Bundessozialgericht, Beschluss vom 27.10.2020, Az. B 1 KR 45/20 B

1. Senat | REWIS RS 2020, 2282

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Bestellung eines besonderen Vertreters für einen nicht prozessfähigen Beteiligten - Teilnahme an Leistungen der integrierten Versorgung - Ablehnung der Teilnahmebedingungen aus datenschutzrechtlichen Gründen - keine offensichtliche Haltlosigkeit des Rechtsmittels


Tenor

Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 19. Dezember 2019 - L 5 KR 253/18 - gewährt.

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 19. Dezember 2019 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten über die Teilnahme an Leistungen der integrierten Versorgung.

2

Der bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich versicherte Kläger bat diese im Oktober 2014, seine Teilnahme am "[X.] psychische Gesundheit", einem Angebot im Rahmen eines Vertrages zur integrierten Versorgung für Menschen mit psychischen Erkrankungen, vorzubereiten. Nachfolgend teilte der Kläger der Beklagten mit, er sei mit dem Formular "Teilnahmeerklärung und Einverständnis zur Datenverarbeitung" nicht einverstanden. Die Beklagte lehnte eine Änderung des Formulars nach den Wünschen des [X.] ab und entschied, dass ohne seine uneingeschränkte Zustimmung zu der Datenerhebung, -verarbeitung und -nutzung, wie sie die Teilnahmeerklärung vorsehe, eine Teilnahme an der integrierten Versorgung nicht möglich sei (Bescheid vom 6.7.2015, Widerspruchsbescheid vom 15.9.2015). Das [X.] hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen. Es bestünden keine Zweifel an der Prozessfähigkeit des [X.]. Die Beklagte mache die Teilnahme an der integrierten Versorgung zulässigerweise davon abhängig, dass der Kläger den notwendigen Datenschutzbestimmungen zustimme und die Teilnahmeerklärung unterschreibe. Hinsichtlich der weiteren von dem Kläger geltend gemachten Klagebegehren sei die Klage unzulässig (Gerichtsbescheid vom 24.9.2018). Der Kläger hat im Berufungsverfahren unter anderem geltend gemacht, die Frage der Prozessfähigkeit und ordnungsgemäßen Vertretung sei nicht geklärt. Das L[X.] hat einen Termin zur mündlichen Verhandlung am 19.12.2019 bestimmt und das persönliche Erscheinen des [X.] angeordnet. Der Kläger hat um Umwandlung des Termins in einen Erörterungstermin und Prüfung seiner Prozessfähigkeit gebeten und darauf hingewiesen, dass er sich aktuell nicht selbst voll vertreten könne. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger abermals geltend gemacht, er sei nur teilweise prozessfähig. Das L[X.] hat die Berufung zurückgewiesen. Es könne offenbleiben, ob der Kläger [X.] sei. Der Bestellung eines besonderen Vertreters habe es nicht bedurft, weil sein Begehren offensichtlich haltlos sei. Er habe aus den vom [X.] ausgeführten Gründen keinen Anspruch auf Teilnahme an dem integrierten Versorgungsangebot der Beklagten zu den von ihm vorgegebenen Bedingungen (Urteil vom 19.12.2019).

3

Der Kläger, für den der Senat Rechtsanwalt B als besonderen Vertreter bestellt und unter Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) beigeordnet hat, wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im L[X.]-Urteil und rügt einen Verfahrensmangel sowie die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.

4

II. 1. Dem Kläger war ungeachtet seiner [X.]keit jedenfalls deshalb gemäß § 67 [X.]G Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren, weil er fristgerecht einen Antrag auf Gewährung von PKH gestellt und die Nichtzulassungsbeschwerde nach der Bewilligung von PKH fristgerecht eingelegt und begründet hat.

5

2. Die zulässige Beschwerde des [X.] ist begründet. Das L[X.]-Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G; dazu b), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G bezeichnet (dazu a).

6

a) Nach § 160 Abs 2 [X.] [X.]G ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Der Kläger bezeichnet den Verfahrensmangel der nicht wirksamen Vertretung (§ 202 Satz 1 [X.]G iVm § 547 [X.] 4 ZPO) hinreichend.

7

b) Der zulässig gerügte Verfahrensfehler des L[X.] liegt auch vor. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verstoß gegen § 72 Abs 1 [X.]G, weil das L[X.] zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen Vertreters für den Kläger abgesehen hat. Dieser war in der mündlichen Verhandlung am 19.12.2019 nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten (§ 202 Satz 1 [X.]G iVm § 547 [X.] 4 ZPO). Hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass das Urteil des L[X.] auf ihm beruht.

8

Gemäß § 72 Abs 1 [X.]G kann der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. [X.] ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 [X.]G), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist, weil sie sich gemäß § 104 [X.] 2 BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen (vgl B[X.] vom [X.] KR 23/18 B - juris Rd[X.] 6 mwN). Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer partiellen [X.]keit führen, bei der die freie Willensbildung nur bezüglich bestimmter Prozessbereiche eingeschränkt ist. Soweit eine partielle [X.]keit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess (B[X.] vom 15.11.2000 - [X.]3 RJ 53/00 B - [X.] 3-1500 § 160a [X.]2 S 65 = juris Rd[X.] 9).

9

Steht die [X.]keit für den Prozess fest, kann dieser grundsätzlich nur mit einem besonderen Vertreter iS des § 72 Abs 1 [X.]G fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet ist und das Amtsgericht keinen Betreuer bestellt hat. Bei gewichtigen Bedenken gegen die Prozessfähigkeit hat das Gericht grundsätzlich von der [X.]keit auszugehen, wenn sich auch nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten nicht feststellen lässt, dass der betreffende Beteiligte prozessfähig (§ 71 Abs 1 [X.]G) ist. Dies gilt schließlich auch dann, wenn die (partielle) [X.]keit des Beteiligten als ernsthafte Möglichkeit im Raum steht und das Gericht sich (noch) nicht die Überzeugung bilden kann, dass der Beteiligte prozessfähig ist, aber unter dem Gesichtspunkt der Beschleunigung des Verfahrens den Rechtsstreit fortsetzen will. Insoweit muss das Gericht den verfahrensrechtlichen Maßstab anlegen, der gilt, wenn der Beteiligte [X.] ist (vgl B[X.] vom [X.] - [X.] KR 73/18 B - [X.] 4-1500 § 56a [X.] 1 Rd[X.] 8 mwN). Würde in einem solchen Fall das Erfordernis einer Bestellung eines besonderen Vertreters nach § 72 Abs 1 [X.]G keine Beachtung finden, wäre dies mit dem Regelungszweck der Norm unvereinbar, das rechtsstaatliche Gebot des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 Satz 1 GG; vgl dazu [X.] vom 16.8.2017 - 1 BvR 1584/17 - juris Rd[X.]), rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG) und ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG) auch bei fehlender oder zweifelhafter Prozessfähigkeit zu gewährleisten. Dies gilt in jedem Falle dann, wenn der Kläger wie hier selbst geltend macht, er sei nicht uneingeschränkt prozessfähig .

Das L[X.] durfte nicht davon absehen, einen besonderen Vertreter zu bestellen, ohne zuvor festgestellt zu haben, dass der Kläger prozessfähig ist. Es hat hingegen ausdrücklich offengelassen, ob der Kläger [X.] ist. Es hätte in diesem Fall nur nach Bestellung eines besonderen Vertreters iS von § 72 Abs 1 [X.]G über den Rechtsstreit entscheiden dürfen.

Hiervon ist das L[X.] im Ergebnis auch ausgegangen. Zu Unrecht hat es jedoch angenommen, es liege ein Ausnahmefall vor, bei dem von der Bestellung eines besonderen Vertreters abgesehen werden könne.

Von der Vertreterbestellung kann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines [X.]en "offensichtlich haltlos" ist (vgl B[X.] vom 28.5.1957 - 3 RJ 98/54 - B[X.]E 5, 176, 178 f). Dies ist insbesondere bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem Vorbringen anzunehmen, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist, der Beteiligte nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht von sich gibt oder wenn sein Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war (vgl B[X.] vom 15.11.2012 - [X.] [X.] 23/11 R - [X.] 4-1500 § 72 [X.] 2 Rd[X.] 10). Gleiches gilt aber auch dann, wenn das Rechtsmittel unter keinem denkbaren Gesichtspunkt Erfolg haben kann, weil es schlechterdings nicht statthaft ist (vgl B[X.] vom [X.] - [X.] KR 1/17 S - juris Rd[X.] 4; B[X.] vom [X.] - [X.] KR 32/18 S - juris Rd[X.] 5).

Das L[X.] legt diesen Maßstab seiner Entscheidung zwar zugrunde, richtet seine Prüfung aber nicht daran aus. Dem Kläger ging es nach den Feststellungen des L[X.] insbesondere darum, an dem integrierten Versorgungsangebot der Beklagten "[X.] psychische Gesundheit" teilnehmen zu können, ohne den Teilnahmebedingungen - gegen die er datenschutzrechtliche Einwände erhebt - uneingeschränkt zustimmen zu müssen. Hierbei handelt es sich nicht um ein offensichtlich haltloses Klagebegehren ohne jeglichen Rückhalt im Gesetz. Allein der Umstand, dass der geltend gemachte Anspruch aus Sicht des L[X.] nicht besteht, macht das Begehren nicht haltlos. Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die zwingende Verknüpfung der Teilnahme an einer besonderen Versorgungsform mit der Zustimmung zur Datenübermittlung im Hinblick auf die von Art 4 [X.] 11 und Art 7 Abs 4 Datenschutz-Grundverordnung geforderte Freiwilligkeit der Einwilligung schwierige rechtliche Fragen aufwerfen kann (vgl dazu etwa [X.] in [X.]/[X.], [X.]B V, 7. Aufl 2020, § 295a Rd[X.]; [X.], [X.]b 2018, 449, 452 f; [X.] in [X.]/[X.], [X.]B X, Stand 10/2018, § 67b Rd[X.] 48 mwN).

3. Nach § 160a Abs 5 [X.]G kann das B[X.] in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Dabei bedarf keiner Entscheidung, ob die Rechtssache auch - wie von der Beschwerde zusätzlich geltend gemacht - grundsätzliche Bedeutung hat. Selbst bei Bejahung einer grundsätzlichen Bedeutung und Zulassung der Revision wäre voraussichtlich mit einer Zurückverweisung zu rechnen, da das Urteil des L[X.] aufgrund des Verfahrensfehlers, bei dem der Einfluss auf die Sachentscheidung zudem unwiderleglich vermutet wird, keinen geeigneten Gegenstand für eine revisionsrechtliche Überprüfung bildet (vgl B[X.] vom 2.11.2007 - [X.] KR 72/07 B - [X.] 4-1100 Art 101 [X.] Rd[X.] 13; B[X.] vom 17.11.2015 - [X.] KR 65/15 B - juris Rd[X.] 10; Voelzke in [X.]/Voelzke, jurisPK-[X.]G, § 160a [X.]G, Stand 4.5.2020, Rd[X.] 221, jeweils mwN). Der Kläger macht zudem geltend, mit der pauschalen Unterstellung, er habe die Teilnahme- und Datenschutzerklärung nicht unterzeichnen wollen, hätten das [X.] und das L[X.] sein tatsächliches Begehren nicht zutreffend erfasst. Er verlange lediglich, diejenigen Teile, die seiner Auffassung nach rechtswidrig seien, aus der Erklärung zu entfernen, und stütze sich dabei auf § 295a [X.]B V. Auf diesen Aspekt sind weder das [X.] noch das L[X.] eingegangen. Insofern erscheint auch offen, welche tatsächlichen Feststellungen das L[X.] bei der gebotenen Bestellung eines besonderen Vertreters getroffen hätte (vgl auch - zu § 133 Abs 6 VwGO - BVerwG vom 3.2.1993 - 11 [X.]2/92 - juris Rd[X.] 6).

4. Die Kostenentscheidung bleibt dem L[X.] vorbehalten.

Meta

B 1 KR 45/20 B

27.10.2020

Bundessozialgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Mainz, 24. September 2018, Az: S 7 KR 503/15, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 71 Abs 1 SGG, § 72 Abs 1 SGG, § 202 S 1 SGG, § 547 Nr 4 ZPO, § 104 Nr 2 BGB, § 140a SGB 5, Art 4 Nr 11 EUV 2016/679, Art 7 Abs 4 EUV 2016/679

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 27.10.2020, Az. B 1 KR 45/20 B (REWIS RS 2020, 2282)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2282

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