwachsenen Kosten für den heutigen Verhandlungstermin werden der Einsprechenden und Beschwerdeführerin auferlegt.

Gründe

I.

1

Gegen das von der Prüfungsstelle für Klasse G 01 N des [X.] ([X.]) am 26.04.2016 erteilte und am 18.08.2016 veröffentlichte Patent 10 2009 019 256 mit der Bezeichnung

2

„[X.] zur Prüfung des Härteeindrucks“

3

hat die Einsprechende am 12.05.2017 Einspruch eingelegt und beantragt, das Patent zu widerrufen. Die [X.] des [X.] hat das Patent daraufhin im Einspruchsverfahren mit am Ende der Anhörung vom 13.06.2018 verkündetem Beschluss im Rahmen des damals geltenden [X.] beschränkt aufrechterhalten. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass der jeweilige Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß dem damals geltenden Haupt- und Hilfsantrag 1 gegenüber dem im Verfahren genannten Stand der Technik nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe und der Gegenstand gemäß dem damaligen Hilfsantrag 2 nicht ursprungsoffenbart sei.

4

Im Rahmen des Prüfungs- und Einspruchsverfahrens sind folgende Druckschriften als Stand der Technik genannt worden:

5

E1    

[X.]

E2    

[X.]

E3    

 [X.] 130 B

E4    

[X.]

E5    

[X.] 34 829 [X.]

E6    

[X.] 1 995 599 A

E7    

[X.] 2005 061 834 [X.]

E8    

 [X.] 2007 022 831 [X.]

E9    

[X.] 196 04 075 [X.]

[X.]     

[X.] 2004 / 0 096 093 [X.]

[X.]     

[X.] 6 247 356 B1

B1    

Bedienungsanleitung der Härteprüfeinrichtung des Typs „[X.]/[X.]“ ([X.]-05 [X.]3071)

B2    

Bedienungsanleitung der Härteprüfeinrichtung des Typs „[X.] [X.]“

B3    

Technische Zeichnungen der Härteprüfeinrichtung des Typs „[X.] 0XX [X.]“

B4.1 - B4.3

Fotografien von Härteprüfeinrichtungen (ohne Typenbezeichnung auf den Fotografien)

B5.1 - B5.6

Technische Abbildungen von Härteprüfeinrichtung (z.T. beschriftet mit „[X.] 0XX [X.]“)

B6    

Bedienungsanleitung der Härteprüfeinrichtung des Typs „[X.]/[X.]“ ([X.]-04 [X.]3071)

B7    

Rechnung zu Härteprüfeinrichtung des Typs „HRC“

B8    

Servicebericht und weitere Dokumente zu Härteprüfeinrichtung des Typs „HRC“

B9    

Rechnung zu Härteprüfeinrichtung des Typs „[X.] 025 [X.]“

[X.]     

Auftragsbestätigung und weitere Dokumente zu Härteprüfeinrichtung des Typs „[X.] 025 [X.]“

B11     

 Gebrauchsanweisung der Härteprüfeinrichtung des Typs „[X.]/V5[X.]“

B12     

Rechnung zu Härteprüfeinrichtung des Typs „[X.]C 750 [X.]“

B13     

Rechnung mit weiteren Dokumenten zu Härteprüfeinrichtung des Typs „[X.]C 750 [X.]“

B14     

Technische Zeichnung einer Härteprüfeinrichtung

6

Gegen den o.g. Beschluss des [X.] vom 13.06.2018 richtet sich die am 02.08.2018 eingelegte Beschwerde der Einsprechenden. Die von der Patentinhaberin gegen diesen Beschluss ebenfalls eingelegte Beschwerde wurde im Laufe des Beschwerdeverfahrens zurückgenommen.

7

Nachdem die Einsprechende im ersten Verhandlungstermin am 03.08.2020 betreffend die Patentansprüche 2 und 3 in der vom [X.] aufrechterhaltenen Fassung des [X.]s den neuen [X.] der mangelnden Ausführbarkeit eingeführt und der Senat diesen vor dem Hintergrund der damaligen Antragslage für sachdienlich erachtet hat, wurde die mündliche Verhandlung auf Antrag der Patentinhaberin vertagt.

8

Der Bevollmächtigte der Einsprechenden und Beschwerdeführerin hat in der mündlichen Verhandlung am 20.12.2021 beantragt,

9

den Beschluss der [X.] des [X.] vom 13.06.2018 aufzuheben und das Patent 10 2009 019 256 im vollem Umfang zu widerrufen.

Der Bevollmächtigte der Patentinhaberin und Beschwerdegegnerin hat zuletzt beantragt,

das Patent 10 2009 019 256 auf der Grundlage folgender Unterlagen aufrechtzuerhalten:

Patentansprüche 1 bis 15, dem [X.] als Hilfsantrag 3 überreicht in der mündlichen Verhandlung am 20.12.2021

Beschreibung und Zeichnungen wie Patentschrift.

Der nunmehr geltende Patentanspruch 1 in der Fassung vom 20.12.2021 lautet wie folgt:

Abbildung

Wegen des Wortlauts der direkt oder indirekt auf Patentanspruch 1 rückbezogenen geltenden Patentansprüche 2 bis 15 sowie weiterer Einzelheiten wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II.

Die zulässige Beschwerde der Einsprechenden ist begründet mit der Folge, dass das Patent 10 2009 019 256 – unter gleichzeitiger Aufhebung des angefochtenen Beschlusses – zu widerrufen war. Denn der Gegenstand des Patentanspruchs 1 in der zuletzt beantragten Fassung vom 20.12.2021 geht über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinaus und ist damit nicht zulässig (§ 21 Abs. 1 Nr. 4 [X.]).

1. Das [X.] betrifft laut Absatz [0001] eine Härteprüfeinrichtung, insbesondere zur Prüfung des Härteeindrucks, mit einem verschiebbar geführten, mit einer Prüfkraft beaufschlagbaren Schlitten, an dem ein Schwenkkörper als Träger von [X.] mit Eindringkörpern schwenkbar gehalten sei, wobei der Schwenkkörper um eine quer zur Verschieberichtung des Schlittens verlaufende Schwenkachse schwenkbar und verstellbar gehalten sei.

[X.] seien bekannt und wiesen als [X.] ein kugelförmiges Gebilde auf, das ähnlich der Anordnung von Stacheln Halter mit [X.] und wechselbare Objektive aufnehmen könne. Eine derartige [X.] arbeite mit unzulänglich genauen, reproduzierbaren Prüfergebnissen. Außerdem sei die jeweilige Einstellung des [X.]s aufwendig ([X.], Abs. [0002]).

Eine [X.] nach dem Oberbegriff von Anspruch 1 des [X.]s sei aus der [X.] bekannt, bei welcher ein Träger mit einem Revolver versehen sei, der in einem auf dem Träger angeordneten Schwenklager schwenkbar gelagert sei und einen [X.] und ein Mikroskopobjektiv trage. Ähnliche [X.] mit einem [X.] unter 45 Grad zur Vertikalachse seien in der [X.] und [X.] 130 B offenbart sowie in der [X.] mit einem nicht näher spezifizierten Winkel zur Vertikalachse. Ferner seien in der [X.] 2004/096 093 [X.] und der [X.] 6 247 356 B1 Härteprüfvorrichtungen mit [X.]n beschrieben, deren Drehachse mit der Vertikalachse fluchtet ([X.], Abs. [0003]).

Als Aufgabe wird in der Beschreibung des [X.]s genannt, eine [X.], insbesondere zur Prüfung des Härteeindrucks, der Art zu schaffen, die ein genaues Prüfergebnis ermögliche bei schnellem und präzisem Wechsel einzelner am [X.] angeordneter Halter mit [X.] und/oder Objektiven ([X.], Abs. [0004]).

2. Patentanspruch 1 in der nunmehr geltenden Fassung lässt sich wie folgt gliedern:

[X.]      

Härteprüfeinrichtung zur Prüfung des Härteeindrucks, mit einem verschiebbar geführten, mit der jeweiligen Prüfkraft beaufschlagbarem Schlitten (12), an dem ein Schwenkkörper (14) als Träger von [X.] (16) mit Eindringkörpern (17) schwenkbar gehalten ist,

[X.]      

wobei der Schwenkkörper (14) um eine quer zur Verschieberichtung des Schlittens (12) verlaufende Schwenkachse (15) schwenkbar und verstellbar gehalten ist,

        

dadurch gekennzeichnet, dass

[X.]    

 der Schwenkkörper (14) zwischen zwei Wangen (27, 28) angeordnet und in den Wangen (27, 28) um seine Schwenkachse (15) schwenkbar gelagert ist,

M4      

dass dem Schwenkkörper (14) ein Motor (25) für die motorische Schwenkbetätigung um die Schwenkachse (15) zugeordnet ist, und

M5      

dass der Schwenkkörper (14) mehr als zwei in Umfangsrichtung um die Schwenkachse (15) in Umfangswinkelabständen voneinander angeordnete Halterpositionen (19 bis 24) zur lösbaren Befestigung von einzelnen [X.] (16) mit Eindringkörpern (17) und/oder Objektiven (18) aufweist,

M6      

dass der Schwenkkörper (14) um seine Schwenkachse (15) innerhalb einer vertikalen, in Verschieberichtung des Schlittens (12) gerichteten Ebene schwenkbar und verstellbar gehalten ist,

[X.]    

dass der Motor (25) einen Drehgeber (26) aufweist und über eine Datenverarbeitungseinrichtung steuerbar ist, und

[X.]    

 dass die Härteprüfeinrichtung zumindest zwei [X.] (55, 56) aufweist, wobei für jede Wange (27, 28) eine Kraftmessdose (55, 56) vorgesehen ist, die zwischen dem Schlitten (12) und der jeweiligen Wange angeordnet und an beiden befestigt ist.

3. Das [X.] richtet sich dem technischen Sachgehalt nach an einen Diplomingenieur des Maschinenbaus oder einen Diplom-Physiker (Univ.) mit mehrjähriger Berufserfahrung in der Produktentwicklung und praktischen Umsetzung von Härteprüfeinrichtungen, was den baulich-konstruktiven Einsatz hierfür geeigneter Sensorik bzw. mess- und rechnertechnische Maßnahmen mit einschließt.

4. Dieser Fachmann versteht den Sachgehalt der Merkmale des geltenden Patentanspruchs 1 unter Berücksichtigung des Gesamtoffenbarungsgehalts der Anmeldung wie folgt:

Beansprucht wird eine [X.], die dazu dient, an einer hierfür vorgesehenen Objektoberfläche einen Härteeindruck – meist eine nur geringfügige mechanische Verformung – vorzunehmen, welcher einen Rückschluss auf den mechanischen Widerstand (die Härte) zulässt, den das Prüfobjekt dem Eindringen eines anderen Körpers entgegensetzt. Diese Einrichtung besteht u.a. aus einem mit einer so genannten Prüfkraft beaufschlagbaren, meist vertikal zum Prüfobjekt geführt verschiebbaren Schlitten. An diesem Schlitten ist ein so genannter [X.] angebracht, der als Träger von einzelnen [X.] mit Objektiven und/oder [X.] – die eine für jeweils einen bestimmten Prüfvorgang z.B. nach den Prüfverfahren Brinell, [X.], [X.] etc. vorgeschriebene Geometrie bzw. Eigenschaft aufweisen – dient, und dort selbst schwenkbar gehalten ist (z.B. [X.], Abs. [0011]; Merkmal [X.]).

Der [X.] wird dahingehend weiter ausgestaltet, dass er um eine quer zur Verschieberichtung des Schlittens verlaufende Schwenkachse zwischen zwei diesen [X.] halternden Wangen verschwenkbar (respektive: drehbar) angeordnet ist (z.B. [X.], Figur 1 i.V.m. Abs. [0011] und [0012]; Merkmale [X.] und [X.]).

Ferner wird der [X.] so beschrieben, dass er in Umfangsrichtung um die Schwenkachse mehr als zwei in (nicht weiter präzisierten bzw. bestimmten) [X.] voneinander angeordnete Halterpositionen aufweist, die zur lösbaren Befestigung von einzelnen [X.] mit [X.] und/oder Objektiven dienen (ebenda; Merkmal M5).

Darüber hinaus wird der [X.] innerhalb einer vertikalen, in Verschieberichtung des Schlittens gerichteten Ebene um seine Schwenkachse schwenkbar und verstellbar gehalten (ebenda; Merkmal M6).

Um diese Verschwenkung um die Schwenkachse mechanisch durchzuführen, ist dem [X.] ein Motor zugeordnet ([X.], Abs. [0013] und [0016]; Merkmal M4), der zudem einen Drehgeber aufweist und über eine Datenverarbeitungseinrichtung steuerbar ist (ebenda; Merkmal [X.]).

Mit dem neu hinzugefügten letzten Merkmal wird nun allgemein beansprucht, dass die Härteprüfeinrichtung zumindest zwei [X.] aufweist, wobei für jede der o.g. Wangen eine Kraftmessdose vorgesehen ist, die zwischen dem Schlitten und der jeweiligen Wange angeordnet und an beiden befestigt ist (Merkmal [X.]).

5. Der geltende Patentanspruch 1 ist nicht zulässig, da sein Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht (§ 21 Abs. 1 Nr. 4 [X.]).

a) Zwar sind die Merkmale [X.] bis [X.] des geltenden Patentanspruchs 1 in den [X.] wie folgt unmittelbar und eindeutig offenbart:

- Merkmal [X.] : [X.], Anspruch 1

- Merkmal [X.] : [X.], Anspruch 1

- Merkmal [X.] : [X.], Anspruch 6

- Merkmal M4 : [X.], Anspruch 5, Kennzeichen 1. Teil

- Merkmal M5 : [X.], Anspruch 3

- Merkmal M6 : [X.], Anspruch 2

- Merkmal [X.] : [X.], Anspruch 5, Kennzeichen 2. Teil.

b) Allerdings wird mit dem neu hinzugefügten Merkmal [X.] in unzulässiger Weise eine in den ursprünglichen Unterlagen nicht offenbarte – weil von der/einer Überwachungseinrichtung unabhängige – Zuordnung von [X.] innerhalb der Härteprüfeinrichtung beansprucht. Dies hat zur Folge, dass der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 ein [X.] zur ursprünglichen Offenbarung umfasst, weshalb die hierauf gestützte Verteidigung des [X.]s nicht zum Erfolg führen kann. Im Einzelnen:

ba) Die seitens der Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung als [X.] für das Merkmal [X.] angeführten Passagen der Beschreibung ([X.], Abs. [0016] und [0017]) und des erteilten Anspruchssatzes (Patentansprüche 17 und 18) sind nicht geeignet, die Zulässigkeit dieses neuen Merkmals zu begründen.

Maßgeblich für die Beurteilung des Vorliegens einer unzulässigen Erweiterung nach § 21 Abs. 1 Nr. 4 [X.] sind allein die ursprünglich eingereichten Anmeldeunter-lagen, in der sich die von der Patentinhaberin zitierten o.g. Passagen aus dem [X.] vorliegend jedoch wiederfinden.

So ist – in Entsprechung zu Absatz [0016] und [0017] des [X.]s – in der [X.] ([X.]) vorgegeben, dass [X.] expliziter Bestandteil der/einer Überwachungseinrichtung sind, die zur Überwachung der mit der Verschieberichtung des o.g. Schlittens fluchtenden Ausrichtung eines jeweiligen am o.g. Schwenkkörper befestigten Halters in der zur Härteprüfung vorgegebenen Position dient ([X.], [X.], Abs. 2: „… Weicht die Position des Halters 16 mit [X.] 17 ab von der erforderlichen lotrechten Ausrichtung, können sich Prüffehler ergeben. Diese mit der Verschieberichtung des Schlittens 12 fluchtende Ausrichtung des jeweiligen Halters 16 mit [X.] 17, der am [X.] 14 befestigt ist, in der zur Härteprüfung vorgegebenen Position wird von einer Überwachungseinrichtung 54 überwacht . Beim gezeigten Ausführungsbeispiel weist diese Überwachungseinrichtung 54 zumindest zwei [X.] 55, 56 auf …“ (Unterstreichungen hinzugefügt); [X.], [X.], Abs. 2: „Bei einem anderen… Ausführungsbeispiel sind statt lediglich zwei [X.] 55, 56 mehrere [X.] vorgesehen , wobei diese dann entlang eines [X.] in gleich großen Abständen voneinander angeordnet sind. Derartige entlang eines [X.] angeordnete [X.] können z. B. als Drehgeber ausgebildet sein, die die jeweilige Position in Bezug auf die lotrechte Y-Achse erfassen und eine reproduzierbare genaue Ausrichtung des jeweils eingestellten Halters 16 mit [X.] 17 in [X.] Richtung gewährleisten.“, also faktisch „überwachen“ (Unterstreichung hinzugefügt)).

Gleiches gilt für die seitens der Patentinhaberin ferner zitierten erteilten Patentansprüche 17 und 18, die den ursprünglich eingereichten Patentansprüchen 18 und 19 entsprechen, welche sich jeweils auf den ursprünglichen Patentanspruch 17 rückbeziehen, weshalb sie nicht isoliert vom jeweils vorangegangenen Patentanspruch 17 betrachtet werden dürfen. Das kennzeichnende Merkmal des ursprünglichen Patentanspruchs 17 beansprucht eine Überwachungseinrichtung mit oben bereits genannter Zielsetzung ([X.], [X.] Abs. 2: „… weist diese Überwachungseinrichtung (54) zumindest zwei [X.] 55, 56 auf… , Unterstreichungen hinzugefügt), welche durch die ursprünglichen Patentansprüche 18 und 19 hinsichtlich Anzahl bzw. geometrischer Anordnung der [X.] jeweils näher bestimmt wird ([X.], Patentanspruch 18: „… nach Anspruch 17 , dadurch gekennzeichnet, dass bei mehr als zwei [X.] diese entlang eines [X.] in gleich großen Abständen voneinander angeordnet sind.“; [X.], Patentanspruch 19: „… nach Anspruch 17 , dadurch gekennzeichnet, dass für jede Wange (27, 28) eine Kraftmessdose (55, 56) vorgesehen ist, die zwischen dem Schlitten (12) und der jeweiligen Wange (27, 28) angeordnet und an beiden befestigt ist.“; Unterstreichungen hinzugefügt).

Die [X.] stehen folglich wirktechnisch betrachtet nicht für sich, sondern sind nur zusammen mit der – einen integralen Bestandteil der offenbarten Lehre bildenden – Überwachungseinrichtung offenbart, um die [X.] zu realisieren.

bb) Mit dem Merkmal [X.] des geltenden Patentanspruchs 1 wird nun aber dieser wirktechnische Zusammenhang, nämlich dass die [X.] einen Teil der/einer Überwachungseinrichtung bilden, aufgelöst. Nun können die [X.] quasi in beliebiger - von der Überwachungseinrichtung unabhängiger - Zuordnung der Härteprüfeinrichtung beigegeben sind. Hierfür existiert jedoch - wie oben gezeigt - in den [X.] keine Offenbarung.

bc) Der Fachmann entnimmt der ursprünglichen Offenbarung hinsichtlich der [X.] jedenfalls keine andere technische Lehre, als diese im Rahmen einer Überwachungseinrichtung für eine Härteprüfeinrichtung vorzusehen, um die fluchtende Ausrichtung eines Halters zu überwachen. Die Formulierung des Merkmals [X.] geht jedoch eindeutig über diese Lehre hinaus, da sie [X.] wirktechnisch unabhängig beansprucht und so deren ursprungsoffenbarte Zuordnung ignoriert. Vielmehr verallgemeinert sie auf diese Weise unzulässig die genannte Lehre, indem sie [X.] nur noch pauschal nennt und damit eröffnet, diese in/an der Härteprüfeinrichtung auch in anderem Kontext zu realisieren. Dies drängt sich dem Fachmann nach dem Wortlaut des genannten Merkmals jedenfalls auf. Eine Auslegung des Merkmals unterhalb des Wortlauts (d.h. unterhalb des [X.]) des Patentanspruchs ist aber nicht zulässig (vgl. [X.], Urteil vom [X.], Schussfädentransport), so dass mit dem das Merkmal [X.] enthaltenden Patentanspruch 1 nun technisch (auch) etwas anderes beansprucht wird, als ursprünglich offenbart war, was vorliegend zur Beanspruchung eines [X.] führt.

Eine Abwandlung des ursprünglich offenbarten Gegenstands zu einem [X.] liegt nicht erst dann vor, wenn etwa ein patentierter Gegenstand dazu in einem Ausschließlichkeitsverhältnis steht (exklusives [X.]), sondern bereits dann, wenn die Veränderung einen technischen Aspekt betrifft, der den ursprünglich eingereichten Unterlagen in seiner konkreten Ausgestaltung oder wenigstens in abstrakter Form nicht als zur Erfindung gehörend zu entnehmen ist (vgl. [X.], Beschluss vom 21.10.2010 [X.], [X.], 40 Rn. 22 Winkelmesseinrichtung). Dieser Fall liegt hier zweifellos vor.

Auch die Ausführungen der Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung, wonach ein ursprünglich offenbarter Sinn und Zweck der [X.] nicht maßgeblich für deren Offenbarung sei, vielmehr nun in zulässiger Weise von einer funktionalen zu einer strukturellen Definition übergegangen worden sei, ändern nichts an dem Vorstehenden. Denn der geltende Patentanspruch 1 beansprucht auch Ausführungsformen, die – wie oben ausgeführt – dem Fachmann mit der ursprünglichen Offenbarung nicht gelehrt waren. Entgegen der Auffassung der Patentinhaberin sind Zweck-, Wirkungs- oder Funktionsangaben auch hinsichtlich einer beanspruchen Vorrichtung nicht bedeutungslos. Sie können vielmehr als Bestandteile des Patentanspruchs an dessen Aufgabe teilnehmen, den geschützten Gegenstand zu bestimmen und damit zugleich zu begrenzen, wenn sie das Vorrichtungselement, auf das sie sich beziehen, als ein solches definieren, das so ausgebildet sein muss, dass es die betreffende Funktion erfüllen kann

(st. Rspr., zuletzt [X.], Urteil vom 03.11.2020 - [X.]/19, [X.] 2021,

462 Rn. 49 - Fensterflügel; Urteil vom 24.04.2018 - [X.], [X.] 2018,

1128 Rn. 12 - Gurtstraffer). Folgerichtig führt das Weglassen dieser Zweck-, Wirkungs- oder Funktionsangaben, jedenfalls vorliegend, zu einem Wegfall der Begrenzung des Gegenstands und somit zu dessen Erweiterung.

c) Somit geht der Gegenstand des geltenden Patentanspruchs 1 in der Fassung vom 20.12.2021 über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinaus.

6. Mit den obigen Ausführungen ist auch evident, dass das in der Fassung des geltenden Patentanspruchs 1 verteidigte [X.] den Schutzbereich des erteilten Patents verlässt und auch hinsichtlich des erteilten Patents ein [X.] bildet. Denn die o.g. ursprünglich offenbarte Lehre entspricht auch der streitpatentgemäßen Lehre.

7. Im Ergebnis war daher der Beschwerde der Einsprechenden stattzugeben und das Patent – unter gleichzeitiger Aufhebung des angefochtenen Beschlusses – zu widerrufen.

Aus der Fassung der Anträge und den zu ihrer Begründung Vorgebrachtem ergeben sich keine Zweifel an dem prozessualen Begehren der Patentinhaberin, ein Patent ausschließlich in der beantragten Fassung zu erhalten.

8. Es entsprach vorliegend der Billigkeit, die der Patentinhaberin und Beschwerdegegnerin erwachsenen Kosten für den (zweiten) Verhandlungstermin am [X.] und Beschwerdeführerin aufzuerlegen (§ 80 Abs. 1 [X.]).

Die Einführung des neuen [X.]es der mangelnden Ausführbarkeit durch die Einsprechende erstmals im Termin zur mündlichen Verhandlung am 03.08.2020 stellt einen Verstoß gegen die allgemeine prozessuale Sorgfaltspflicht dar. Denn die Patentinhaberin konnte zu diesem neuen [X.], den der Senat vor dem Hintergrund der damals geltenden Antragslage für sachdienlich erachtet hat (§ 263 ZPO; vgl. [X.] [X.] 2017, 54 – Ventileinrichtung), im Termin nicht sachgerecht Stellung nehmen, weshalb auf ihren Antrag eine Vertagung der mündlichen Verhandlung geboten war. Dies hat zusätzliche, ohne weiteres vermeidbare Kosten (für einen weiteren Verhandlungstermin) verursacht. Eine Auferlegung der insoweit auf Seiten der Patentinhaberin entstandenen Kosten auf die Einsprechende erschien daher aus Billigkeitsgründen gerechtfertigt (vgl. [X.], [X.], 11. Aufl., § 80 Rn. 9 m. w. N.).

Meta

20 W (pat) 20/18

20.12.2021

Bundespatentgericht 20. Senat

Beschluss

Sachgebiet: W (pat)

§ 21 Abs 1 Nr 4 PatG, § 80 Abs 1 PatG

Zitier­vorschlag: Bundespatentgericht, Beschluss vom 20.12.2021, Az. 20 W (pat) 20/18 (REWIS RS 2021, 165)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 165

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

19 W (pat) 10/22 (Bundespatentgericht)


15 W (pat) 9/17 (Bundespatentgericht)

Patenteinspruchsbeschwerdeverfahren – "Orthopädische Vorrichtung zur Korrektur von Zehenfehlstellungen" – zur Zulässigkeit des Einspruchs - Widerrufsgrund …


1 Ni 21/19 (EP) (Bundespatentgericht)

Wirkungslosigkeit dieser Entscheidung.Patentnichtigkeitsklageverfahren - "Öffnungsfähiges Fahrzeugdach" – Zur Frage der Patentfähigkeit


5 Ni 44/20 (Bundespatentgericht)


15 W (pat) 23/14 (Bundespatentgericht)

Patentbeschwerdeverfahren – "Universalmischsystem" – zur Auferlegung von Dolmetscherkosten


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

X ZR 85/19

X ZR 50/16

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.